COMMUNIO: Vor 60 Jahren veröffentlichte das Zweite Vatikanische Konzil seine Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, "Nostra Aetate". Der vierte Abschnitt der Erklärung gilt als Wendepunkt im Verhältnis zwischen Judentum und katholischer Kirche. Warum?
Christian Rutishauser: Der Historiker Thomas Brechenmacher hat die Politik der Päpste seit dem Mittelalter mit dem Begriff "Doppelte Schutzherrschaft" auf den Punkt gebracht, da sie die Juden vor Übergriffen der Christen und die Christen vor dem angeblich "verderblichen Einfluss" Juden schützen sollte. Über die Jahrhunderte war das aber kein wirksamer Schutz für die Juden. Vor allem hat sich in der Theologie und im Kirchenvolk der Vorwurf des Gottesmords durchgesetzt – und die Auffassung, dass die Juden als auserwähltes Volk in der Heilsgeschichte verworfen sind, an dessen Stelle die Kirche getreten sei. Mit diesem katholischen Antijudaismus war der kulturelle Boden bereitet, auf dem die Nationalsozialisten mit ihrer Ideologie des Antisemitismus die Schoa umsetzen konnten. Durch die Schoa aufgeschreckt, hat das Zweite Vatikanische Konzil mit "Nostra Aetate" 4 den Grundstein für eine neue Theologie des Judentums geschaffen. Der Text ist mehr als ein Wendepunkt, er ist eine kleine Revolution. Er ist heute die Magna Charta des jüdisch-christlichen Dialogs weit über die katholische Kirche hinaus.
Ein jüdischer Historiker trifft Johannes XXIII.
COMMUNIO: Die Entstehung des Dokuments war bekanntlich keineswegs selbstverständlich und auch mit Schwierigkeiten behaftet. Wer war der Impulsgeber? Und welche Akteure waren für die Genese bestimmend?
Rutishauser: Im Juni 1960 wurde der jüdische Historiker Jules Isaak von Papst Johannes XXIII. in einer Privataudienz empfangen. Er bat den Papst, er möge die "Lehre der Verachtung" des Judentums in der Kirche beseitigen. Jules Isaak hatte seine Familie in der Schoa verloren, selbst aber in Südfrankreich überlebt und während dieser Zeit ein Buch geschrieben, das zeigt, dass nicht nur Jesus, sondern auch Maria, die Jünger und die frühe christliche Kirche jüdisch waren. Er tat das in einer Zeit, in der evangelische Theologen Jesus zum Arier machten und katholische Würdenträger predigten, dass das Alte Testament nichts mit den Juden zu tun habe und Jesus als Gottessohn von den Juden umgebracht worden sei. Jules Isaak blieb zeitlebens Jude. Er hatte bereits 1947 bei der "Konferenz von Seelisberg" großen Einfluss, bei der zehn Thesen für ein erneuertes Verhältnis der Christen gegenüber den Juden formuliert wurden. Ohne sie wäre "Nostra aetate" 4 nicht zu denken. Bei dieser Konferenz lernte er Paul Déman kennen, einen der jüdischen Konvertiten, der wichtige Arbeit für die Erneuerung der Theologie des Judentums geleistet hatte. Déman gehörte zu den "Brüdern Unserer Lieben Frau von Sion", einer katholischen Gemeinschaft aus dem 19. Jahrhundert, zur Judenmission gegründet. Doch angesichts des Antisemitismus fand ein Umdenken statt. Déman arbeitete über den Römerbrief, in dem Paulus schreibt, dass die Juden nicht verworfen sind und Israel am Ende der Zeiten gerettet wird. Ein weiterer Konvertit, der großen Einfluss auf den Konzilstext hatte, war Prälat Johannes Österreicher. Trat er in seinen frühen Jahren noch für die aktive Judenmission ein, nahm davon aber mehr und mehr Abstand. Wie Paul Déman erneuerte er seine Theologie des Judentums und war damit wichtiger Berater von Kardinal Bea, der den Prozess verantwortete, der schließlich zu "Nostra Aetate" führte.
"Das jüdische Volk muss nicht zum einen Gott geführt werden, wie Ungläubige, wie Heiden oder wie Menschen einer anderen Religion und Weltanschauung. Das Volk ist schon im Bund mit Gott."
COMMUNIO: Zum 50. Jahrestag von "Nostra Aetate" hat ein Dokument der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum eine ausdrückliche Absage an Judenmission vorgenommen und die bleibende Würde des Volkes Israels herausgestellt. Bedeutet das nicht eine Einschränkung der universalen Bedeutung der Christologie?
