Meister Eckhart als Lehrer der KontemplationEmpfänglich werden für die göttliche Gabe

Kontemplation kann mit Meister Eckharts als Weg verstanden werden, der darauf zielt, das paradiesische Urvertrauen des Menschen wieder herzustellen. Dabei schwindet das Misstrauen selbst – und der Mensch erfährt mehr und mehr, dass dieses Urvertrauen das Leben jedes Menschen von Anfang an getragen hat, trägt und tragen wird.

Meister Eckhart mit Schüler, Skulptur in Bad Wörishofen
Meister Eckhart mit Schüler, Skulptur in Bad Wörishofen © Lothar Spurzem/Wikimedia Commons/CC BY-SA 2.0 DE

1. Persönliche Vorbemerkung

Meister Eckhart (1260–1328) bedarf keiner Aktualisierung. Zwar ist er als einer der angesehensten Theologen und Philosophen am Ende des 13. und am Beginn des 14. Jahrhunderts im Rahmen seiner Zeit zu verstehen. Aber darüber hinaus enthalten seine Gedanken Antworten auf Fragen, wie sie sich heute stellen. Freilich bedürfen seine Worte der Auslegung.

Mehr noch als der Denker1 hat mich der Lebemeister Meister Eckhart2 geprägt. Seit über 25 Jahren bin ich als Lehrer für christliche Kontemplation tätig. Wichtige Impulse habe ich aus dem Zen-Buddhismus durch Pater Willigis Jäger OSB empfangen, für die Praxis der Kontemplation bedeutsam war die Begegnung mit Schwester Ludwigis Fabian OSB, die – von Yamada Kōun Roshi zur Zenlehrerin ernannt – Übungsformen aus dem Zen in ihr christliches Gebetsleben integrierte. Die kontemplative Übung, wie ich sie praktiziere, verdankt Meister Eckhart entscheidende Orientierung. Sein Beitrag für die Kontemplation in unserer Zeit ist Gegenstand der folgenden Überlegungen.

2. Liebe und Vertrauen

In der Kontemplation geht es um die Vergegenwärtigung einer umfassenden Liebe, die jedem Menschen innewohnt, der sich aber die meisten Menschen nur selten bewusst werden. Liebe ist im vollen Sinn nur da, wo vorbehaltloses Vertrauen besteht – so lehrt Meister Eckhart. «Wan minne enkan niht ­missetriuwen, si getriuwet alles guoten».3 In wortwörtlicher Wiedergabe sagt Eckhart: Die Liebe kann nicht misstrauen, sie vertraut alles Guten,4 freier übersetzt: sie vertraut, dass alles gut ist.

Eckhart sieht, gemäß der Tradition der Scholastik, Liebe und Gut-Sein als komplementär an: Konkrete Liebe, gleich welcher Art, kann sich nur angesichts eines bestimmten Guten aktualisieren. Als gut wiederum erscheint etwas Bestimmtes nur, wenn es in das Blickfeld einer Person gelangt, die ihm ein Verlangen zuwendet, dessen Wurzel Liebe ist. Liebe schlechthin, die nicht durch die Begrenztheit eines besonderen Guten eingeschränkt ist, richtet sich auf das vollkommene und schrankenlose Gute. Dieses Gute wiederum erweckt bei den dafür Empfänglichen grenzenlose Liebe.

In dem hier wiedergegebenen Zitat geht Eckhart über diesen Gedanken hinaus: Liebe, die nichts als Liebe ist, findet sich in einem Raum, wohinein nicht einmal die Vorstellung eines Nicht-Guten gelangen kann. Das ist der Raum des Vertrauens. In ihm steht nichts aus, gibt es nichts zu bedenken und nichts zu erwarten, weil nichts fehlt und alles, was gegenwärtig ist, als Gutes erscheint. Das Vertrauen der Liebe entspricht dem Urzustand im Paradies. Erst als der Sündenfall den Menschen in die Folgen der Unterscheidung von Gut und Böse verstrickte, kam Misstrauen in die Welt.

