Der heute zu betrachtende Psalm 46 ist recht kurz und besteht (nach der Prosa-Überschrift V. 1) nur aus zwei Strophen. Sie werden durch den Refrain in V. 8 und 12 abgegrenzt. Wie diese beiden ist auch der eröffnende V. 2 ein Bekenntnissatz, auf den die beiden Kehrverse auch Bezug nehmen. V. 2 beginnt mit "Gott für uns", V. 8 und 12 sagen chiastisch aufnehmend "für uns Gott". So rahmen und teilen die V. 2, 8 und 12 das Gedicht.
2 Ein Gott ist für uns Zuflucht und Festung,
wurde er doch als Hilfe in Bedrängnissen machtvoll erfahren.
Ein Wir beginnt zu sprechen. Es wird sich im Laufe des Gedichts herausstellen, dass es "Jakob" ist (V. 8), also Israel (Gen 32,29). Israel legt ein Bekenntnis ab. Es bekennt sich dazu, dass es seine Sicherheit auf den Glauben, auf die Religion gründet und nicht etwa auf militärische Stärke (Ps 33,16) oder auf seine Handelsmacht und seinen Reichtum wie Tyrus (Ez 27-28). Dabei ist das Bekenntnis zunächst noch sehr ungenau. Es wird gar nicht gesagt, um welchen Gott es sich handelt. So wie später der Apostel Paulus auf dem Aeropag an einen Altar der Athener und seine religiöse Widmung anknüpft, "einem unbekannten Gott" (Apg 17,23), um diesen dann mit dem allein wahren Gott, dem Gott Israels zu identifizieren, so spricht der Psalmist in Ps 46,2 ganz allgemein von "einem Gott", auf den Israel vertraut, ohne ihn schon zu identifizieren.
Gott als machtvolle Hilfe
Es wird sich zeigen, dass Israel mit diesem Bekenntnis die Heidenvölker einladen will, sich dem Glauben Israels anzuschließen. Israel hat in seiner Geschichte einen Gott, nämlich seinen Gott, als machtvolle Hilfe erfahren. Darauf gründet das Bekenntnis auf eine "spirituelle Macht" statt einer militärischen oder wirtschaftlichen.
3 Darum müssen wir uns nicht fürchten, wenn auch die Erde sich verschieben,
wenn Berge wanken sollten im Herzen der Meere.
4 Mögen tosen, schäumen seine Wasser, Berge zittern bei seinem Anschwellen!
Israel muss sich nicht fürchten, selbst wenn die Welt aus den Fugen geraten würde. Israel vertraut auf die spirituelle Kraft seines Glaubens.
5 Ein Strom! Seine Arme erfreuen (stets) eine Gottesstadt,
die heiligste der Wohnungen des Höchsten.
6 Ein Gott in ihrer Mitte – sie kann niemals wanken!
Helfen wird ihr (dieser) Gott zur Morgenwende!
Schlagartig ändern sich Bild und Atmosphäre. Von tosenden Fluten geht der Blick zu einem wonniglich dahinfließenden Bach. In der Stadt, da dieser oben erwähnte Gott sein Heiligtum hat, gibt es keine bedrohlichen Fluten, sondern stattdessen einen Park mit Bächlein. Mag es um sie herum toben, in ihr herrschen Frieden und Sicherheit eben durch die Anwesenheit des genannten Gottes, auf den diese Stadt vertraut. Natürlich haben die Beter eigentlich Jerusalem im Auge, das am Fuß des Zionsbergs eine Quelle hat (Gihonquelle: 1 Kön 1,33.38.45), nicht in der Stadt, aber der Dichter will diese Stadt paradiesgleich darstellen (Gen 2,13; Offb 22,1-2). Diese Stadt vertraut nicht auf Waffen und Mauern, ist doch ihr Gott für sie "Zuflucht und Festung" (V. 2). Sie nennen ihren Gott nun den "Höchsten" (hebr.: äljon). So nannten die Kanaanäer ihren Hochgott. So auch Melchisedek den seinen in Gen 14,18-20, den Abraham prompt mit seinem, dem Gott Abrahams gleichsetzt.
Gott als vertrauenswürdige "Fluchtburg"
Israel spricht in Ps 46,2-6 bisher sehr "ökumenisch", jeder soll sich in diesem spirituellen Bekenntnis zunächst einmal wiederfinden, auch die Kanaanäer. Israels Erfahrung war, dass sein Gott "zur Morgenwende" helfend eingreift wie einst am Roten Meer (Ex 14,27) und auch sonst immer wieder (Ps 5,4).
7 Es tosten Nationen, wankten Königreiche,
er gab Laut mit seiner Stimme, schwanken musste die Erde.
