Wer seinen Blick nur auf jene Ausschnitte des Lebens konzentriert, die in mathematischer Sprache auszudrücken sind, lässt sich nicht so leicht von "Geschichtszeichen" (Immanuel Kant) beeindrucken. Er verabscheut das "wilde Denken", für das der Wissenschaftsphilosoph Paul Feyerabend plädiert hat. So wie jener analytisch argumentierende Universitätslehrer, der in Hinblick auf den 9. November 1989 in Berlin befand: "Das ist ein Tag wie jeder andere. Philosophisch sehe ich da keinen Unterschied."
Damit verhielt er sich wie jener zerstreute Professor, der seinen in der Nacht verlorenen Schlüssel bloß unter der Straßenlaterne suchte, weil es dort hell war. Mit Blick auf den 9. November, den Schicksalstag deutscher Geschichte – 1918, 1938, 1989 –, wäre da nicht entweder ein Schuldbekenntnis oder Dankbarkeit angesagt?
I.
Es war der Journalist Joachim Jauer, Autor des Buches Urbi et Gorbi, Sonderkorrespondent des ZDF für Ost- und Mitteleuropa, der ausführlich über die Rolle der Kirchen als Wegbereiter der europäischen Freiheitsrevolution berichtete und am 2. Mai 1989 als einziger westdeutscher Journalist eine Sternstunde der Geschichte kommentierte: die Öffnung des "Eisernen Vorhangs" an der ungarisch-österreichischen Grenze: "Heute endet hier an dieser Stelle die vierzigjährige Teilung Europas in Ost und West. Dies wird unabsehbare Folgen haben für Europa, für die Deutschen in der Bundesrepublik und insbesondere in der DDR." Und es hatte Folgen!
Am 9. November 1989 um 18:57 Uhr erklärte Günter Schabowski auf einer erstmals live vom Fernsehen der DDR übertragenen Pressekonferenz:
"Und deshalb (äh) haben wir uns jetzt dazu entschlossen, heute (äh) eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht (äh), über Grenzübergangspunkte der DDR (äh) auszureisen." [...] Frage: "Wann tritt das in Kraft?" Schabowski: (Blättert in seinen Papieren.) "Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich (blättert weiter in seinen Unterlagen)."
Der Politologe Hans-Hermann Hertle macht in seiner Chronik des Mauerfalls auf die Dramatik der daraus resultierenden Vorgänge aufmerksam: Beispielsweise berichtet er von Oberstleutnant Harald Jäger, der seinen Dienst viele Jahre an einem Berliner Grenzübergang versehen hatte. Bei Schabowskis unerhörten Äußerungen über die sofortige Grenzöffnung ("unverzüglich!") sei dem altgedienten Offizier förmlich der Bissen im Hals steckengeblieben:
"Ich dachte: Das ist doch Quatsch. Ab sofort? Das geht doch gar nicht. Was heißt denn hier 'ab sofort'? Das ist doch gar nicht möglich. Und zu meinen Mitarbeitern habe ich laut gesagt: 'Das ist doch absoluter geistiger Dünnschiß'. Ich habe das Essen stehenlassen – die Truppe fragte, was ist denn los? – und bin raus."
Ähnlich reagierte Dieter Teichmann. Der Generalmajor, an diesem Tag mit der obersten Befehlsgewalt über die Grenztruppen ausgestattet, meinte:
"Wir sind von den Entscheidungen der zentralen Stelle völlig überrascht worden. Für mich war das zunächst unfassbar, übers Fernsehen von der Grenzöffnung zu erfahren."
Teichmann geht nach der Pressekonferenz zum Abendessen und überlegt, was auf die Grenztruppen zukommen wird. "Was immer der Major kommen sah, es kam schneller, als er dachte."
II.
Den meisten Ostdeutschen stand eine religiöse Sprache, mit der sie das Erlebnis des Mauerfalls beschreiben konnten, nicht mehr zur Verfügung. Sie mussten ihren überwältigenden Gefühlen anders Luft verschaffen: am häufigsten durch den Ausruf "Wahnsinn". Dieser kollektiv verwendete Ausdruck brachte eine wirkliche Transzendenzerfahrung zu Wort. Der Religionswissenschaftler Rudolph Otto spricht in seinem Werk Das Heilige (1917) bekanntlich vom "Mysterium tremendum et facinosum", von Erfahrungen, die sowohl zutiefst erschreckend als auch faszinierend auf den Menschen wirken; beides geschah in jener Nacht vom 9./10. November.
