Mitleid? Nein, danke!Kolumne

Alleinerziehende wollen nicht ständig von oben herab bedauert werden. Aber ein bisschen Solidarität geht schon in Ordnung.

Es gibt Worte, die wirken bei dem, der sie hört, lange nach. Wie eine goldene Münze sank mal der Satz einer Erzieherin in meinen Seelenbrunnen. Auf dem Grund blieb er liegen. Und funkelt, bis heute.
Es ist Jahre her, meine älteste Tochter war gerade fünf geworden. Damals gab es in Berlin an manchen Schulen noch Vorschulklassen. Wer wollte, schickte sein Kind ein Jahr früher zur Grundschule und ließ es dort eine Art Vorbereitungsjahr absolvieren. Eine kleine Gruppe Fünfjähriger kam an unserer Kiezschule täglich ab neun Uhr zusammen und wurde dort von einer erfahrenen Erzieherin betreut. Ein bisschen Buchstaben üben, viel malen, basteln, gegenseitiges Kennenlernen. Eines Tages, ich weiß nicht mehr, ob zwischen Tür und Angel oder im Rahmen eines Elterngesprächs, sagte diese Erzieherin den wunderbaren Satz zu mir: „Man merkt, dass Ihre Tochter ein sehr glückliches Kind ist.“ Ich weiß noch, wie mich die Worte nicht nur freuten und berührten – vor allem beruhigten sie mich ungemein. Erst kurz zuvor waren wir aus dem Ruhrgebiet nach Berlin gezogen. Nur ich und meine Tochter, seit Jahren ein eingefleischtes Team, eine quirlige Kleinstfamilie. Trotzdem war da immer schon, seit ihrer Geburt, der leise nagende Zweifel. Geht es dem Kind wirklich gut? Wie kommt es mit unserer Familiensituation zurecht? Wie verkraftet es den abwesenden Vater? Wie den Neustart in der fremden Stadt?

MAN SUCHT SICH SEINE FAMILIENFORM NICHT AUS

Ich weiß nicht, ob Paare oft solche Gedanken wälzen. Wer alleinerziehend ist oder in einer Patchworkfamilie lebt, kennt diese zermürbenden Selbstbefragungen jedenfalls nur zu gut. Auch die periodisch auftretenden Schuldgefühle, den eigenen Kindern keine „normale“ Familie bieten zu können. Tief sitzen die gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenbilder.
All das wusste die Erzieherin damals vermutlich nicht. Vielleicht aber hat sie meine Unsicherheit gespürt. Und deshalb im richtigen Moment die richtigen Worte getroffen.
Das ist schon deshalb so erinnerungswürdig, weil viele vor und nach ihr die falschen Worte fanden. Noch immer ist der mitleidige Blick, oft ein wenig von oben herab, für Alleinerziehende im Alltag keine Seltenheit. Ihre Lebensform gilt als defizitär. Da fehlt was. Das arme Kind. Statistiken bestätigen außerdem: Alleinerziehende haben ein deutlich höheres Armutsrisiko als Paare. Und man muss es nicht schön reden: Der Spagat zwischen Kindern und Beruf ist schwer, das Leben für viele der 1,6 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland (die meisten sind Frauen) oft ein finanzieller und organisatorischer Drahtseilakt.
Und trotzdem: Mitleid, nein danke! Ich wollte nie welches und ich verteile keins. Warum auch? Ich habe in den letzten Jahren so viele lebensfrohe, charakterstarke Alleinerziehende kennengelernt, dass sich eine herablassende Perspektive per se verbietet. Vor allem aber habe ich am eigenen Leib erfahren: Man sucht sich seine Familienform nicht immer aus. Sie ereignet sich, wie vieles im Leben. Man beginnt möglicherweise zu zweit, ist plötzlich getrennt, bleibt länger allein oder versucht es in neuer Kombination noch mal. Und so weiter. Jedes dieser Modelle – ob Paar ohne Trauschein, Regenbogen, Patchwork, ob Single-Mom oder klassische Ein-Verdiener- Ehe – hat seine Themen, seine Fallstricke, seine krisenhaften Momente. Wer das leugnet, lügt.
Warum also Zeit vergeuden mit misstrauischen Blicken nach rechts und links? Wir sitzen alle im gleichen Boot: Wir haben Kinder und wollen, dass sie glücklich aufwachsen. Alles andere ist Nebensache.

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