Tanzmusik und Narrenspiel200 Jahre Johann Strauss (Sohn)

Als «unkünstlerisch» abgetan, zugleich als erster Popstar gefeiert, vom Nationalsozialismus vereinnahmt und bis heute im Neujahrskonzert verklärt. Wo kommerzieller Reflex endete und musikalischer Glanz begann – ununterscheidbar. Und doch, vielleicht liegt dahinter eine größere Offenheit.

Johann Strauss (Sohn)
Johann Strauss (Sohn) © gemeinfrei/Wikimedia Commons

I.

Es ist ein ganz einfaches Motiv, ein Bruchstück einer Melodie, eine Figur von anderthalb Takten; ein aufsteigender D-Dur Dreiklang birgt Strauss oder eigentlich Wien – in seiner merkwürdigen Bedeutung als «ein Citat, ein Schlagwort für Alles, was es Schönes, Liebes und Lustiges in Wien gibt».1 Die Melodie liegt in der Introduktion noch in A-Dur hinter dem weitgespannten Klang der flimmernden Streicher verborgen, der wie ein «Vorhang vor dem Mysterium ihres Entstehens» hängt, «heimlich raunend, luftig und duftgetränkt».2 Im Tempo di Valse löst sich das Thema vom 6/8-Takt und das fast kosmische Idyll, der Sphärenklang wird durch ein ruppiges Staccato, das über dem unbeweglich verharrenden Dominantton a liegt, unterbrochen. Statt de jetzt erwarteten Walzer, wird dieses Staccato-Anklopfen dreimal leise befragt, schließlich ein sechstaktiger Einwurf absteigender Achtelnoten und noch leiser über drei Takte gezogen die Töne a, g, e, denen eine durch eine Fermate gekennzeichnete Generalpause vor dem D-Dur-Dreiklang des ersten Walzers folgt.3 Eine Stille. Und dann wieder das erste Motiv, in einer Klangfarbe von erst mattem Silber, ein Drängen, ein Wogen, ein Aufbruch. Der Strom der drei aufsteigenden Töne entgleitet aber nicht. Die Donau, die Strauss zeichnet, ist kein reißender Fluss.

Und doch nicht eingeengt; die Tanzmusik Strauss’ ist «das Prickeln und Jucken, der Teufel in den Beinen. Man geht leichter, man plaudert rascher, das Blut circulirt lebhafter, wenn Johann Strauß spielt […]; schweigt er, dann ist Wien todt.»4 Die Walzer, Polkas und Quadrillen treiben, fordern zum Tanz. Sie entladen sich in einer Fülle an «dionysischer, idyllischer, verbuhlter, keuscher, weltmännischer, unschuldiger, spöttischer, wirbelnder, weitbogiger, wehmütiger, schwelgerischer, erotischer, immer sinnlicher, nie lüsterner, immer wienerischer, niemals ‹weanerischer›»5 Themata. Die Entscheidung zum einen Thema, zur einen Deutung hin, bleibt derweil immer Illusion. Statt sich zu verdichten, fließt die Ideenfülle über in die nächste Melodie, das Genialische verweilt nie. Die Tanzheiterkeit bleibt letztgültig offen. Den sich neu ums Neu fügenden Melodien fehlt die höhere Führung. «Die kurzatmigen Melodien von acht zu acht Takten, aus denen gar nichts, auch nicht der leiseste Versuch einer Verarbeitung gemacht ist, können als, ‹Kompositionen› doch überhaupt nicht zählen», sagt Gustav Mahler. «Kunst kann man das nicht nennen.»6

II.