Der Erfurter Philosoph Eberhard Tiefensee erklärt deshalb in Hinblick auf Karl Barths Feststellung:
"'Wenn Gott zum Menschen redet, so zeichnet sich dieses Geschehen nie und nirgends so vom übrigen Geschehen ab, daß es nicht sofort auch als ein Teil dieses übrigen Geschehens interpretiert werden könnte', behält hoffentlich Unrecht. Mir zeigt sich in der 'Wahnsinns'-Erfahrung des 9. November eine eigentümliche Logik, in der Irrationalität dieses Ereignisses erscheint mir eine andere Rationalität. So gesehen übermittelt die Maueröffnung eine vielschichtige Botschaft, die angesichts der notwendigen praktischen Bewältigung dieses Geschehnisses in Vergessenheit zu geraten droht. Nicht nur das Ereignis als solches, auch sein 'zufälliges' Datum 9. November – dieser mehrfach befrachtete Tag der deutschen Historie –, verweist auf einen Tiefen-Text, der in diese Geschichte eingeschrieben ist". (in: Gewagte Freiheit, hrsg. v. Thomas Brose)
III.
"Fast alle meine Handlungen waren vorläufig, unfertig und ohne ein allgemeines Ziel. Vielleicht hing ich an zu vielen Dingen und wollte nicht festgenagelt werden. Es gab lange Phasen der Einsamkeit und Langeweile", so schreibt Paul Feyerabend in seiner Autobiografie. Der in Wien geborene, vielseitig begabte Wissenschaftstheoretiker, der am liebsten Opernsänger geworden wäre, hat seinem Buch einen verblüffenden Titel gegeben: Zeitverschwendung (Killing Time).
Aus dem Zweiten Weltkrieg kehrt der Soldat nicht unversehrt nach Hause zurück, sondern mit einer Kugel im Rücken. Folge: Gehbehinderung und Impotenz
"Ich humpelte damals wie heute mit einer Krücke umher. […]. Heute frage ich mich, wie die Leute ohne eine zusätzliche Hilfe stehen und gehen können. Ihr Zustand, nicht meiner, scheint mir erklärungsbedürftig."
Es sind solche Verschiebungen der Sichtachse, die Feyerabend bald zum gefürchteten Gegner eines naiven Wissenschaftsglaubens machten. Als falsch und naiv erscheint es dem unkonventionellen Denker, Kreativität und Intuition als hermeneutische Fähigkeit zu vernachlässigen, um stattdessen zu einem leblos-unveränderlichen System zu gelangen. Da der Fachmann für Wissenschaftstheorie und Logik gute Argumente schätzt, wendet er seine Kritik gegen das Zentrum der "harten Wissenschaft": die Physik. In seinen berühmt gewordenen Galilei-Studien – auch für Theologen weiterhin lesenswert –, gelingt es ihm, aufzuzeigen: Naturwissenschaftliche Verfahren sind weniger ein Betrachten als ein Machen, weniger ein Erkennen als ein Konstruieren, wie er in seinem Hauptwerk Wider den Methodenzwang (Against Method) zeigt.
IV.
"Ich bin verwundert, wenn mich Interviewer behandeln, als ob ich ein Orakel wäre". Der zu Berühmtheit gelangte Autor, dessen Kinderglaube früh verlorengegangen war, versteht sich zunächst als kämpferischer Atheist, bringt später aber – wie er 1993 in einem legendären Interview mit Rüdiger Safranski vor der Kulisse des Petersdoms erläutert – der Religion Achtung entgegen und bewahrt sich eine Offenheit für die Kunst, für das Unverdiente und Geschenkte. All das bewegt ihn dazu, Zeit stärker in ihrer existentiellen Tiefe wahrzunehmen. "Heute scheint es mir", konstatierte Feyerabend in seiner Autobiografie, "daß Liebe und Freundschaft eine zentrale Rolle spielen und die wichtigsten Prinzipien blaß, leer und gefährlich bleiben." Hatte dieser Weltweise vielleicht doch etwas von einem Orakel?
V.
Nach der Friedlichen Revolution von 1989 kritisiert Eugen Biser scharf, dass das "Schweigen" von "Sprechern der Kirche" zur Freiheitsrevolution von 1989/90 keineswegs "Gold" sei, sondern bloß ein Verharren im Licht des allseits Bekannten bedeute. Das Ende des Ost-West-Konflikts sowie die deutsche Wiedervereinigung deutet der Religionsphilosoph in seinen an der Humboldt-Universität gehaltenen Berliner Guardini-Lectures als Geschehen, das geradezu nach theologischer Durchdringung verlangt.
Die Verantwortlichen seien, so Biser,
"nicht nur durch das Zweite Vatikanum dazu aufgerufen [gewesen], die 'Zeichen der Zeit' zu deuten; ihnen hätte auch klar sein müssen, was es heißt, Zeitzeugen eines Geschehens zu sein, mit dem verglichen sogar der das Selbstverständnis Israels begründende Exodus kaum mehr als eine Episode war und der in seinem alle Konzepte sprengenden Ablauf geradezu nach einer religiösen Sinndeutung schrie."