Die Verben "wanken", "tosen" aus V. 3-4 werden rückwärts aufgenommen und das Aus-den-Fugen-Geraten der Erde, das dort bezeichnet war, konkret ausgelegt als Krieg zwischen Ländern und Rebellion in Reichen. Immer wieder hat Israel erfahren, dass die Welt dadurch aus den Fugen geriet. Weltreiche herrschten, stürzten ein, wurden abgelöst: Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen, Römer. Alle kamen und gingen. Israel blieb, denn es vertraute auf die Macht seines Glaubens. So schließt Jakob sein Bekenntnis etwas umformuliert an:
8 Der Herr Zebaot ist mit uns, eine Fluchtburg für uns ist der Gott Jakobs.
Nun erst nennt die Wir-Gruppe ihren Namen Jakob, nun erst bezeichnet sie ihren Gott mit Namen, "der Herr" (JHWH), und appositionellem Epithet: "Heerscharen" (soviel wie: Allmacht): Der Herr, der Allherrscher ist der gemeinte Gott. Da er alles in der Hand behält, selbst, wenn alles auf der Erde sich verschöbe und aus den Fugen geriete (V. 3), kann sein Volk vertrauen auf seine "Fluchtburg".
9 Geht, seht die Taten des Herrn, der Erstarren ausbreitete auf der Erde!
10 Einhalt gebietet er Kriegen bis ans Ende der Erde;
Bogen wird er zerbrechen und zerschlagen Lanzen;
Wagen wird er verbrennen im Feuer.
Das sprechende Israel spricht jetzt andere an, konkret: die heidnischen Nationen. Die Adressaten werden nicht sofort genannt, erst V. 11 wird sie nennen. Die doppelte Aufforderung "geht, seht" reimt sich auch im Hebräischen. Das Wort für "sehen" ist dabei nicht das normale hebräische Wort, sondern das eher aramäische, das im Hebräischen die Vision, die prophetische Schau bezeichnet. Die Nationen sollen sich in Bewegung setzen und eine Visionserfahrung, eine geistliche Erfahrung machen, indem sie die Geschichte betrachten: Immer wieder hat der Herr Schockstarre auf die Völker gelegt, wenn etwa wieder ein kriegerisches Reich kollabiert ist. V. 10 legt das konkret aus auf das Enden von Kriegen. "Einhalt gebieten" ist das hebräische Verbum schabat, wovon der Sabbat kommt, der Tag der Ruhe. Gott verordnet dem Kriegführen einen Sabbat, indem er Waffen vernichtet und die Lastkarren zum Herantransport von Waffen und Abtransport von Kriegsgefangenen verbrennt. Die Völkerwelt soll so friedlich werden wie die Gottesstadt Jerusalem von V. 5.
Der eine Gott vereint, statt zu entzweien
V. 11 setzt neuerlich mit zwei Imperativen ein. Dann erst zeigt sich, dass nicht mehr Israel spricht, wie eben noch in V. 9-10, sondern eine andere Stimme:
11 Lasst ab und erkennt, dass ich (dieser) Gott bin!
Ich werde mich erheben über die Nationen, erheben über die Erde!
Gott selbst, der Herr, der Gott Israels erhebt die Stimme und identifiziert sich als dieser Gott, auf den Israel vertraut. Israel hatte die Nationen aufgefordert, Gottes Handeln zu betrachten, vor allem sein Handeln an Israel. Gott fordert die Nationen nun auf, ihn selbst zu erkennen. Er schließt selbst das Zeugnis seines Volkes ab: Weil ich der ganzen Welt überlegen bin, bin ich für mein Volk und für alle, die an mich glauben, eine Fluchtburg (V. 8.12). Wenn alle Völker die Wahrheit des Glaubens Israels erkennen und sich ebenfalls dazu bekennen, dann bricht der Weltfriede aus, wie Jesaja in 2,2-5 und Micha in 4,1-5 prophezeit haben.
Die gemeinsame Wallfahrt der Völker zum einen Gott vereint alle Nationen, statt sie zu entzweien und schafft die Grundlage für die Abschaffung der Kriege, macht "Schwerter zu Pflugscharen". In V. 12 antwortet eine Wir-Gruppe auf Gottes Aufforderung von V. 11 und formuliert das Bekenntnis von V. 8 wortgleich erneut. Dieses Mal aber stimmen die aufgeforderten Nationen mit ein. Nicht nur Israel, wie in V. 8, sondern nun zusammen mit Angehörigen anderer Nationen sagt:
12 Der Herr Zebaot ist mit uns, eine Fluchtburg für uns ist der Gott Jakobs.
Augustinus entnahm den Titel für sein Hauptwerk "De Civitate Dei" ("von der Stadt Gottes") den Psalmen: Ps 46,5; 48,2.9; 87,3. Er schrieb es in den Jahren 413 bis 426, als die Welt aus den Fugen geriet und Barbareneinfälle das Römische Reich bedrohten. 410 eroberten die Westgoten (vorübergehend) Rom. Augustinus starb 430 im von Vandalen belagerten Hippo. "Die Kirche, die die Gottesstadt ist" (C. D. XVI 2) wird auch dann Bestand haben, wenn das Reich, die civitas terrena, zerfällt. Das ist der Trost der Christen.