So bleibt – folgt man Mahler – eine kompositorische Unvollendung und statt Kunst ‹Unterhaltung› zurück. Gerade diese Unvollendung – neben der unbestreitbaren Ideenfülle – ist Ausgangspunkt aller Einordnung Johann Strauss’. Freilich in ganz unterschiedlicher Richtung, aber über den Weg der ‹leichten Musik›, die eben nicht zur vollen Kunst reift. Positiv bedeutet diese ‹Unkunst›, diese ‹leichte Musik› eine Zugänglichkeit, die Strauss zum ersten ‹Schlagerstar›7 macht, was auch heute genügt ihn dafür in das Glanzlicht zu rücken – der Zirkel des Erfolgs: «Die Bekanntheit des Schlagers setzt sich an Stelle des ihm zugesprochenen Wertes» (freilich bedeutet dies auch das ‹Leichte› dem ‹Schweren› gleich-, die Kunstfrage neu zu stellen).8 Negativ verstanden werden aus den eingängigen Melodien, den markanten Klangfarben und wiederkehrenden Rhythmen Mittel einer im 19. Jahrhundert (und gerade um Strauss) aufbrechenden Kulturindustrie (die keine ‹Kunst› ist). Und keiner vermochte diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so zu bedienen wie Strauss. So schreibt seine erste Frau Jetty von der Pariser Weltausstellung 1867 («Weltausstellungen sind die Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware»9) heim nach Wien: «es hat niemand ähnlichen Succès […] gehabt seit Jahren u. Jahren, es ist ein Fieber, ein kolossales Glück.»10 Ein Glück, mit dem es Strauss – im Zirkel des Erfolges – zwar gelang, die Tanzmusik (als Kunstmusik!) in die Konzertsäle zu führen, aber es zeigt sich biographisch: Strauss war erwerbshalber Komponist und höchstens in einem zweiten Sinn Künstler. Die Auftragswerke, die Tourneen – von Russlandaufenthalten bis nach Amerika –, das kurzzeitige Monopol der Strauss-Kapellen auf die Wiener Ballmusik, die Operetten waren ökonomische Erfolge.11 Vermarktungsstrategien, bezahlte Kritiken verschlungen mit dem «musikalischsten Schädel»;12 ununterscheidbar, wo kommerzieller Reflex aufhörte, und musikalischer Glanz begann. In dieser Deutung offenbaren sich die kompositorischen Anhäufungen immer neuer Melodien über gleichem Rhythmus und Aufbau als musikalischer Ausdruck des aufbrechenden Kapitalismus – man übersetzt Walter Benjamins Passagenwerk von Paris (hier Offenbach) nach Wien (dort Strauss) –: «Das Neue ist eine vom Gebrauchswert der Ware unabhängige Qualität. Es ist der Ursprung des Scheins, der den Bildern unveräußerlich ist, die das kollektive Unbewußte hervorbringt. Es ist die Quintessenz des falschen Bewußtseins, dessen nimmermüde Agentin die Mode ist. […] Die Kunst, die an ihrer Aufgabe zu zweifeln beginnt und aufhört ‹inséparable de l’utilité› zu sein (Baudelaire), muß das Neue zu ihrem obersten Wert machen.»13 Das Neue ist dann eben auch der Mode anpassbar, hier ein Marsch für die Revolution (op. 54), da ein Walzer für den Kaiser (op. 437) – alles in standardisierter Formensprache: Warencharakter der Tanzmusik. Potpourris und Zitationen – aus ihrem Kontext gerissen, nur noch zur Wiedererkennung dienlich – versinnbildlichen die sinnlose Tauschware.

Eine positive Deutung sorgt sich nicht um solche Komplikationen, werden diese doch zum Grund der Verehrung – Popularität und Massentauglichkeit zum Argument.14 Und doch kommen die meisten Interpretationen überein, indem die Musik bloß noch als Hintergrund (sei es des Erfolgs oder des Kapitals) wahrgenommen wird – oder sie zumindest soweit in den Hintergrund verschoben wird, dass ein eigener Sinn der Musik Strauss’ unter den Tisch fällt. Hat sie überhaupt einen?

III.

