Vorworte stören manchmal. Sie können dem Leser einen unbedarften Zugang zu einem Werk erschweren, sich im Vorfeld verlieren, vom Eigentlichen ablenken oder allzu geschwätzig erscheinen. Als Leser möchte man nicht selten sofort das eigentliche Wort lesen. Daher ist es nur angemessen, der Kraft der eigentlichen Worte gemäß, dass Land und Gedenken / Pays et Mémoriaux, ein Band mit Gedichten von Willibald Feinig, nicht lange erklärt und erläutert, was erst noch kommen wird, sondern – «Statt eines Vorwortes» – das gedichtete Wort an den Anfang setzt und mit zwei Gedichten beginnt. Was sich in ihnen dem Leser zusagt, ist mehr als eine Einführung. Man ist als Leser sofort angesprochen von Worten, denen man, soviel sei schon an dieser Stelle verraten, viele Leserinnern und Leser wünscht. Oder wünscht man ihnen, den möglichen Leserinnen und Lesern, diese Worte? Sicherlich auch das.
Das erste Gedicht ist, genau besehen, ein Dialog, ein zufälliges Gespräch, wie es sich auf einer Zugfahrt ergeben kann. «Was schreiben Sie wenn ich fragen darf», wird der Dichter von einem Doktoranden (oder einer Doktorandin) – «Klassische Philologie in Zagreb und Philosophie in Liechtenstein» – gefragt, «schreiben Sie Gedichte sieht aus wie ein Gedicht was Sie schreiben.» Das Gegenüber bohrt voller Neugier weiter: «Sind Sie Dichter», so wird der geduldige Dichter gefragt. «Schreiber Schriftsteller», antwortet er, nicht einsilbig, aber doch so kurz, wie es gerade geht. «Von Beruf», so wird weiter gefragt. «Nebenbei neben dem Lehrersein». Und etwas später: «Schreiben Sie lieber Prosa oder lieber Lyrik». Man wird den Eindruck nicht los, dass der Dichter sein Gegenüber durch sein langsames Schreiben – «(Eine Viertel- bis Dreiviertelstunde pro Wort)» – irritiert. Was genau geschieht da? Warum so wenige Worte? Warum so bedächtig? Prosa oder Lyrik also? Der Dichter äußert sich und bezieht Stellung, ganz lakonisch, ganz klar: «Ich schreibe weder Lyrik noch Prosa» [7].
Aber was ist es, was er schreibt? Die Antwort steht auf der nächsten Seite. Dort findet sich – immer noch «Statt eines Vorwortes» – das Gedicht «Gedichte,». Das Komma gehört zum Titel. Und das zeigt: «Gedichte» ist das Subjekt, das Zentrum der nun folgenden Zeilen. Dabei geht es Feinig nicht um Gedichte im Allgemeinen, sondern konkret um seine eigenen Gedichte, deren Wesen er mit wenigen Worten umkreist, Gedichte,
bei denen die rechte Gehirnhälfte dem Leintuch näher ist
Gedichte mit der linken Gehirnhälfte unten
Gedichte mit dem Kopf in Händen
Gedichte auf dem Rücken liegend
Gedichte in Bauchlage
Gedichte, den Kopf unterm Polster vergraben. [8]
Ein ganzes dichterisches Programm entfaltet sich in diesen wenigen Zeilen. Die rechte Gehirnhälfte ist für alles Kreative zuständig. Wenn sie dem Leintuch näher ist, so möchte man hier deuten, ist sie, sind ihre Gedichte, dem Schlaf, dem Unbewussten, dem Abgründigen und vielleicht sogar dem Sterben und dem Tod näher. Die linke, die rationale, rechnende, planende Hälfte kann ruhig «unten» ihren Platz finden – nicht oben herrschend, sondern tiefer, der Erde näher, dem Leben ausgesetzter. Und der Dichter, so zeigt sich, schreibt Gedichte in allen Lebenslagen. Die äußere Position seines Leibs könnte inneren Lebenslagen, geistigen Perspektiven und Stimmungen der Seele entsprechen: dem nachdenklichen Zweifel etwa, dem offenen Blick in den Himmel, der erd- und schlafnahen Ruhe, der weltflüchtigen Versunkenheit in sich selbst.
Welches Vorwort hätte so fein, so genau beschreiben können, was Willibald Feinig tut? Oder besser: wie er schreibt, wie sich das Schreiben in ihm vollzieht, wie es geschieht – dass da doch, in langen Abständen, nach und nach, Worte ihren Weg aus Papier finden. In allen möglichen Lagen schreibt er. Auch an allen möglichen Orten. Und mit der linken, der schöpferischen Seite des Gehirns. Ja, selbst in einem Intercity, wo ihm die Worte zufallen wie die Eindrücke der Landschaft, durch die er fährt – und auch wie das Gespräch mit einem Gegenüber, von dem keine Antwort auf das entschiedene «weder Lyrik noch Prosa» überliefert ist.
