"Höre, mein Sohn, auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr deines Herzens, nimm den Zuspruch des gütigen Vaters willig an und erfülle ihn durch die Tat! So kehrst du durch die Mühe des Gehorsams zu dem zurück, den du durch die Trägheit des Ungehorsams verlassen hast." – Mit diesen Worten beginnt einer der wirkmächtigsten Texte der geistigen Tradition des Abendlandes: die Regel des heiligen Benedikt. Mit der Aufforderung zum Hören holt der heilige Benedikt, der ein Jünger des Himmelreiches geworden ist, aus dem reichen Schatz der Heiligen Schrift Neues und Altes hervor. Unüberhörbar ist die Anspielung an das Glaubensbekenntnis Israels, das auch Jesus als das erste und wichtigste Gebot zitiert: "Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig" (Dtn 6,4).
Doch stärker noch sind die Anklänge an ein Buch des Alten Testaments, das in Theologie und Kirche sowie im allgemeinen Bewusstsein des gläubigen Volkes nur wenig bekannt ist: das Buch der Sprichwörter. In seinem Hauptteil beginnt es mit den Worten: "Höre, mein Sohn, auf die Mahnung des Vaters und die Unterweisung deiner Mutter verwirf nicht!" (Spr 1,8). In mehrfach wiederkehrenden Wiederholungen wird der Sohn aufgerufen, zu hören und zu lernen, sich "Weisheit (sophia / sapientia) und Bildung (paideia / disciplina)" anzueignen sowie die damit verbundenen sittlichen Ansprüche in die Tat umzusetzen: "Mein Sohn, achte auf meine Worte, neige dein Ohr meiner Rede zu!" (Spr 4,20).
Wer den Ruf der Weisheit hört und ihm Folge leistet, "der wird wohnen in Sicherheit, kein böser Schrecken stört ihn auf" (Spr 1,33)
Die Weisheit ruft
Bereits im ersten Teil des Buches erhebt die Weisheit selbst ihre Stimme. In aller Öffentlichkeit, "auf der Straße und auf den Plätzen" (Spr 1,20), ruft sie zur Umkehr auf. Dabei geht es zunächst nicht, wie man bei einem biblischen Buch meinen könnte, um das sittlich gute Tun, sondern um den "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (I. Kant): "Wie lange noch, ihr Törichten, liebt ihr die Torheit, gefällt den Zuchtlosen ihr dreistes Gerede, hassen die Toren Erkenntnis?" (Spr 1,22). Aus der Erkenntnis dessen, was ist, folgt ein Wissen um das, was sein soll und was zu tun ist, nicht umgekehrt. Die Reihenfolge erinnert an das Konzept der vier Kardinaltugenden, von denen die erste die Klugheit ist. Sie ist, so schreibt der Philosoph Josef Pieper, "Ursache, Wurzel, 'Gebärerin', Maß, Richtschnur, Lenkerin und Formgrund aller sittlichen Tugenden. […] Gutes tun kann nur, wer weiß, wie die Dinge sind und liegen" (Das Viergespann, München 1964, 21.23). Ein in diesem Sinne Wissender findet "Gerechtigkeit, Rechtssinn und Redlichkeit" (Spr 1,3) und er folgt dem Ruf der Weisheit, die da sagt: "Wahrheit spricht meine Zunge. Unrechtes ist meinen Lippen ein Gräuel" (Spr 8,7).
Wer den Ruf der Weisheit hört und ihm Folge leistet, "der wird wohnen in Sicherheit, kein böser Schrecken stört ihn auf" (Spr 1,33). Das ist die Verheißung, die dem Erziehungs- und Bildungskonzept des Buches der Sprichwörter zugrunde liegt. Auch hier gilt es, den Grund und dessen Folge nicht zu verwechseln. An erster Stelle steht die Wahrheit, nur sie macht frei und glücklich:
"Selig der Mensch, der Weisheit gefunden, der Mensch, der Einsicht gewonnen hat. Denn sie zu erwerben ist besser als Silber, sie zu gewinnen ist besser als Gold. […] Langes Leben birgt sie in ihrer Rechten, in ihrer Linken Reichtum und Ehre. Ihre Wege sind Wege des Glücks, ihre Pfade führen zum Wohlergehen. Ein Lebensbaum ist sie denen, die nach ihr greifen, wer sie festhält, ist glücklich zu preisen" (Spr 3,13).
