Der erste Teil des Buches der Sprichwörter (Spr 1-9) besteht in seinem Kern aus zehn Lehrreden. Bei einer Lehrrede handelt es sich, wie der Name sagt, um eine kurze Rede, in der der Weisheitslehrer den Schüler über wesentliche Aspekte der Weisheit belehrt. Wie wir bereits sehen konnten, werden in den einzelnen Lehrreden unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. In der ersten Lehrrede (1,8-9) geht es um Abgrenzung. Der Schüler wird aufgefordert, auf die verlockenden Angebote der Frevler nicht einzugehen.
In der zweiten Lehrrede (Spr 2) wird dem Schüler in Anlehnung an die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets das weisheitliche Lehrprogramm "von A bis Z" vorgestellt: Rechtes Verhalten zu Gott und zum Mitmenschen, Rettung vor den Frevlern und vor der fremden Frau, Verheißung eines in Wahrheit glücklichen Lebens. In den folgenden Lehrreden werden nun die hier angesprochenen Themen aufgegriffen und vertieft: In der dritten Lehrrede (3,1-12) geht es um das rechte Verhalten zu Gott. In der vierten Lehrrede (3,21-35), mit der wir uns im Folgenden befassen, geht es um das rechte Verhalten zum Mitmenschen. In dieser Abfolge, so hatten wir gesagt, spiegelt sich das Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe.
Die wohltuenden Wirkungen einer weisheitlichen Lebensform
Zu Beginn der vierten Lehrrede werden zunächst die wohltuenden Wirkungen einer weisheitlichen Lebensform in Erinnerung gerufen. Es handelt sich um sehr konkrete Dinge, die auch in der zeitgenössischen Ratgeberliteratur anzutreffen sind: Wer durch Übung in die Haltung von Umsicht und Besonnenheit gelangt, dem gehen die Dinge im alltäglichen Leben leichter von der Hand. Geht er am Abend zu Bett, wird er einen erholsamen Schlaf finden. Schlaflosigkeit scheint in der modernen Gesellschaft ein weit verbreitetes Problem zu sein. Mehr und mehr zeigt sich, dass dabei auch mentale und spirituelle Aspekte eine wesentliche Rolle spielen. Unser Weisheitslehrer ist davon überzeugt, dass derjenige, der Umsicht und Besonnenheit nicht aus den Augen verliert und sich vom Vertrauen auf Gott leiten lässt, bei seinem Tun ("auf deinem Weg") und bei seinem Ruhen ("legst du dich nieder") sicher, erfolgreich und ohne Sorgen sein wird:
21 Mein Sohn, lass beides nicht aus den Augen:
Bewahre Umsicht und Besonnenheit!
22 Dann werden sie dir ("deiner Seele") ein Lebensquell,
ein Schmuck für deinen Hals.
23 Dann wirst du sicher gehen auf deinem Weg,
und du wirst nicht anstoßen mit deinem Fuß.
24 Gehst du zur Ruhe, so schreckt dich nichts auf,
legst du dich nieder, erquickt dich dein Schlaf.
25 Fürchte dich nicht vor plötzlichem Schrecken,
vor dem Wüten (Schoa) der Frevler, wenn es kommt!
26 Der HERR wird deine Zuversicht sein,
er wird bewahren deinen Fuß vor der Schlinge.
In Vers 23 wird einem weisheitlichen Leben dieselbe Wirkung zugeschrieben wie in Psalm 91 dem Schutz, der einem Menschen, der auf den HERRN vertraut, durch Gottes Engel zuteil wird: "Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen. Sie tragen dich auf Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt" (Ps 91,11f). Vers 24 erinnert an Ps 91,5: "Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten." Am Ende ist es der HERR, der "deinen Fuß vor der Schlinge bewahrt" (V. 26).
Dem Nächsten Gutes tun
Hat der Mensch in die hier beschriebene Haltung einer in Gott gründenden Sicherheit gefunden, dann kann und soll er sich in angemessener Form der Not seines Nächsten zuwenden. Der Weisheitslehrer weiß um die rechte Balance von Selbst- und Nächstenliebe. Nach den je eigenen Möglichkeiten ("wenn es in der Macht deiner Hand steht") soll der Weisheitsschüler dem, der es nötig hat und darum bittet, Gutes tun. "Das angesprochene 'Du' ist eine Person, die über Wohlstand verfügt, die demjenigen, der einen Anspruch hat, entsprechend geben und den Nächsten (רע) korrekt behandeln soll (V. 28)", schreibt der Alttestamentler Bernd U. Schipper (Sprüche [Proverbia], Biblischer Kommentar, Bd. XVII,1, Göttingen 2018, 264).
