Selig der Mensch, der Weisheit gefundenDen Ruf der Weisheit hören – das Buch der Sprichwörter

Zwischen der dritten Lehrrede, in der es um das Vertrauen auf Gott, und der vierten Lehrrede, in der es um das rechte Verhalten zum Nächsten geht, findet sich ein Hymnus über die Weisheit. Genau genommen handelt es sich um eine Seligpreisung. Selig gepriesen wird "der Mensch, der Weisheit gefunden, der Mensch, der Einsicht gewonnen hat."

Aufgeschlagene Bibel
© Image by Daniel Allgyer from Pixabay

Nicht nur das Neue, auch das Alte Testament kennt Seligpreisungen. In beeindruckender Weise zeigt der Hymnus über die Weisheit (Spr 3,13–20), den wir heute betrachten wollen, dass es sich bei der Weisheit um eine Wirklichkeit handelt, die nicht von dieser Welt ist. Und doch wird deutlich, dass die Weisheit von leibhaftigen Menschen in dieser Welt gefunden und ergriffen werden kann. Wem das gelingt, der ist selig zu preisen:

13 Selig der Mensch, der Weisheit gefunden,
der Mensch, der Einsicht gewonnen hat.
14 Denn sie zu erwerben ist besser als Silber,
sie zu gewinnen ist besser als Gold.
15 Sie übertrifft alle Perlen an Wert,
all deine Kostbarkeiten kommen ihr nicht gleich.
16 Länge an Tagen birgt sie in ihrer Rechten,
in ihrer Linken Reichtum und Ehre.
17 Ihre Wege sind Wege der Anmut,
all ihre Pfade führen zum Glück (Schalom).
18 Ein Lebensbaum ist sie denen, die nach ihr greifen,
wer sie festhält, ist selig zu preisen.
19 Der HERR hat die Erde mit Weisheit gegründet,
den Himmel mit Einsicht gefestigt.
20 Durch sein Wissen brechen die tiefen Quellen hervor,
und träufeln die Wolken den Tau herab.

Wahres Leben

Eine eigenartige Spannung tritt uns im ersten Teil des Gedichtes entgegen (V. 13–18): Auf der einen Seite wird gesagt, dass die Weisheit alle irdischen Güter an Wert übertrifft. Sie ist wertvoller als Silber und Gold, sie übertrifft alle Perlen an Wert und "all deine Kostbarkeiten kommen ihr nicht gleich" (V. 14–15). Damit wird dem Schüler eindringlich nahegelegt, sich für das höchste Gut zu entscheiden, das alle anderen Güter übertrifft: die Weisheit. Auf der anderen Seite aber wird gesagt, dass der Schüler genau dann, wenn er die Weisheit allen irdischen Gütern vorzieht und wenn er sie findet, in den Besitz wertvoller Güter gelangt: langes Leben, Reichtum, Ehre und Wohlergehen (V. 16–18).

Wenn wir diese Verheißung in einem traditionellen christlichen Kontext zu verstehen suchen, denken wir wahrscheinlich unwillkürlich an das ewige Leben, das alle vergänglichen Güter übertrifft. Doch in unserem Text wie im gesamten Buch der Sprichwörter wird nicht mit dem ewigen Leben argumentiert. Überhaupt wird das ewige Leben im Alten Testament nur am Rande gestreift. Aus christlicher Sicht hat man darin einen Mangel gesehen: Das Alte Testament und das Judentum, so lautet eine verbreitete Ansicht, seien noch rein diesseitig eingestellt. Erst die Botschaft der Auferstehung und die Verheißung eines ewigen Lebens, wie sie im Zentrum des christlichen Glaubens stehen, haben diese Engführung überwunden.

Das Alte Testament interessiert sich kaum für das ewige Leben und die Unsterblichkeit der Seele. Das wahre Leben, so könnte man die Botschaft des Alten Testaments zusammenfassen, beginnt hier und jetzt und ist ein Leben in der Gemeinschaft mit Gott.