Die Musik kennt eine Richtung: den Tanz, die Überwältigung, die Ekstase. Die Schnellpolken: ein unaufhaltsames Spiel aus Tempo, das sich immer weiter steigert, ohne abzuebben oder nachzulassen, im Galopp, immer im Galopp!, vom Wein trunken, zweifellos, tanzwütig. Hier beginnt Strauss «jene Lyra, welche das wundervolle Reich des Unendlichen aufschließt, anzuschlagen»,15 hier zeigt sich «das dämonische Spiel mit den Ausnahmezuständen der Seele»,16 hier reiht sich Strauss in die Romantik ein. Aber schon geben sich Zeichen der Müdigkeit und Erschöpfung zu erkennen, die zum Heimgang läuten: «Die Geistigkeit des Walzers hat die Dauer einer Ballnacht.»17 Alle Auflösung, alles Empfinden bleibt unfertig; die Grenzen des Sprachlichen («wo die Musik anfängt») werden überschritten, aber nur soweit, dass noch das nüchtern-trockene Ufer des Erklärbaren sichtbar bleibt.

Sicherlich, Strauss ist ein Kind der Romantik, doch gewissermaßen außerhalb von ihr, denn neben seinen zeitgenössischen – freundschaftlich gesinnten (!) – Inkommensurablen, den Riesen der Romantik (Brahms, Bruckner, Wagner) bleibt er verständlich, ein Zwerg. Deutlich wird der Gegensatz, wenn man Nietzsches Wagner-Kritik umkehrt: «Die Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, […] kann man sich dadurch klar machen, daß man ins Meer geht, allmählich den sicheren Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem Elemente auf Gnade und Ungnade übergibt: man soll schwimmen. In der älteren Musik mußte man, im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wider, Schneller und Langsamer, etwas ganz anderes, nämlich tanzen18 Hierbei bleibt Strauss. Gehen und Tanzen statt Schwimmen und Schweben. Die Strauss’schen Melodien erschüttern keine Gebeine, «trägt doch der Tänzer sein Ohr – in seinen Zehn.»19

Doch sowenig Strauss sich für die Tiefen der Romantik entscheidet, entwirft er – «der Vorstadtmusikant» neben den «großen Meistern»20 – ein Gegenbild. Die weiterentwickelte Walzermelodie bleibt Illusion, weil die Musik unvollendet bleibt; bevor die Bodenhaftung verloren wird, leitet der Walzer zum nächsten über. Textlich verstärkt findet das seinen passenden, wenn auch notwendig schlechteren, weil in zeitgebundener Komik verharrenden Ausdruck in den Libretti seiner Operettenzeit; Lustspiele: «Auf der Bühne geschieht zwar viel, aber es passiert nichts.»21 In der Fledermaus wird alle Intrige im Champagner ertränkt, in Eine Nacht in Venedig und Wiener Blut führt das Treiben um ersehnte oder ins Leere laufende Rendezvous in einem Höhepunkt allen Figuren des Spiels jenen Partner zu, den sie entweder nie ganz verloren hatten oder dessen Nähe sie, trotz aller Umwege, insgeheim stets gesucht hatten. Scheinbare Verwirrung, harmlose Verführung – und am Ende die Rückkehr zur «Ordnung», die der Zuschauer als ‹Eingeweihter› hinter die Masken der Verwechslungskomödie immer schon erwartet.22 Die Erlösung geschieht durch Grazie und Lachen, nicht durch Pathos und Tragik.

Damit scheinen Deutungshorizonte auf. Denn das Lustspiel der Operetten setzt Strauss’ Musik in die Tradition des Altwiener Volkstheaters von Stranitzky bis Nestroy und zieht so eine Trennlinie zu einer Romantik des einsamen Helden (Hanswurst statt byronic hero). Die Überhöhung der Schwermut weicht der Lust am Spiel, ohne diesem einen Wert an sich zuzumessen. Genauso wenig wie die Walzer und Quadrillen zu einer langfristigen Aussage kommen, nimmt das Spiel die ironische (Schutz-)Hülle ab. Es ist dabei aber keineswegs inhaltslos. Der in der ironischen Distanz liegende Vorbehalt sichert eine Offenheit, die die Totalität des romantischen Künstlers, neigt sie doch zu einer immanenten Selbstverklärung der Welt, untergräbt.

