Der Beter von Psalm 35 wendet sich an Gott, weil er gemobbt wird von Leuten, mit denen er einst solidarisch war, als es ihnen schlecht ging. Jetzt aber fallen sie völlig grundlos über ihn her, verbünden sich gegen ihn als Opfer.
Der Beter beginnt mit einer sechsfachen drängenden Aufforderung an Gott, in den Konflikt einzugreifen: "Streite – kämpfe – fasse – steh auf – zieh – sag!" (V. 1-3). Der Beter wird vor allem mit Worten gemobbt. Darum beginnt und endet seine Aufforderung an Gott mit verbalem Kampf: "streite – sag!". Gott soll mit Worten für ihn streiten mit dem Ziel: "Deine Rettung bin ich!" (V. 3). Gott soll seine Rettung sein, nicht die eigene Faust oder Waffen! Zwischen "streite – sag!" deutet der Beter den Kampf, in den Gott eintreten soll, mit Worten für körperliche, ja bewaffnete Auseinandersetzung: "kämpfe – fasse (den am Arm getragenen Rund-) Schild und (den mannshohen) Setzschild, und steht auf als meine Hilfe", um mich mit Abwehrwaffen zu verteidigen! "Zieh Speer und Lanze", Waffen zum Angriff gegen die Gegner, damit der Beter in die Offensive kommt. Dabei will der Beter eben nicht selbst zu den Waffen greifen, sondern dies Gott überlassen.
Wie Spreu vor dem Wind
In den V. 4-6 folgen dann nach den sechs Aufforderungen sechs Wünsche, was den Gegnern passieren soll: "1. Zuschanden und 2. beschämt sollen sie werden – 3. zurückweichen und 4. schamrot werden – 5. werden zu Spreu – 6. ihr Weg zu Finsternis und Glätte!" Sie sollen mit ihrem Treiben öffentlich scheitern und zurückweichen müssen. Sie sollen verschwinden wie Spreu vor dem Wind, von Gott selbst (in seinem Engel) weggestoßen. Bis hierher hat der Psalmist seinen Feinden noch nichts Böses gewünscht, nur dass sie mit ihrer Bosheit gegen ihn scheitern sollen – und zwar für alle sichtbar. Der letzte Wunsch "ihr Weg soll Finsternis und Glätte werden!" (V. 6) bedeutet, ihr weiterer Lebensweg soll orientierungslos ("finster") und ungangbar ("glatt") werden – sicher mit dem, was sie gegen den Beter treiben, aber vielleicht darüber hinaus. Die V. 7-8 schließen mit "denn" eine Begründung für die Bitten gegen die Feinde an: Grundlos stellen sie mir heimtückische Fallen. Sie sollen selbst hineinstürzen! Der gemobbte Beter orientiert sich an der Bibel, an der altisraelitischen Weisheit:
Spr 26,27 und Sir 27,26: "Wer eine Grube gräbt, fällt selbst hinein"; vgl. Spr 28,10
Ps 7,16: "Er fiel in die Fanggrube, die er gerade gemacht".
Der Beter bittet Gott nur, er wolle, das von ihnen für ihn erdachte Böse von ihm weg auf sie selbst zurücklenken. In den V. 9-10 wünscht er sich, er möge bald Gott dafür danken können und verspricht zugleich Gott diesen Dank. Wenn die in V. 3 erhoffte Rettung geschehen ist (V. 9: "Rettung"), wird der Beter in V. 10 mit seiner ganzen Person Gott öffentlich preisen als den einzigen, der einen Schwachen und Wehrlosen gegen stärkere Feinde verteidigt.
Spott und Hohn für den Beter
Im zweiten Hauptteil (V. 11-16) spricht der Beter Gott nicht mehr an, sondern schildert ihm, was seine Feinde so treiben. Er erklärt damit, was er mit der "Falle" in V. 7 gemeint hat, die sie ihm stellen. In aller Öffentlichkeit verleumden sie ihn, legen falsches Zeugnis gegen ihn ab (vgl. Ex 20,16). Sie stellen Fragen, von denen er nichts weiß, fordern Dinge, die er nicht erfüllen kann. Das Perfide dabei ist, dass er selbst einst mit ihnen solidarisch war, als sie krank waren (V. 13), aber sie vergelten ihm das jetzt mit Bösem und entsolidarisieren sich, lassen ihn allein (V. 12). Er hatte, als es ihnen schlecht ging, mit Bußkleidung, Fasten und Gebet für sie zu Gott gefleht (V. 13), wie er es getan hätte für einen Freund, ja Bruder, gar die eigene Mutter. Er war von ihrem Leiden damals aufrichtig betroffen (V. 14).
Und wie vergelten sie das? Als er in Probleme kam, halfen sie ihm nicht nur nicht, sondern machten ihn zu ihrem gemeinsamen Mobbingopfer, gegen das sie sich verbündeten. Der Beter hatte eine Schwächephase, er "lahmte" – gesundheitlich oder auch wirtschaftlich und gesellschaftlich. Der Beter "lahmte", sie äffen ihn hinter seinem Rücken nach und "humpeln", das ist ihr "Solidaritätserweis". Statt mitzufühlen oder zu helfen, verspotten sie ihn – zum Schmerz für ihn, zum Gelächter für alle anderen (V. 15-16). So finden sie, die sich sonst vielleicht gar nicht sonderlich gut verstanden, auf seine Kosten zusammen wie Pilatus und Herodes gegen Jesus (vgl. Lk 23,12).