In dieser Reihenfolge ist das Buch der Sprichwörter ein Wegweiser zum wahren Glück.
Philosophie der praktischen Vernunft
Das Buch wird zur alttestamentlichen Weisheitsliteratur gerechnet; dazu gehören ferner die Bücher Ijob und Kohelet – und im erweiterten Kanon der Septuaginta – die Bücher Jesus Sirach und das Buch der Weisheit (Salomos). Im Unterschied zu den Büchern der Tora, der Geschichte und der Prophetie geht es in den Büchern der Weisheit nicht in erster Linie um die Offenbarung Gottes in der Geschichte seines Volkes, nicht um die außergewöhnlichen Ereignisse, die Wunder und machtvollen Taten, in denen sich Gott seinem Volk geoffenbart hat – wie etwa bei der Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens. Nicht darum geht es im Buch der Sprichwörter, sondern um die gewöhnlichen und natürlichen Abläufe des alltäglichen Lebens. Ihnen liegt eine Ordnung zugrunde, die es zu erkennen gilt und aus der für das Handeln die richtigen Schlüsse zu ziehen sind. In ihrer ältesten Form verdankt sich die weisheitliche Lehre nicht göttlicher Offenbarung, sondern menschlicher Erkenntnis. Sie erwächst aus der sorgfältigen Beobachtung der Natur und des gesellschaftlichen Lebens:
"Am Acker eines Faulen ging ich vorüber, am Weinberg eines unverständigen Menschen […] Ich sah es und machte mir meine Gedanken, ich betrachtete es und zog die Lehre daraus […] (Spr 24,30–34).
Die "Wahrheit der Dinge" (Josef Pieper) mit unverstelltem Blick zu betrachten und daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, darum geht es im Buch der Sprichwörter. Nicht eine vom Leben abgesonderte spekulative Weisheit, sondern eine auf die rechte Lebensführung hin ausgerichtete Klugheit (Spr 8,1), die gleichwohl weiß, dass der Maßstab ihrer Entscheidungen nicht dem eigenen Willen entspringt, sondern ihr aus der Haltung des Hörens erwächst, soll den Schülern in einem mehrstufigen Erziehungs- und Bildungsprozess vermittelt werden. In diesem Sinne kann das Buch der Sprichwörter als eine "Philosophie der praktischen Vernunft" verstanden werden.
Eine Weisheit ohne Gott?
Da die Offenbarung des Gottes Israels im Buch der Sprichwörter so gut wie keine Rolle spielt, haben einige Exegeten die Ansicht geäußert, die alttestamentliche Weisheit sei ein Fremdkörper innerhalb der Heiligen Schrift. Untermauert wurde diese These mit dem Hinweis, dass es zwischen dem Buch der Sprichwörter und der altorientalischen Weisheit bis in den Wortlaut hinein Übereinstimmungen gibt. Damit steht die Frage im Raum, wie das Verhältnis von göttlicher Offenbarungswahrheit und weltlicher Wahrheit zu bestimmen ist. Stehen sie in Konkurrenz zueinander oder schließen sie einander aus, wie die Religionskritik des 19. Jahrhunderts in Folge der beeindruckenden Erkenntnisse der Naturwissenschaften behauptet hat? Das Buch der Sprichwörter sieht zwischen den beiden Wahrheiten keinen Gegensatz, sondern ordnet sie einander zu.
Das Buch der Sprichwörter ist kein Buch über die Gottesfurcht, sondern ein Buch, das seinen Adressaten, sowohl den Anfängern als auch den Fortgeschrittenen, einen Zugang zur natürlichen Erkenntnis der Wirklichkeit erschließen und in ihnen die Bereitschaft wecken will, sich von der "Wahrheit der Dinge" ansprechen und auf einen Weg des Nachdenkens führen zu lassen.