Mit dieser plakativen Gegenüberstellung macht man es sich zu einfach. Richtig ist, dass sich das Alte Testament kaum für das ewige Leben und die Unsterblichkeit der Seele interessiert. Gegenüber gestellt werden nicht das diesseitige, vergängliche und das jenseitige, ewige Leben, sondern das wahre und das falsche Leben. Das wahre Leben, so könnte man die Botschaft des Alten Testaments zusammenfassen, beginnt hier und jetzt und ist ein Leben in der Gemeinschaft mit Gott; und diese Gemeinschaft mit Gott, so sagen uns einige jüngere Texte des Alten Testaments, wird durch den physischen Tod nicht aufgekündigt: "Du leitest mich nach deinem Ratschluss, danach nimmst du mich auf in Herrlichkeit" (Ps 73,24).

Das wahre Leben, das in weiten Teilen der Heiligen Schrift als Gabe Gottes und als Folge eines gottgefälligen Lebenswandels verstanden wird, wird nun im Buch der Sprichwörter und in den übrigen weisheitlichen Büchern als Folge eines weisheitlichen Lebens verstanden, eines Lebens, das sich an der Weisheit orientiert. "Wer mich findet, findet Leben", sagt die Weisheit (Spr 8,35). Wer sie allen anderen Gütern vorzieht, wird reichlich beschenkt: "Länge an Tagen birgt sie in ihrer Rechten, in ihrer Linken Reichtum und Ehre. Ihre Wege sind Wege der Anmut, all ihre Pfade führen zum Glück (Schalom)" (V. 16–17).

Die Weisheit – eine Göttin?

Vor den Augen des Lesers entsteht das Bild einer Göttin, die in ihrer rechten und linken Hand wertvolle Gaben hält. Derartige Bilder gab es damals vor allem in der ägyptischen Religion. Auf Wandgemälden und in Reliefdarstellungen halten die Göttin Ma'at, die für die gerechte Weltordnung steht, aber auch andere Gottheiten wie beispielsweise die Göttin Isis in der rechten Hand das Lebenszeichen, das sogenannte Anchkreuz, und in der linken Hand das königliche Was-Zepter, das für allerlei wertvolle Gaben steht. Auch das Motiv des Lebensbaumes, mit dem die Weisheit in Vers 18 verglichen wird, reicht tief in die altorientalische Religionsgeschichte hinein: "Ein Lebensbaum ist sie denen, die nach ihr greifen, wer sie festhält, ist selig zu preisen." Gerahmt wird der erste Teil des Gedichtes, der ursprünglich einmal selbständig gewesen sein könnte, mit dem Wort "selig" (V. 13 und 18).

In diesem ersten Teil unseres Textes kommt JHWH nicht vor. Von Gott ist keine Rede, die Weisheit selbst nimmt göttliche Züge an, sie erscheint wie eine eigenständige personale Größe, ähnlich wie im berühmten 8. Kapitel des Buches der Sprichwörter, zu dem es zahlreiche Verbindungen gibt. Nimmt man die Anklänge an ägyptische und altorientalische Parallelen ernst, dann kann man durchaus sagen: Die Weisheit tritt hier wie eine Göttin auf. In einem später entstandenen Buch, dem Buch der Weisheit, wird sogar durchgehend davon gesprochen, dass die Weisheit aus allen Gefahren rettet, – wie es sonst nur JHWH tut: "Die Weisheit aber rettete ihre Diener aus jeglicher Mühsal" (Weish 10,9). Der Weisheit kommt, fachtheologisch gesprochen, eine soteriologische Funktion zu.