Darin liegt ein Sinn: Das bedeutungslose, ‹nichtige› Spiel löst die Welt von ihrer Selbstdeutung. Die Lösung der dramatischen Konfliktsituation vollzieht sich nicht in einer Katharsis, sondern erklärt sich aus der Nichtigkeit des Geschehens; das bedeutet eine Nichtdifferenzierung der Welt: Was geschah, ist nebensächlich, und kann darum ‹vergessen› werden. Musikalisch und entlang der Libretti verdichtet sich so eine ‹Philosophie des Walzers›, die über die Selbstüberschätzung der Welt hinwegtanzt. Der Strauss-Biograph Ernst Decsey beschreibt diese anhand der Walzertitel: Man lebt nur einmal (op. 167) und Heut’ ist heut’ (op. 471). In der Operette heißt es: «Stoss an, benütz den Augenblick, / Stoss an, geniess das Erdenglück!»

Diese betonte Vergänglichkeit, die eine ‹Nichtigkeit› des Weltgeschehens anzeigt, führt dabei nicht in den Nihilismus. Sie ist ganz barock: «Laß’ ich schon nicht viel zu erben / Ey so hab ich edlen Wein;/ Wil mit andern lustig seyn / Wann ich gleich allein muß sterben.»23 Allein dahinter tut sich keine Auferstehung auf. Die letzte Deutung, das Wort bleibt unausgesprochen. Und doch kommt es zu einer Aussage, evoziert die Nichtigkeit der Welt eine Konfrontation mit einem über der Welt hinaus liegendem Transzendenten. Die Nichtigkeit nämlich kann die Welt nur «durch den Vergleich mit einem Pol treffen, der sie über sich selbst hinausführt, sie aus dem Gleichgewicht und aus der Fassung bringt. ‹Auch wir können tatsächlich und mit guten Gründen sagen, dass an sich der Himmel, die Erde, das Meer und alle übrigen Dinge […] sind; aber all dies einmal mit Gott verglichen, sind sie wie nichts […] Nichtigkeit der Nichtigkeiten, alles: Nichtigkeit.›»24 Der Vorbehalt der Sinnfülle wird so transzendental offen. «Die Nichtigkeit […] hat keine andere Funktion […] als diese indifferente Differenz deutlich zu machen.»25 Von hier ist der Wiener Walzer auch ein Stück Totentanz, das wienerische Lustspiel ein Stück weit Welttheater. Die Nichtigkeit wird dabei nicht theologisch überwunden; sie bildet den immer neuen Ausgangspunkt, der auf das Gnadenhandeln zeigt, in dem man sich das Wort nur sagen lassen kann, weil allein «Gott […] recht von Gott [spricht]».26

Es sind Auslassungen, die dieser These entgegenstehen: Das Metatheater bleibt aus, die Welt stellt sich nicht vor und auch die Spielvorgabe «Handle gut, denn Gott ist Gott» fehlt. Flüchtigkeit, Äußerlichkeit und Fremdbestimmtheit äußern sich im Gesamt des Spiels, nicht in einer inhärenten Reflexion. Die Sinndimension wird nicht nur im Spiel, sondern auch in seiner Metareflexion offengelassen; «Die Fallen eurer Vernunft werden uns nicht fangen können»27 – Strauss entzieht sich den Deutungen «unter Donner und Blitz» (Schnellpolka, op. 324).

IV.