Kontemplation dürfen wir im Sinne Meister Eckharts als einen Weg verstehen, der darauf angelegt ist, das ganze Leben des Menschen auf die Wiederherstellung dieses paradiesischen Urvertrauens hin auszurichten. Dabei verblassen alle Anlässe für Misstrauen, es schwindet das Misstrauen selbst, mehr und mehr lässt sich erfahren, dass dieses Urvertrauen das Leben jedes Menschen von Anfang an getragen hat, trägt, und tragen wird.

3. Der Begriff der Kontemplation

Da Meister Eckhart den Ausdruck Kontemplation kaum verwendet, geben wir zur Begriffsbestimmung Johannes vom Kreuz (1542–1591) das Wort: «Kontemplation ist ja nichts anderes als ein geheimes, friedliches und liebendes Einströmen Gottes, so dass er, wenn man ihm Raum gibt, den Menschen im Geist der Liebe entflammt».5 Dieses Einströmen hängt nicht vom Tun des Menschen ab, denn es geschieht, so lehrt der spanische Mystiker, von selbst und vollzieht sich unablässig. Meister Eckhart sagt: «Nun denn, lieber Mensch, was schadet es dir, wenn du Gott vergönnst, dass Gott Gott in dir sei.»6 Nichts muss man tun, außer dem einen, Gott in sich selbst Gott sein zu lassen. Kontemplation in diesem Sinne ist, wie Johannes vom Kreuz sagt, eingegossen.

Zugleich aber fügt Johannes vom Kreuz eine Bedingung hinzu. Dass das Einströmen Gottes den Menschen im Geiste der Liebe entflammt, geschieht nur, wenn man ihm Raum gibt. Auch Meister Eckhart weist dem Menschen eine Aufgabe zu: «Nun begehrt Gott nichts mehr von dir, als dass du aus dir selbst ausgehst deiner kreatürlichen Seinsweise nach und Gott Gott in dir sein lässt.»7 Der Ausgang aus der kreatürlichen Seinsweise, den Meister Eckhart verlangt, bedeutet das Sich-Lösen von allen Hindernissen, die die Wahrnehmung des göttlichen Liebesstromes unmöglich machen. Damit ist dem menschlichen Leben eine Richtung gewiesen. Es findet seine Erfüllung da, wo es dem Einströmen der Liebe ohne Schranken Raum gibt.

Betrachten wir diesen Raum näher, so zeigt er sich als ein Erfahrungsraum. Das, was in jeden Menschen eingegossen ist, davon soll der Mensch ein Wissen gewinnen – nicht in Worten und Argumenten, sondern in seiner ganzen Personalität. Eckhart sagt es in folgenden Worten:

Der Mensch, der nun alles weiß, was Gott weiß, der ist ein Gott-wissender Mensch. Dieser Mensch erfasst Gott in seinem Eigensein und in seiner eigenen Einheit und in seiner eigenen Gegenwart und in seiner eigenen Wahrheit; mit einem solchen Menschen ist es gar gut bestellt. Der Mensch, der von inwendigen Dingen nichts gewöhnt ist, der weiß nicht, was Gott ist. Wie ein Mensch, der Wein in seinem Keller hat, aber nichts davon getrunken noch versucht hätte, der weiß nicht, dass er gut ist. So auch steht es mit den Leuten, die in Unwissenheit leben; die wissen nicht, was Gott ist, und doch wähnen sie und es dünket sie, dass sie leben.8

