Ich habe die Vorbereitungen zum großen Heiligen Jahr 2000 und jetzt 2025 vor Ort erlebt: Die Stadt Rom investiert enorm in die Infrastruktur, um den Millionen Pilgern den Aufenthalt so schön wie möglich zu gestalten und dem Papst jede Gelegenheit zu geben, sich auf großer Bühne in Szene zu setzen. Das war nicht immer so. Ein kurzer Blick in die Geschichte hilft, scheinbar Selbstverständliches zu würdigen.
Rom war jahrhundertelang die Hauptstadt des Kirchenstaats und damit Residenzstadt des Papstes, bis ihm 1870 das Risorgimento-Italien Rom wegnahm und sich dort auch noch der italienische König breit machte. Und dann noch das neue Parlament, die neue Stadtverwaltung – zu viele Player auf der öffentlichen Bühne. Wer darf nun die Öffentlichkeit dominieren? Wer hat in Rom das Sagen?
Die Kirche stand jedenfalls ziemlich nackt da, ihrer Gebäude und Ländereien enteignet. Das öffentliche Leben wurde von einem Tag auf den andern einer tiefgreifenden Wandlung unterzogen.
Bis dahin war alles sichtbar kirchlich geprägt: Kirchengebäude, Glockengeläut, Tausende von Klerikern und Nonnen im Habit, Bischöfe in Kutschen, Leichenzüge, Prozessionen unzähliger Bruderschaften usw. Das ändert sich radikal 1870. Vieles ist nun nicht mehr möglich, nicht nur wegen politischer Repression durch die neuen Machthaber, sondern auch weil die Kirche gar kein Geld mehr hat, um aufwendige Veranstaltungen zu finanzieren.
Rom wird zur Residenz der italienischen Könige
Besonders gespannt war man, wie es mit den Heiligen Jahren weitergehen würde. Bereits das Heilige Jahr 1875 findet unter den neuen Machthabern statt. "Chef" in Rom ist nicht mehr der "Papa Ré" Pius IX., sondern Rom ist jetzt die Hauptstadt Italiens und Residenz des Königs. Jede Seite hat ihr Repräsentationsbedürfnis: Die einen wollen es wie immer fortsetzen, die anderen wollen endlich auch einmal auf der öffentlichen Bühne stehen.
Unter dem Vorwand der öffentlichen Ordnung kann der Beamtenstaat seine volle Macht ausspielen. Wallfahrten, Prozessionen und der öffentliche Versehgang werden schlichtweg verboten. Die Kirche hat in die Sakristei zu verschwinden.
Die kleine deutsche Einrichtung am Campo Santo Teutonico neben dem Petersdom hat dies wie ein Seismograf wahrgenommen. Denn die Südseite des Petersdoms war nun Italien (und blieb es auch seit 1929: Es ist italienischer Boden, wenn auch exterritoriales Gelände des Vatikanstaats). Das päpstliche Wappen darf nicht mehr nach außen hin gehisst werden – und das des Kirchenstaats schon gar nicht. Die Fronleichnamsprozessionen darf nur innerhalb des Friedhofs stattfinden. Man stellt sogar das Beerdigungsrecht infrage, und das hätte auch Pilger betroffen, die auf der Pilgerfahrt starben.
Natürlich war es schwierig, die großen Pilgergruppen in der Stadt selbst so zu bewegen, dass man jeden Anschein einer katholischen Machtdemonstration vermied. Es kam zu Zwischenfällen, wenn Pilger zu enthusiastisch auftraten. Pilger sollten sich jeder "äußeren Kundgebung" enthalten.
Es kommt zu erheblichen Nervositäten seitens der Ordnungskräfte der neuen Regierung. Man fürchtet Solidaritätsbekundungen für den Papst und gegen den König. Die Pilgerführer mahnen ihre Leute zu vorsichtigem Verhalten. Natürlich war es schwierig, die großen Pilgergruppen in der Stadt selbst so zu bewegen, dass man jeden Anschein einer katholischen Machtdemonstration vermied. Man fuhr in großen Kutschenkolonnen etwa zu den Katakomben. Es kam zu Zwischenfällen, wenn Pilger zu enthusiastisch auftraten. Pilger sollten sich jeder "äußeren Kundgebung" enthalten, Pilgerabzeichen durften nicht in den Straßen Roms oder auf der Reise in Italien getragen werden.
Als Rektor Anton de Waal im Heiligen Jahr 1875 die erste Abteilung der Pilger am Bahnhof abholte und ihnen dort in einem der Säle erste organisatorische Mitteilungen machte, wurde er durch "eine hohe Polizei" unterbrochen: Er dürfe nicht "predigen". Bei der Pilgerfahrt 1876 begleitete die italienische Polizei die Gruppen "mit rührendster Aufmerksamkeit auf allen Schritten, selbst bis in die Kuppel von St. Peter hinauf". Dass 1877 beim goldenen Bischofsjubiläum Pius' IX. antiklerikale und antipäpstliche Demonstrationen kaum Erfolg hatten, führt Erzbischof Paulus Melchers auf die überwältigende Zahl der Pilger zurück.
Generalaudienzen fanden nicht auf dem Petersplatz statt, der in den Händen Italiens und damit auch der italienischen Polizei war, sondern der Papst begrüßte die Pilger praktisch unsichtbar entweder im Belvedere-Hof, im Damasushof oder im Apostolischen Palast. Weil der Papst sich nicht einmal in den Petersdom traute aus Angst, die Italiener könnten ihn dort ergreifen, zogen auch die großen Pilgerzüge aus Deutschland nicht feierlich, singend und fahnenschwingend über den Petersplatz, sondern sie gingen unauffällig vom Campo Santo Teutonico aus hinter der Basilika in den Apostolischen Palast.
Die laizistische Tageszeitung "Popolo Romano" verglich die Pilgerzüge mit heidnischen Umtrieben nach Art der Prozessionen der Göttin Diana und sieht die Ursache in "klerikaler Agitation", gegen die die Regierung entschieden vorgehen müsse. Der Pöbel parodierte sogar am Karnevalssonntag 1875 am Corso die Fronleichnamsprozession. Im Heiligen Jahr 1900 veranstalteten die Freimauer ein profanes Gegen-Jubiläum: eine Prozession vom Pantheon – der Grabstätte des Königs –, auf den Gianicolo, zur Porta Pia und zum Kapitol.
Mit den Lateranverträgen entspannte sich die Lage. Mit der Abschaffung des italienischen Königtums 1946 hat Italien endgültig die öffentliche Bühne Roms dem Papst zurückgegeben, wie auch in diesem Heiligen Jahr 2025 unübersehbar ist.