Entzieht sich Strauss damit auch dem Sinn? Wird hier mittels einer Sinnkonstruktion nur «Stumpfsinn […] scharfsinnig bedacht»?28 Ja, Strauss selbst geht nie diesen Schritt über seine Welt hinaus. Die Bühne, die er bespielt (und spielen lässt), nimmt ihre Deutung nicht vorweg – sie lässt Raum für die (zeitliche) Berufung, aber genauso wenig kennt sie ihre (ewige) Erwählung. Es ist keine theologische Bühne. Und doch zeigt sich von den Operetten her eine in ihrer dramatischen Gestalt christliche Einsicht, die nicht einfach als nebensächlich vernachlässigt werden kann: Sie sind von Narren bevölkerte Komödien. Die Theaterfigur des Narren verbindet so die Operette mit der Commedia dell’arte und ihren Nachfolgern (Frosch als Zanni, Zsupán als Pantalone, Caramello als Arlecchino) – sie erbt auch einen Teil ihrer Sinnausrichtung, die sich an der Konfrontation des Christentums mit den tragischen Helden zeigt: «Der klassische Held ohne seine Götter kann noch ‹schön› sein, herrlich ist er nicht mehr und wirkt bald langweilig. Den echten Toren aber umwittert ein Glanz von unbewußter, ungewollter Heiligkeit. Er ist der ungeschützte, der nach oben offene, seinshaft transzendierende Mensch.»29 Andererseits ist der Narr nur selten der Heilige. Insofern entwirft er auch kein Gegenprogramm, keinen neuen Weltschlüssel. Er kann allein auf den Gegenpol deuten. So ist’s in der Fledermaus der allein unmaskiert betrunkene Frosch, der ehrlicher als die maskierten «Ehrenhaften», gerade weil er kein Ideal vertritt, sondern die Ordnung lächerlich macht, zeigt, wie willkürlich und porös diese ist. Dadurch bleibt er – und mit ihm das Spiel – offen über die «Menagerie da draußen» hinaus.

Eine solche Dramentheorie lässt sich nur schwer auf die Musik übertragen (ein guter Frosch ist Girardi oder Hans Moser, nicht Johann Strauss). Und doch zeigt sich eine Parallele im Vorbehalt des ‹Gewöhnlichen› gegenüber der Selbstgerechtigkeit der ‹Besonderen› – so steht die Tanzmusik gegenüber der Absoluten Musik oder dem Gesamtkunstwerk. Und wie der Vorbehalt des Narren vermag sie über sich hinaus zu deuten, denn gerade das zum Tanzen «nötige Maß, das Einhalten bestimmter gleich wiegender Zeit- und Kraftgrade, erzw[ingt] von der Seele des Hörers eine fortwährende Besonnenheit.»30Gewiss ist die von der Tanzmusik erwirkte Transzendenzoffenheit eine immanente und darum unvollständige (die Tanzmusik ist dem Narren näher als dem Heiligen). Dass sie das totale Wagnis nicht ergreift, macht sie hinfällig und vergänglich. Und doch entgeht sie nur so «jeder Gefahr von Purismus und Absonderung, die zumal in den letzten Zeiten der ‹Metaphysik der Heiligen› die Anwärter dieses Standes von der Existenz der gewöhnlichen Sterblichen schied»,31 indem sie nicht über die Welt hinaustritt, weil sie den offenen Himmel zwar sieht, aber nicht erklimmt – und sich stattdessen (das ist die zweite Funktion des Narren) unter die Menschen als Mensch begibt: «Wenn der Mensch […] aus der überirdischen Welt auf die irdische herunterschaut: so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen, wie der Humor tut, die unendliche ausmisset und verknüpft: so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist.»32 Deshalb muss selbst die Deutung der Werke – als Narrenspiel oder transzendenzoffen – außerhalb ihrer selbst liegen, weil Strauss bis zuletzt im Narrenspiel agiert,33 und eben darum keine «abgesonderte Welt für sich selbst»34 zu schaffen vermag.

Das mag zunächst die Operetten verflachen, denn zu ihrem Parameter wird das Lachen statt der Moral: «[I]hr [solltet] die Heiterkeit nicht im Antlitz des Weisen suchen; das Lachen, nun ja, das findet ihr auf dem des Narren.»35 Dabei ist das Lachen nicht bisslos. So zeigt sich im ewigen Happy End von Strauss’ Bühnenwerken die Konsequenz «in immer neuen Formen von Provokationen als Narr die Narrheit der Welt dadurch aufzudecken, daß man ihr überall gegen den Strich redet und handelt.»36 Gerade die Dreistigkeit, der Einfachheit der Lösung fordert den Blick des Zuschauers über die Bühne hinaus. Geschieht dieser, dann eröffnet sich für den Betrachter eine menippeische Dimension: die Schau von oben (Kataskopie), von der allein aus die Versöhnung zur naheliegenden Lösung wird. Die sowieso schon (in ihrer Belanglosigkeit) aufgeweichten Tragödien und Heldentaten auf Erden werden vom Himmel aus zum «buntscheckigen und planlosen Schauspiel»37 – offen für einen Gegenpol.