Vorbild für den Gott-wissenden Menschen ist Jesus Christus, dem der Vater alles zugeeignet hat, was sein ist (Joh 16, 15). Von ihm sagt Meister Eckhart, dass er

frei und ledig ist und sich allzeit ohne Unterlaß und zeitlos neu empfängt von seinem himmlischen Vater und sich im selben Nun ohne Unterlaß vollkommen wieder eingebiert mit dankerfüllter Liebe in die väterliche Hoheit, in gleicher Würde. Ganz so sollte der Mensch dastehen, der für die allerhöchste Wahrheit empfänglich werden und darin leben möchte ohne Vor und ohne Nach und ohne Behinderung durch alle Werke und alle jene Bilder, deren er sich je bewußt wurde, ledig und frei göttliche Gabe in diesem [gegenwärtigen] Nun neu empfangend und sie ungehindert in diesem gleichem Lichte mit dankerfülltem Lobe in unseren Herrn Jesus Christus wieder eingebärend.9

Was für Jesus Christus gilt, ist, gemäß dieser Worte, paradigmatisch für Menschsein überhaupt. Wie aber kann der Mensch ganz so dastehen wie Jesus Christus? Das Leitwort ist Empfangen: Der Mensch soll in jedem Nun, d. h. jeden Augenblick neu, empfänglich werden für göttliche Gabe. Die Empfänglichkeit aber erfordert, dass der Mensch ledig und frei ist, zeitlos neu ohne Vor und ohne Nach und ohne Behinderung durch alle Werke und alle jene Bilder, deren er sich je bewusst wurde. Bilder im Sinne Meister Eckharts sind nicht nur die Vorstellungsbilder der Phantasie, sondern auch die Gedanken in ihrem Kommen und Gehen. Selbst von ihnen soll man ledig und frei sein. Kann man dafür etwas tun, muss man dafür etwas tun? Oder führt nicht schon die Vorstellung, man könne durch eigene Leistung zu einer solchen Empfänglichkeit gelangen, in die Irre?

4. Ist das Ziel der Kontemplation ein Bewusstseinszustand?

Erfahrung in dem hier angedeuteten Sinn wird heute in der Regel unter den Sammelbegriff Spiritualität subsumiert.10 Allerdings stellen sich in der Rede von Spiritualität oft Verkürzungen oder Missverständnisse ein.

Spirituelle Erfahrung wird mit herausgehobenen, nicht-alltäglichen Bewusstseinszuständen assoziiert. In der Tat gibt es Traditionen – die sich im Mittelmeerraum bis zu Platon und Plotin, in Asien aber bis zu den Ursprüngen des Buddhismus und zu den Anfängen der vedischen Religionen zurückverfolgen lassen –, in denen ekstatische Momente, Zustände von Erleuchtung mit Auflösung aller Ich-Grenzen in der Lehre angesprochen und in einer Übungspraxis anvisiert werden. Im Zen-Buddhismus spricht man von Kenshō oder Satori. Auch in der Kontemplation wird von Erfahrungen dessen berichtet, was Plotin das Eine nennt.11

Dazu ist zu sagen: Ohne Zweifel kommt es vor, dass sich in einer Übung wie dem Zazen des Chan-Buddhismus ebenso wie auf den Wegen des Yoga oder des Sufismus nicht-alltägliche Bewusstseinszustände einstellen. Solche Zustände spricht Meister Eckhart als ein Wissen vom ewigen Leben an. Solches Wissen «kommt daher, daß Gott selber es dem Menschen sage oder es ihm durch einen Engel entbiete oder durch eine besondere Erleuchtung offenbare. Dies geschieht selten und nur wenigen Menschen.»12

Eckhart mahnt jedoch zur Vorsicht, indem er auf zwei Gefahren aufmerksam macht.

