Blicken wir zunächst auf den ganzen Psalm, der mit "Namen" beginnt und auf den Namen Gottes "JHWH" hinzielt:
1 Für den Musikmeister: Auf Saiteninstrumenten, ein Maskil von David.
2 Als die Sifiter kamen und sagten zu Saul: Versteckt sich nicht David bei uns?
3 Gott, in deinem Namen rette mich, in deiner Macht schaff mir Recht!
4 Gott, höre auf mein Flehen und nimm zu Ohren die Aussagen meines Mundes!
5 Denn Fremde haben sich erhoben gegen mich und Gewalttätige trachten mir nach dem Leben (Hals), sie haben Gott nicht vor (Augen) gestellt. Sela
6 Siehe, Gott ist ein Helfer für mich, mein Herr unter denen, die mein Leben stützen.
7 Er wird umkehren das Böse zurück auf meine (lauernden) Gegner. In deiner Wahrheit vernichte sie!
8 Aus freiem Antrieb will ich dir opfern,
ich will danken deinem Namen, JHWH, denn er ist gut.
9 Denn aus aller Bedrängnis hat der mich entrissen,
und an meinen Feinden weidete sich mein Auge.
"Versteckt sich nicht David bei uns?"
Die Überschrift versetzt das Gebet von Ps 54 in die Zusammenhänge von 1 Sam 23 und 26. Zweimal haben die Bewohner von Sif König Saul verraten, wo David sich versteckt vor den Nachstellungen des Königs (1 Sam 23,19; 26,1).
1 Sam 23,19-21: Einige Sifiter gingen zu Saul nach Gibea hinauf und berichteten ihm: David hat sich bei uns auf den Bergfestungen bei Horescha versteckt, und zwar auf der Anhöhe von Hachila südlich von Jeschimon. Wenn es dir, König, beliebt, herabzukommen, dann komm! Es wird dann unsere Sache sein, ihn dem König auszuliefern. Saul erwiderte: Gesegnet seid ihr vom Herrn, weil ihr Mitleid mit mir habt.
1 Sam 26,1-2: Die Sifiter kamen zu Saul nach Gibea und sagten: David hält sich auf der Anhöhe von Hachila gegenüber von Jeschimon auf. Saul machte sich mit dreitausend Mann, ausgesuchten Kriegern aus Israel, auf den Weg und zog in die Wüste von Sif hinab, um dort nach David zu suchen.
Sif war eine Stadt 7 km südlich von Hebron, in der Judäer aus der Familie Kalebs lebten (1 Chr 2,42) – eigentlich also Stammesangehörige Judas, des Stammes Davids, die aber entschieden zum Benjaminiter Saul hielten gegen ihren Stammesgenossen und daher im Psalm "Fremde" (V. 5) heißen im Sinne von Entfremdeten.
1 Für den Musikmeister: Auf Saiteninstrumenten, ein Maskil von David.
2 Als die Sifiter kamen und sagten zu Saul: Versteckt sich nicht David bei uns?
Das Gedicht selbst ist gerahmt von dem Ausdruck "dein Name" in V. 3 und 8. Gleich eingangs ruft David Gott um Hilfe an bei seinem Namen. Ebendiesem Namen will David abschließend danken, weil er sich als gut erwiesen hat.
"Gott, höre auf mein Flehen"
Das Gedicht selbst gliedert sich in eine Anrufung (V. 3-4) mit Begründung ("denn", V. 5). In der Begründung schildert David seine Notlage. Nach dieser ersten Strophe V. 3-5 folgt in V. 6-9 die zweite: sie besteht aus einer Vertrauenserklärung (V. 6-7) und einem Dankversprechen (V. 8-9). Das Wichtigste in diesem Psalm ist die Entwicklung des Gottesnamens: Die ersten vier Male spricht der Beter Gott als "Gott" an (hebr. elohim): V. 3.4.5.6a. In V. 6b nennt er ihn "mein Herr" (hebr. adonai). Am Ende schließlich in V. 8 nennt er ihn beim Namen JHWH.
Das Gebet beginnt mit einer doppelten Anrufung:
3 Gott, in deinem Namen rette mich, in deiner Macht schaff mir Recht!
4 Gott, höre auf mein Flehen und nimm zu Ohren die Aussagen meines Mundes!
Das erste Wort ist "Gott". Zweimal spricht er Gott in der Anrufung an und fordert ihn drängend auf, ihm beizustehen. Vier Aufforderungen richtet er an Gott, drei Imperative und einen Jussiv: Rette mich! Du sollst mir Recht verschaffen! Höre! Nimm zu Ohren! Normalerweise würde man ja zuerst um Gehör bitten und dann anfügen, was man konkret will, also: hör mich an – rette mich. Hier aber beginnt der Beter mit dem, was Gott inhaltlich tun soll (retten, Recht verschaffen), um dann erst anzufügen, er möge also Gehör gewähren. Es kommt dem Beter darauf an, Gottes Eigenschaften vorzuordnen vor sein eigenes Anliegen. Er appelliert an Gottes "Namen" und seine "Macht" bevor er sein "Flehen" und "die Aussagen seines Mundes" vorbringt.
Er fordert also nicht einfach Gott auf, ihn zu retten, sondern er fordert ihn auf, "in seinem Namen ihn zu retten", der dann im Parallelismus als "Macht" als machtvoller Name gedeutet wird. Der Beter denkt hier an die Namensoffenbarung Gottes vor Mose im brennenden Dornbusch:
Ex 3,7-15: Der HERR sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne sein Leid. 8 Ich bin herabgestiegen, um es der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen, … 13 Da sagte Mose zu Gott: Gut, ich werde also zu den Israeliten kommen und ihnen sagen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt. Da werden sie mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich ihnen sagen? 14 Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin, der ich bin. Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der Ich-bin hat mich zu euch gesandt. 15 Weiter sprach Gott zu Mose: So sag zu den Israeliten: JHWH, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name für immer, und so wird man mich anrufen von Geschlecht zu Geschlecht.