Im dritten Hauptteil (V. 17-22) spricht der Beter Gott wieder an und bittet ihn um Einschreiten. "Herr, wie lange willst du zusehen?" (V. 17) und "du hast es gesehen, … Herr!" (V. 22) sind der Rahmen um diese Strophe. Er ruft Gott an als den, der doch selbst gesehen hat, was sie treiben. Gott bräuchte die Darstellung des Beters gar nicht. Gott soll ihn bewahren vor dem Sturz (V. 17), den sie für ihn planten (V. 8), vor den Raubtieren (V. 17), die ihre Zähne fletschen (V. 16). V. 18 formuliert einen Wunsch und ein Versprechen zugleich:
18 Ich will dir danken können in zahlreicher Versammlung,
in mächtigem Volk will ich dich loben!
Der Vers ist poetisch als Chiasmus formuliert (ABB'A': danken – zahlreiche Versammlung – mächtiges Volk – loben). So wie sie öffentlich scheitern und blamiert werden sollen (V. 4), so will er Erfolg haben. Den öffentlichen Ruhm aber will er dann gar nicht für sich selbst haben, weil er eben doch Recht gehabt hat, nein, Gott will er öffentlich rühmen für die Hilfe. So wünscht er zugleich seine Rettung vor den Machenschaften und verspricht Gott sein öffentliches Zeugnis für ihn als Retter.
Mobbing, Spaltung, Entsolidarisierung
Gott selbst kann doch nicht wollen, dass solche Leute triumphieren. Sie schikanieren den armen Beter und zwinkern sich dann triumphierend zu (V. 19). Das darf Gott nicht länger zulassen! Mit Auge (V. 19) und Mund (V. 20) versündigen sie sich gegen ihren Nächsten, obwohl Auge und Mund dazu da sind, sich hilfesuchend und lobend an Gott zu wenden (Ps 34,6-7), der mit dem Wort seines Mundes die Welt geschaffen hat (Ps 33,6) und sie mit dem Blick seines Auges lenkt (Ps 33,13f.18). Die Psalmen 33, 34 und 35 sind eng verbunden und erzählen eine zusammenhängende Geschichte.
Die Mobber versündigen sich vor allem mit der Zunge (V. 20). Damit schaffen sie Spaltung und Entsolidarisierung. Ihre Komplizenschaft schafft zwischen ihnen eine Scheinfreundschaft– auf Kosten des gemeinsamen Opfers. Die wird aber nicht halten, denn die böse Gemeinsamkeit ist verlogen und brüchig. Wirkliche Freundschaft gründet sich auf positive Ziele und Gemeinsamkeiten. Die Sünden der Rede sind die verderblichsten in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft:
Spr 12,18f.: Mancher Leute Gerede verletzt wie Schwertstiche, die Zunge der Weisen bringt Heilung. Ein Mund, der die Wahrheit sagt, hat für immer Bestand, eine lügnerische Zunge nur einen Augenblick.
Spr 15,4: Eine sanfte Zunge ist ein Lebensbaum, eine falsche Zunge bricht das Herz.
Spr 18,21: Tod und Leben stehen in der Macht der Zunge.
Jak 3,6-9: Die Zunge ist es, die den ganzen Menschen verdirbt und das Rad des Lebens in Brand setzt; sie selbst aber wird von der Hölle in Brand gesetzt. Denn jede Art von Tieren … lässt sich zähmen und ist vom Menschen auch gezähmt worden; doch die Zunge kann kein Mensch zähmen, dieses ruhelose Übel, voll von tödlichem Gift. Mit ihr preisen wir den Herrn und Vater, und mit ihr verfluchen wir die Menschen, die nach dem Bilde Gottes geschaffen sind.
In V. 21 werden die Feinde erstmals zitiert mit dem, was sie reden. Mit eigenen Augen haben sie gesehen, dass es ihrem Opfer aufgrund ihres Mobbings immer schlechter geht, und spotten darüber mit ihrem Mund, ihrem Maul. Die Feinde werden in diesem Psalm dreimal wörtlich zitiert. Hier in Vers 21 mit vier Wörtern (im Hebräischen), in V. 25 zweimal mit zunächst zwei Wörtern, dann einem. In der Summe sind das sieben feindliche Wörter. Sieben ist die Zahl der Vollständigkeit und symbolisiert hier "totale Verhöhnung, aber jedesmal knapper" und damit verächtlicher (Böhler, Psalmen 1–50, HThKAT, 639).
Schaffe du mir Recht!
Die letzte Strophe (V. 23-28) fasst den ganzen Psalm noch einmal zusammen. Sie greift mit "Streit" in V. 23 auf den Anfang (V. 1) zurück. V. 24-25 blicken auf V. 19 zurück, V. 26 auf V. 4 und V. 28 auf V. 9-10. Die Schluss-Strophe spricht Gott nun endlich erstmals an als "mein Gott" (V. 23), d.h.: Du bist für mich zuständig! Du sollst mein Recht durchsetzen, ich verzichte auf die gewalttätige Durchsetzung meines Rechts, sondern erflehe das dringend von dir. Sie sollen sich blamieren mit ihren Machenschaften (V. 26), alle anderen sollen ins Lob Gottes ausbrechen (V. 27), am meisten der Beter selbst (V. 28).
Jesus wendet den Psalm in Joh 15,25 mit "sie hassten mich grundlos" (Ps 35,8) auf seine eigene Lage an.