Land und Gedenken versammelt Texte aus fünfzig Jahren – von 1974 bis 2024. Welche Landschaften und Länder lassen sich, wenn man sich auf Feinigs Worte einlässt, bereisen! Und wie sehr zeigt sich, dass Gedenken eine besondere Weise des Denkens ist, ein intensives Denken, das sich auf die Welt einlässt, um nicht über sie zu schreiben (und so über sie zu verfügen, als ließe sie sich je auf den Begriff bringen), sondern um von ihr her ihre Worte zu empfangen, geheimnisvolle, vieldeutige, zärtliche, geheimnisvolle, klangschöne Worte, Worte, die berühren, so wie der Dichter selbst von ihnen berührt worden sein mag! Die Titel der einzelnen Kapitel zeigen die Bandbreite von Feinigs Schaffen: Alltag, Unmärchen, Bilder, Eine andere Musik, Denkmäler, Landschaften, Geheim, Revelge, Minnelieder, Klagen. Dazu noch Nachgedichtetes. Und viele der Text auch in der anderen Sprache, in der Feinig sich zuhause fühlt, im Französischen, ein leiser Dialog von Sprache zu Sprache.
Feinig führt in seinen Reisen durchs Land, in seinem Gedenken an das, was sich ihm zuspielte und eröffnete, einen Dialog mit der Welt. Doch wagt diese so weltnahe, so weltsatte Dichtung immer auch den Blick nach oben und ist eingedenk des Göttlichen, der Spuren Gottes in menschlichen Landen. Eine «Kleine Roncalli-Litanei» ist Papst Johannes XXIII. gewidmet (über den Feinig an eigenes, sehr lesenswertes Buch geschrieben hat) [104–108]. Und ein «Christus-Hymnus» steht unter dem Titel «Dich loben»:
Dich loben – ein Wagnis.
Dich sehen, ein Glück!
Dir glauben: Wem sonst?
Dich feiern, Ehrenwort, heißt den Alltag renovieren
Dich lieben – unmöglich zu erröten, ohne
Gesang
Diese Worte stehen am Anfang des Hymnus. Ganz neu, ganz frisch zeigt sich in ihnen das Glück und das Geheimnis Christi. Ist nicht der Gesang, der so notwendig ist, um Christus zu lieben, genau das, was in all diesen Gedichten erklingt? Und wie radikal endet dieser Hymnus, wie sehr ist der Hymnus nicht nur ein Glücks-, sondern auch ein Kreuzeshymnus:
Dich lieben heißt des Sterbenden Spucke lieben
Und die des Bösen
Und den Gestank des Trinkers
Und des Untreuen Duft
Auf dich warten. Denn Leben heißt warten und erwartet werden
Dich besingen – Ehrenwort – heißt das Leben besingen [109]
Feinigs Land und Gedenken ist im «Verlag Bibliothek der Provinz» erschienen. Pascals Lettres provinciales gingen in die Provinz. Feinig schreibt aus der Provinz, aus ihren Sprachwelten, in die weite Welt. Wenn ein jedes Wort eine Viertel- oder gar Dreiviertelstunde auf sich warten ließ, verdichtet dieser Band viele Stunden, viele Zugfahren und Lebenswege, ein ganzes Leben vielleicht. Der Band ist so ein «Denkmal» gedichteter, verdichteter Zeit – oder verzeitigter, in die Lebenslagen des Dichters inkarnierter, Leib gewordener Worte. Und überdies ein wunderschönes Buch, Zeugnis einer Buchkunst, die so – so sinnlich, dass man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen will und immer wieder in ihm blättern möchte – nur selten noch gepflegt wird. In der äußeren Schönheit spiegelt sich die innere, die tiefe Harmonie der Worte. Klingt das nicht allzu kitschig? Vielleicht. Aber man muss Feinig lesen, um zu verstehen, dass dies weder kitschig gemeint ist – noch ist. Und vielleicht muss man dann, wenn man seine Worte liest oder auch vorträgt, auch gelegentlich weinen:
Ein Gedicht
Ist ein heller Moment inmitten Vergessens.
Ein Gebet
zwischen Zweifel und Angst wie der Herzschlag.
Ein Gedicht ist ein dunkler Moment
im hellen Zweifel.
Hilde Domin hat ein Gedicht geschrieben, in dem jedes Wort stimmt
selbst der Titel.
Hölderlin auch. Als ich es vortrug
(ich war jung), musste ich weinen. [38]