Rutishauser: Die Kirche bleibt ihrer Lehre vom universalen Heilsanspruch Christi treu. Dies unterstreicht auch das vatikanische Dokument "Denn unwiderruflich sich Gnade und Berufung, die Gott gewährt (Röm 11,29)", das vor zehn Jahren erschienen ist. Doch die theologische Reflexion hat sich vertieft. Einerseits hat Johannes Paul II. den Begriff des "unwiderrufenen Bundes" Gottes mit den "älteren Brüdern", den Juden, stark gemacht. Auch der Römische Katechismus hat ihn aufgenommen. Die Kirche löst das jüdische Volk nicht in der Heilsgeschichte ab. In der einen Heilsgeschichte haben das jüdische Volk wie die Kirche ihren Platz. Andererseits wurde darüber nachgedacht, was Mission, Evangelisierung und Taufe genauer bedeuten. Sie wollen alle zum Gott Jesu Christi führen. Der Gott Jesu ist unbestritten der Gott Israels. Das jüdische Volk muss also nicht zum einen Gott geführt werden, wie Ungläubige, wie Heiden oder wie Menschen einer anderen Religion und Weltanschauung. Das Volk ist schon im Bund mit Gott. Der Taufbefehl des Auferstandenen im Matthäusevangelium ist denn auch vom jüdischen Volk aus an alle Völker gerichtet, die noch nicht zum Gott Jesu gefunden haben. Daher ist er universal. Der christliche Anspruch gegenüber Juden aber ist anders als gegenüber Menschen, die nicht glauben. Mit Juden und Jüdinnen zusammen ringen wir darum, wer Jesus Christus ist. Neben diese Frage tritt die andere wichtige Frage, was er für Juden und was für Nicht-Juden bedeutet. Paulus spricht im Römerbrief davon, dass gerade das jüdische Nein zu Jesus die Verkündigung des Evangeliums unter Heiden erst ermöglicht hat. Dieses Nein hat also eine positive Funktion. Damit habe ich die systematisch-theologische Fragestellung erst angerissen. Es gibt für die Kirche hier noch einiges zu tun, um ihren Glauben kohärent zu formulieren und zu leben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dies Fragen sind, die Juden wenig interessieren. Für sie ist es wichtig, dass die Kirche ihren Antijudaismus überwindet, Umkehr tut und die Schuld der Geschichte eingesteht. Religiöse Juden möchte ihre Berufung von Gott im Dienst der ganzen Menschheit leben und von der Kirche daran nicht gehindert werden. Mehr noch: Es geht darum "Schulter an Schulter", wie "Nostra aetate" es formuliert, also gemeinsam den Willen Gottes in dieser Zeit der Geschichte zu tun und für die Menschheit da zu sein.
Johannes Paul II. machte das jüdisch-christliche Verhältnis zur Chefsache
COMMUNIO: Papst Johannes Paul II. hat durch symbolische Gesten und Worte die Erneuerung des Verhältnisses zum Judentum vorangetrieben. War das römische Lehramt hier der akademischen Theologie einmal voraus?
Rutishauser: Johannes Paul II. hat die Erneuerung des jüdisch-christlichen Verhältnisses zur Chefsache gemacht. "Nostra aetate" hätte nach dem Konzil leicht ein Text in der Schublade werden können. Als Pole, der in der Nähe von Auschwitz aufgewachsen ist, hatte er eine besondere Sensibilität für das Schicksal des jüdischen Volkes. Er hatte jüdische Bekannte und Freunde. Das Konzil hatte den Gottesmordvorwurf und Substitutionslehre überwunden, doch war noch nicht klar, was nun positiv an die Stelle treten soll und welche Konturen eine neue Theologie des Judentums annehmen würde. In diesem Prozess hat Johannes Paul II. wichtige Akzente gesetzt. Es gab seit den Siebzigerjahren aber auch eine wache Gruppe von Theologen und Theologinnen, die eine neue Theologie entwickelt haben. Sie waren eine kleine Minderheit, doch ist dies in einem Prozess der Neuausrichtung nur natürlich. Auch hier ist auf die jüdische Seite zu achten, denn in der Geschichte hatte diese oft Kollateralschäden tragen müssen, wenn innerhalb der Kirche über das Judentum debattiert wurde. Für Juden hatten die symbolischen Gesten von Johannes Paul II. – der Besuch in der Synagoge in Rom 1986 und 2000 an der Klagemauer –, eine viel größere Wirkung als seine innerkatholischen, theologischen Aussagen. Für religiöse Juden war es immer eine Selbstverständlichkeit, dass sie im Bund mit Gott stehen.
"Erst wenn begriffen wird, dass die neutestamentlichen Texte jüdisch-messianische Texte ihrer Zeit sein, lernen wir die Auseinandersetzung mit Juden als Ringen um Wahrheit als Teil des Glaubens zu verstehen."
COMMUNIO: Angesichts des wieder aufflackernden Antisemitismus heute – worin sehen Sie die bleibende Bedeutung von "Nostra Aetate"?
Rutishauser: In den letzten 60 Jahren wurde der christliche Antijudaismus als "theologischer Code" innerhalb der Kirche überwunden. In der Theologie gibt es kaum mehr offenen und expliziten Antijudaismus. Impliziten Antijudaismus oder auch A-Semitismus, also die Tendenz, alles Jüdische im Glauben zu verschweigen und zu verdrängen, ist aber noch weit verbreitet. Es geht nicht nur darum, den Antijudaismus zu überwinden, sondern die Beziehung zum Judentum als konstitutiv für das Christsein zu entdecken. Geschieht dieser zweite Schritt nicht, ist die Gefahr eines Rückfalls in Antijudaismus groß. Erst wenn begriffen wird, dass die neutestamentlichen Texte jüdisch-messianische Texte ihrer Zeit sein, lernen wir die Auseinandersetzung mit Juden als Ringen um Wahrheit als Teil des Glaubens zu verstehen. Sonst erscheinen die Pharisäer und "die Juden" im Johannesevangelium nur als die Andern. Der neue Antisemitismus ist nun aus politischen, kulturellen, gesellschaftlichen, psychologischen Quellen gespeist. Dass es einen linken und islamistischen Antisemitismus gibt, ist einer breiten Bevölkerung erst nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 bewusst geworden. Er affiziert auch die Gläubigen wieder. Daher haben Kirche und Theologie gemeinsam die Aufgabe, nicht nur in den eigenen Reihen, sondern auch in Gesellschaft mit allen guten Kräften zusammenzuarbeiten und den Antisemitismus zu bekämpfen. Judenhass hat immer eine verborgene religiöse Komponente.