Gott bei seiner Ehre gepackt
An diesen Namen appelliert der Beter gleich zu Beginn des Psalms: Du, Gott, der du dich selbst "Ich-bin" nennst, "Ich-bin-da" "um zu entreißen", dich rufe ich an bei eben diesem Namen! Der Beter packt Gott sozusagen bei der Ehre seines eigenen Wesens, bei seiner Selbstdefinition, der er jetzt entsprechen soll. "Der Name Gottes ist die Manifestation seines Wesens … Die nachbibl. Sprache nennt Gott nach Lev. 24,11 geradezu [ha-schem = hebr. der Name]." (Delitzsch, Psalmen 383f.).
Auf den doppelten Anruf folgt in V. 5 die Begründung mit "denn", die Notschilderung:
5 Denn Fremde haben sich erhoben gegen mich und Gewalttätige trachten mir nach dem Leben (Hals), sie haben Gott nicht vor (Augen) gestellt. Sela
Die Sifiter sind Stammesgenossen Davids, aber sie handeln wie Fremde, als Entfremdete und halten zu seinem Feind, zu Saul. Sie helfen dem König, der David nach dem Leben trachtet und werden so selbst zu Komplizen der Gewalttat, die Saul vorhat. Was auch immer sie im Blick haben, Hoffnung auf Belohnung oder Abwehr von Nachteilen, weil sie Saul fürchten – Gott jedenfalls haben sie nicht im Blick, vor dem sie ihr verräterisches Tun verantworten müssen.
David hält sich mit den Gegnern nicht lange auf, sondern bleibt unerschütterlich in seiner Hoffnung auf Gott:
6 Siehe, Gott ist ein Helfer für mich, mein Herr unter denen, die mein Leben stützen.
7 Er wird umkehren das Böse zurück auf meine (lauernden) Gegner. In deiner Wahrheit vernichte sie!
Gegen die, die sich gegen David erhoben haben (V. 5) ist Gott "ein Helfer" für David (V. 6). Gegen die, die David nach dem Leben trachten (V. 5) stützt er "Davids Leben" (V. 6). Dies tut er nicht einfach als "Gott", sondern als Davids "Herr", der für David zuständig ist und sich um ihn kümmert. Was die David nachstellenden Feinde an Bösem planen, wird Gott, dessen ist sich David sicher, so umlenken, dass es nicht ihn trifft, sondern die Feinde – nach dem alten Sprichwort der israelitischen Weisheit:
Spr 26,27 und Sir 27,26: Wer eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.
"Ich will danken deinem Namen"
Das hier verwendete hebräische Wort für "Feinde" klingt im Hebräischen nach "lauern". Sie lauern ihm auf, um ihn zu verraten und ans Messer zu liefern, sein Leben, wörtlich: seinen Hals. Nach diesen Vertrauensaussagen im Indikativ schließt der Beter ab mit einem Imperativ, einer direkten Aufforderung an Gott: In deiner Wahrheit, so wahr du der Ich-bin-da bist, "vernichte sie!", lass sie und ihr Vorhaben zunichte werden!
Der Beter schließt mit einem Dankversprechen:
8 Aus freiem Antrieb will ich dir opfern,
ich will danken deinem Namen, JHWH, denn er ist gut.
9 Denn aus aller Bedrängnis hat der mich entrissen,
und an meinen Feinden weidete sich mein Auge.
In einer liturgischen Festfeier, einem Dankopfer (Lev 7,12), einem "freiwilligen Opfer" (Lev 7,16), bei dem die Feierversammlung die geweihten Gaben vom Altar empfängt und in festlicher Stimmung zusammen isst, wobei der, der das freiwillige Dankopfer stiftet, von Gottes erfahrender Hilfe berichtet und so den Namen Gottes öffentlich rühmt, will er Gott Dank abstatten. Genaugenommen will er nicht Gott, sondern "dem Namen JHWH" danken, den er ja eingangs auch um Hilfe angerufen hatte (V. 3). Diesen "Namen" erwähnt er jetzt wieder und er nennt ihn auch: JHWH – den Namen aus Ex 3,14.
Wenn Gott die Wahrheit seines Namens – "Ich-bin", "Ich-bin-da-für dich" – erneut bewährt hat, dann will der Beter diesem Namen danken, "weil er gut ist" und weil er wahr ist. "Weil er gut ist" sagt David mit einem ersten "denn", fügt dann ein zweites "denn" hinzu und begründet, wie sich diese Güte gezeigt hat: "Aus aller Bedrängnis hat er mich entrissen" (wird er dann sagen können), wie Ex 3,8 bei der Namensoffenbarung im Dornbusch versprochen hat.
Viermal nennt David Körperteile von sich selbst: In V. 4 redet sein Mund; in den V. 5 und 6 geht es um sein "Leben", im Hebräischen wörtlich um "seinen Hals"; die Feinde wollen ihm an den Hals, Gott stützt seinen Hals. An vierter Stelle nennt David sein Auge in V. 9: "Auf meine Feinde schaute herab mein Auge" oder: "an meinen Feinden weidete sich mein Auge". Er durfte das Scheitern der feindlichen Pläne mit eigenen Augen sehen. Das ist Grund zum Dank.