Dabei lässt sich eine zweifache Bewegung erkennen, die im Sinne eines hermeneutischen Zirkels zu verstehen ist. Auf der einen Seite gilt: Wer den Weg der Weisheit geht, wird auch zur Erkenntnis Gottes finden: "Mein Sohn, wenn du nach Erkenntnis rufst, mit lauter Stimme um Einsicht bittest, wenn du sie suchst wie Silber, nach ihr forschst wie nach Schätzen, dann wirst du die Furcht des HERRN begreifen und Gotteserkenntnis finden" (Spr 2,1–5). Auf der anderen Seite steht die Gottesfurcht am Anfang der Erkenntnis: "Die Furcht des HERRN ist Anfang der Erkenntnis (principium scientiae), nur Toren verachten Weisheit und Bildung" (Spr 1,7). Man wird diese Spannung wohl so zu deuten haben, dass die irdischen Wirklichkeiten und deren Erkenntnisse keine absolute, sondern eine relative Autonomie beanspruchen dürfen. Sie weisen eine Eigenständigkeit auf, deren innere Logik auf die Frage nach Gott verweist. In diesem Sinne vertritt das Buch der Sprichwörter eine natürliche Theologie – formal durchaus vergleichbar mit der religiösen Grundierung, die auch den Weisheitsschriften der benachbarten altorientalischen Kulturen zugrunde liegt.
In der zeitlichen Abfolge der weisheitlichen Bücher des Alten Testaments lässt sich ein Prozess der Theologisierung der Weisheit beobachten. Wird das Motiv der Gottesfurcht im Prolog des Buches der Sprichwörter nur kurz eingespielt (1,7) und im weiteren Verlauf nur noch wenige Male erwähnt (9,10; 15,33), so wird es im zeitlich später entstandenen Buch Jesus Sirach in der programmatischen Einleitung geradezu eingehämmert: "Die Furcht des Herrn ist Ehre und Ruhm, Fröhlichkeit und eine Freudenkrone. Die Furcht des Herrn wird das Herz erfreuen und Frohsinn, Freude und langes Leben geben. Die Furcht des Herrn ist eine Gabe des Herrn" usw. (Sir 1,11ff). Hier kann man in der Tat fragen, ob das Buch Jesus Sirach nicht mehr eine Abhandlung über die Gottesfurcht, denn eine solche über die Weisheit sei.
Das Buch der Sprichwörter jedenfalls ist kein Buch über die Gottesfurcht, sondern ein Buch, das seinen Adressaten, sowohl den Anfängern als auch den Fortgeschrittenen, einen Zugang zur natürlichen Erkenntnis der Wirklichkeit erschließen und in ihnen die Bereitschaft wecken will, sich von der "Wahrheit der Dinge" ansprechen und auf einen Weg des Nachdenkens führen zu lassen. Das schließt die Frage nach Gott nicht aus, sondern ein.
Vor der Schöpfung und in der Schöpfung
Da Gott "die Erde in Weisheit gegründet und mit Einsicht den Himmel befestigt hat" (Spr 3,19), ist die Weisheit sowohl in der Schöpfung bei den Menschen als auch vor der Schöpfung bei Gott: Sie ist präexistent, sie ist immanent und transzendent zugleich. Kein Wunder, dass der Apostel Paulus sie mit Christus, "Gottes Kraft und Gottes Weisheit", identifiziert (1 Kor 1,24). Auch er war in der Welt und hat auf den "Straßen und Plätzen" seine Stimme erhoben, doch er war nicht von der Welt. Was von der Weisheit gilt, gilt auch von ihm:
"Als die Urmeere noch nicht waren, wurde ich geboren, als es die Quellen noch nicht gab, die wasserreichen. Ehe die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren … und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein" (Spr 8,24–31; vgl. Joh 1,1–18; 8,58; Kol 1,15).
Von Christus, der inkarnierten Weisheit Gottes, gilt: "Wer mich findet, findet Leben" (Spr 8,35; vgl. Joh 3,15; 10,10; 14,6) und: "Selig der Mensch, der auf mich hört" (Spr 8,34; vgl. Mk 9,7; Joh 10,3–5).