Der Angesprochene soll seinen Nächsten nicht hinhalten und vertrösten, sondern helfen, wenn er darum bittet. In unserem Text kommt zweimal der viel strapazierte Begriff des Nächsten vor, der auch im Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) begegnet: Es ist der Nachbar, derjenige, "der friedlich neben dir wohnt" (Spr 3,29), und der vorbeikommt und um etwas bittet. Letztlich geht es um die grundlegende Haltung des Wohlwollens und der Friedfertigkeit. Wer sich von Umsicht und Besonnenheit leiten lässt, der zettelt keinen unnötigen Streit an und bringt andere nicht ohne Grund vor Gericht:
27 Versag keine Wohltat dem, der sie braucht,
wenn es in der Macht deiner Hand steht, (sie) zu tun.
28 Sage nicht zu deinem Nächsten: "Geh und komm wieder,
morgen werde ich dir geben" – wenn es bei dir vorhanden ist.
29 Sinne gegen deinen Nächsten nichts Böses,
wo er doch friedlich ("sicher") neben dir wohnt.
30 Entfache ohne Grund keinen Streit mit einem Menschen,
wenn er dir nichts Böses getan hat.
"Aufgrund der Bildwelt von V. 27-29 erscheint vor dem geistigen Auge des Betrachters ein wohlhabender Mensch, der sich ethisch korrekt verhalten soll. Diesem Menschen mit Reichtum und Macht wird im Gebotsstil ein Verhalten eingeschärft, das auf JHWH ausgerichtet ist, aber auch den Mitmenschen im Blick hat. Gerade darin ähnelt der Text altorientalischen Weisheitslehren" (B. U. Schipper, ebd.).
Folge nicht dem "Mann der Gewalt"!
Gewalttätige sind oft erfolgreich; zumindest auf den ersten Blick und für eine gewisse Zeit. Von ihnen geht bisweilen eine eigenartige Faszination aus. Davon soll sich der Schüler nicht blenden lassen, denn der Erfolg der Gewalttätigen ist nicht von Dauer. Bereits in der ersten Lehrrede wurde der Schüler ermahnt, der Einladung derer, die sich mit Gewalt kostbare Güter aneignen wollen, nicht zu folgen (Spr 1,10-19). Das Buch der Sprichwörter hält daran fest, dass die gerechte Weltordnung von Gott aufrecht erhalten wird. Zwar mag es vorübergehende Störungen geben, doch davon soll sich der Schüler nicht verwirren lassen; sie haben keinen Bestand. Den Unterschied zwischen dem Frevler und dem Gerechten hebt Gott nicht auf. Einen göttlichen Segen für alle kennt die Bibel nicht:
31 Sei nicht eifersüchtig auf den Mann der Gewalt,
wähle keinen seiner Wege!
32 Denn ein Gräuel ist dem HERRN ein Verkehrter,
aber mit den Aufrichtigen hat er Gemeinschaft.
33 Der Fluch des HERRN ist im Haus des Frevlers,
die Wohnung der Gerechten aber segnet er.
34 Wenn es um Spötter geht, verspottet er,
aber den Demütigen erweist er Gunst.
35 Ehre werden die Weisen erben,
die Toren aber werden Schande auf sich laden.
Alles hängt mit allem zusammen. Gemäß der "konnektiven Gerechtigkeit" widerfährt dem Spötter genau das, was er anderen antut: Er wird selbst verspottet. JHWH ist derjenige, der den Zusammenhang von Tun und Ergehen aufrechterhält – im Guten wie im Bösen. Im Jakobusbrief (4,6), der stark vom alttestamentlichen Ethos geprägt ist, und im 1. Petrusbrief (5,5) wird Vers 34 in der Übersetzung der Septuaginta zitiert: "Gott tritt den Stolzen entgegen, den Demütigen schenkt er Gnade."