Aber ist die Operette nicht genauso die kritikunfähige «ironische Utopie einer dauernden Herrschaft des Kapitals»?38 Die Rezeptionsabhängigkeit ist die Konsequenz der Nichtung, des strauss’schen Tanzes mit der gesellschaftlichen Fassade.39 «Das Absurde hat, wie der methodische Zweifel, Tabula rasa gemacht. Es läßt uns in der Sackgasse zurück.»40 Der Ausweg aus der Sackgasse liegt in der externen Rezeption durch das Publikum, das den strauss’schen Sinnabbruch abbricht, den Ausweg – die indifferente Liebelei – als Liebe anerkennt. In diesem Sieg der Liebe zeigt sich die metaphysische Offenheit der Tanzmusik. Das Happy End gewinnt von hier keine ironische Dimension im Sinne zynischer Skepsis, sondern in ironischer Rückschau mit im eigentlichsten Sinne doxologischer Hoffnung.

V.

Sicherlich liegt das schon außerhalb des von Strauss Geschaffenen – und wohl auch Gedachten – und doch liegt vielleicht gerade hierin der (schon brüchige) Entscheid zur Tanzmusik als einem der «unendlichen Zugänge und Einstiege» zu Gottes Wahrheit im Gegensatz zu den großen Musikprogrammen des 19. Jahrhunderts: «Der Herr kennt die Gedanken der Weisen und sie sind nichtig.» (1 Kor 3, 20). Die Größe von Strauss’ Musik liegt in ihrem Vorbehalt gegenüber der Welt, ihrer Offenheit, von wo aus sie, «die im Boden wurzel[t]» – im glücklichsten Fall –, «dem Himmel zustrebt».41

Gleichzeitig zeigt die Erde, aus der die Musik stammt, – in ihren groben und feinen Bestandteilen, die dem Sieb der Geschichte gegenüberstehen – ihre Vergänglichkeit an. Dass das meiste aus dem Rezeptionszyklus fällt, hat seinen genuinen Grund in der Eigenheit der Tanzmusik als solcher, weil sie sich ihrer Zeit verschreibt. So ist (oder besser: war) etwa die Derbheit und Obszönität der Operetten eine Alltägliche und damit heute ‹Gestrige› – ja im strengsten Sinn: Der Effekt folgt nicht dem Regeldrama, sondern ist ganz den Schauspielern zugewiesen. Darin liegt wohl auch ein Kern des heute dominanten Operettenunsinns und Kitschs, weil die Stücke nicht mehr verständlich sind. Das Stegreif-Spiel (Extemporieren) ist heute hinter den zensierten Texten nicht mehr fassbar und wird kaum durch Aktualisierungen eingeholt; die Rollen der Strauss-Operetten aber waren auf Marie Geistinger und Alexander Girard zugeschnitten.42 Um wie viel ist die Fledermaus abhängiger von einem zeitübersetzten Frosch, als die Zauberflöte von einem Papageno?

Sicherlich gibt es Strauss-Werke die zu überdauern vermögen, aber wie? Ihr Erfolg erleichtert nicht ihre Ewigkeit – d. h. ihre je neue Zeitgemäßheit. Nirgendwo zeigt sich das besser als am Donauwalzer. Ein Auftragswerk für den Wiener Männergesang-Verein, geschrieben im Winter nach der österreichischen Niederlage im Deutschen Krieg; ein Potpourri, alle zehn Melodien wurden ausnahmslos früheren Walzern von Strauss entnommen und auf diese Weise wiederverwendet.43 Sicherlich «voll jener beschwingenden und anheimelnden Weisen, wie sie eben nur ‹an der schönen blauen Donau› gedeihen» und doch verschiebt man diese «inoffizielle Hymne Österreichs» unterspült vom starren Klatsch-Rhythmus des Publikums fast automatisch in den Hintergrund, perzipiert sie nur mehr, nimmt sie als Beiwerk. Die Aufführung der Musik als bloße (nicht selten völlig überhöhte) Klangkulisse einer überladenen Zeit macht sie bedeutungslos. Dass so die Musik in ihrer Offenheit verunmöglicht ist, ja hinfällig wird, begreift die französische Übersetzung des Chorwalzers (entstanden 1867 auf der Weltausstellung in Paris). Anders als die zeitgebundene, satirisch-kritische Verdichtung der Uraufführung («Wiener sei froh / oho wieso»), verwindet sie alle Aussage: «Valsons toujours / :,: lala :,: / Jusqu’a demain / :,: lala :,:.» Es bleibt die Entleerung, ein großes Lalula,44 Nichtigkeit. Ein Lachen am Abgrund.