Von der Göttin zu einem göttlichen Medium

Vor diesem Hintergrund erwecken die folgenden Verse 19–20 den Eindruck einer Korrektur. Erscheint die Weisheit im ersten Teil des Liedes wie eine eigenständige Göttin, so wird sie nun zu einem Medium, durch das Gott Himmel und Erde geschaffen hat; sie ist Schöpfungsmittlerin, nicht eigenständige Göttin neben JHWH: "Der HERR hat durch Weisheit die Erde gegründet, den Himmel mit Einsicht befestigt" (V. 19). Subjekt des Handelns ist allein Gott.

Das Alte Testament ist in ständigem Austausch mit dem Weltbild polytheistischer Kulturen entstanden und hat vieles von ihnen übernommen, dabei aber auch tiefgreifende Korrekturen vorgenommen.

Im Alten Testament bewegt sich die Weisheit in einer eigenartigen Spannung zwischen einer selbständigen personalen Größe neben JHWH und einer JHWH untergeordneten Macht, durch die JHWH die Welt erschaffen hat und durch die er fortwährend in ihr handelt. Diese Spannung ist nicht aus philosophischer Spekulation entstanden, sondern Folge religionsgeschichtlicher Vorgaben. Die ältesten Formen menschlicher Weltwahrnehmung und Weltdeutung sind polytheistisch geprägt: Die vielfältigen Phänomene der Natur, der menschlichen Gesellschaft und der menschlichen Psyche werden als Ausdruck göttlicher Mächte angesehen, als Götter und Göttinnen; diese sind genealogisch miteinander verbunden und interagieren in wechselseitiger Abhängigkeit.

Das Alte Testament ist in ständigem Austausch mit dem Weltbild polytheistischer Kulturen entstanden und hat vieles von ihnen übernommen, dabei aber auch tiefgreifende Korrekturen vorgenommen. Die Weisheit, die in altorientalischen Traditionen als eigenständige Göttin verehrt wurde, wird in Israel in das eigene religiöse Symbolsystem integriert. Dies geschah am Ende so, dass der biblische Monotheismus gewahrt blieb.

Gott von Gott

Aus der hier skizzierten Spannung innerhalb der biblischen Weisheitstheologie lassen sich auch wesentliche Aspekte der großen christologischen Auseinandersetzungen in den ersten Jahrhunderten des Christentums verstehen. Vom Presbyter Arius wurde Christus als Gottes vornehmstes Geschöpf angesehen; damit wollte der alexandrinische Theologe den biblischen Monotheismus wahren. Viele Bischöfe sind ihm darin gefolgt. Wird jedoch, wie es die Großkirche vor allem dank des leidenschaftlichen Engagements des alexandrinischen Bischofs Athanasius getan hat, Christus als "wahrer Gott" verehrt und angebetet, dann könnte der Eindruck entstehen, der christliche Glaube sei ein Rückfall in den antiken Polytheismus.

Tatsächlich haben einige Richtungen des Judentums und der Islam diesen Vorwurf erhoben. Um dem entgegenzutreten, hat die Kirche immer daran festgehalten, dass Jesus zwar "Gott von Gott", jedoch kein zweiter Gott ist. Religionsgeschichtlich gesehen wird in der orthodoxen Christologie die aus der Lehre von der präexistenten Weisheit resultierende Spannung sogar noch erhöht: Einerseits rückt Christus als eigenständige göttliche Person – religionsgeschichtlich im Lichte der Weisheitstheologie gesehen – in die Rolle der (altorientalischen) "Göttin", anderseits wird aber die Nähe zu Gott so sehr betont ("eines Wesens mit dem Vater"), dass von einer Göttin neben Gott nicht die Rede sein kann, sondern der biblische Monotheismus gewahrt und offenbarungstheologisch vertieft wird, wenn die Kirche von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, bekennt: "Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater, durch ihn ist alles geschaffen".

Tritt in der Christologie die Theologie des Königtums in den Vordergrund ("Sohn Gottes"), so in der Pneumatologie, der Lehre vom Heiligen Geist, die Theologie der Weisheit: "Der Geist der HERRN ruht auf ihm, der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN" (Jes 11,2).

COMMUNIO Hefte

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt gratis testen