VI.

Doch vielleicht hört man dazwischen Strauss uns leise und doch unmissverständlich zurufen «Komm, laß uns tanzen.»45 Der Tanz, ein federndes Vorwärtsgleiten, ein Schleifen, kein Trippeln, von der Melodie gewogen. Rhythmisch, aber ungebunden: Robert Stolz hat das beim Einstudieren des «Kaiser-Walzers» mit dem New Yorker Symphonieorchester beschrieben: «No Rhythmus! Sing it frei! Wie ein Lied by Schubert.»46 Der gesungene ¾-Takt entwirft das Hin und Wider aus Spannung und Loslassen, Erwartung und Entgleiten, über dem sich die Musik entfaltet. «Ein Hm der Bässe, dann das Ta-ta der zweiten Geigen. […] Die zauberhafte, sinnliche, in großen Intervallsprüngen auf- und abwärtssteigende Geigenmelodie des Johann-Strauß-Walzers über dem stereotypen, unerbittlichen Abgrund des Hm-ta-ta macht die Walzer so geheimnisvoll, so zwielichtig».47 Da verspürt man, «wieviel Schmerzliches, vielleicht sogar im geheimen Unbeschwichtigtes auf dem Grunde der Süße dieses Themas»48 liegt, etwas «Melancholisches, Schwermütiges, eine sehnsüchtige Herzlichkeit, ja etwas Auflösendes, um nicht zu sagen etwas Zerfallendes.»49 Und doch, gerade weil die Musik offen bleibt, nicht zerfällt, «entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist.» Neben das ewige Warum gegenüber der Nichtigkeit der Welt gesellt sich ein Ja, ein flüchtiges vielleicht, aber ein Ja, ein Horizont, eine Hoffnung.50 Hier lohnt es sich hinzuhören.

Nachklänge

Das Lachen am Rande des Abgrunds sollte der Musik Strauss’ in extremis eingebrannt werden. Nach der Jahrhundertwende leuchtete die Operette, die Tanzmusik zunächst weiter auf – in manchen Revuefilmen ist dieses Licht enthalten –, manche Strauss-Melodie sollte erst jetzt wirksam werden (Sag zum Abschied leise Servus). Der Anschluss Österreichs im März 1938 brachte den Bruch. Die Operette nach der Jahrhundertwende wurde zur silbernen erklärt, die jüdischen Komponisten und Autoren von der Bühne vertrieben oder aus den Libretti gestrichen. In gleichzeitiger Anhänglichkeit an die Walzermusik entfernte man die jüdische Abstammung Strauss’ aus den Taufbüchern – die Familie war arisiert und damit die nun ‹goldene› Tanzmusik eingedeutscht.51 Es blieb kein Intermezzo. Die Operette fand nicht mehr zurück, ihr Revival in der Nachkriegszeit wurde zum musealen «Schaukasten in eine heilere und leichtere Vergangenheit».52 Das 1939 eingeführte Neujahrskonzert, das Wien als Stadt «des Optimismus, der Musik und der Geselligkeit»53 inszenieren sollte, das sich bis heute als Ausdruck der Stadt gibt, spielt noch immer keinen Emmerich Kálmán, keinen Oscar Straus. Der Strauss-Purismus verdunkelt den offenen Himmel der Tanzmusik. «Rien à faire».54

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