(1) Indem er hervorhebt, dass die Initiative von Gott selber oder einem Engel ausgehe, warnt er davor zu meinen, ein Mensch könne durch eigene Anstrengung Bewusstseinszustände, die ihm den eigentlichen Sinn seines Lebens offenbaren, herbeiführen. Menschen, die den Weg zur Gotteserfahrung «durch allerhand äußerliche Übungen und Kasteiungen»13 finden wollen, sind gefesselt an ihr begrenztes Ich. Eckhart vergleicht sie Kaufleuten, die sich aufgrund ihrer Investitionen in Form von Lebenszeit und geistlicher Anstrengung von Gott eine Rendite in Form von geistlichen Erlebnissen versprechen. «Bei solchem Handel sind sie betrogen».14 In unsere Zeit übertragen: Wer sich auf dem Weg planmäßig gesteuerter Meditation oder durch den Einsatz von bewusstseinserweiternden Stoffen einen Zugang zu den Erfahrungsräumen der Spiritualität zu verschaffen sucht, wird motiviert von der Idee der eigenen Selbsterlösung. Wäre eine solche machbar, dann wäre das im Leben Entscheidende der Verfügungsgewalt des persönlichen Ich anheimgegeben, das durch den Einsatz von Meditationstechniken oder bewusstseinserweiternden Drogen den gewünschten Bewusstseinszustand erreichen möchte. Dieser Idee widersprechen jedoch die Erfahrungen der großen Religionen und Weisheitslehren: An der Unverfügbarkeit des Göttlichen scheitert das Bemühen, es durch eigenes Wollen und Tun für sich in den Griff zu bekommen. Selbst wenn dieses Bemühen scheinbar erfolgreich scheinen mag, selbst wenn ein durch Übungstechniken oder Drogen temporär herbeigeführter Bewusstseinszustand einem Widerfahrnis, wie es gemäß Eckhart Gott oder ein Engel entbietet, ähnlich sein kann – im letzten bleibt der Mensch im Wirkungskreis seines Ich gefangen. Äußerlich zeigt sich dies daran, dass solche Zustände nicht bleibend sind. Was dagegen bleibt, ist die berechnende Ich-Mentalität, die Kosten und Nutzen spiritueller Wege abschätzt.

(2) Für die Einschätzung besonderer Bewusstseinszustände ist die Gefahr der Selbsttäuschung zu bedenken. Meister Eckhart mahnt: «Die Eingebung […] könnte trügen, und es könnte leicht eine falsche Erleuchtung sein.»15 Es bedarf der Kriterien für eine, wie Paulus es nennt, Unterscheidung der Geister (1 Kor 12, 10; 1 Thess 5, 21), um die Echtheit einer Erfahrung zu beurteilen. Eckhart kennzeichnet solche Zustände, sofern sie echt sind, als Ausbrüche der göttlichen Liebe. Diese, sagt er, würden zwar ins Auge stechen, seien aber nicht das Beste.16 Bedeutsamer als die Ausbrüche ist ihr Ursprung, der für ihre Echtheit maßgeblich ist. Dieser ist auf einer tieferen Ebene zu suchen. Das Wissen, das einem Menschen eine bleibende Gewissheit des ewigen Lebens gibt, muss jenseits von Erlebnissen, die kommen und gehen, ein habituelles Wissen sein, d. h. ein Wissen, das sich zur Haltung verdichtet. Diese Haltung nennt Eckhart Vertrauen.

Bevor wir auf diese andere Ebene zu sprechen kommen, muss indes auf ein weiteres Missverständnis verwiesen werden: Die berechtigte Kritik an der Idee einer Selbsterlösung durch zielgerichtete Verfahren wie Meditationstechniken oder kontrollierten Drogenkonsum führt bei Vertretern der großen christlichen Konfessionen nicht selten zum gegenteiligen Verdikt: Jede Art von Übung, jedes menschliche Bemühen um Erfahrung des Einen sei als Streben nach Selbsterlösung zu verwerfen. Zuweilen begegnet man in kirchlichen Kreisen allem, was in unserer Zeit unter dem Titel Spiritualität außerhalb der Amtskirchen gelehrt und praktiziert wird, mit pauschalem Misstrauen. Da alle Erfahrung, wie sie hier angesprochen wurde, nur aus der unverfügbaren Gnade Gottes entspringe, sei jeder Versuch, die eigene Existenz daraufhin auszurichten, nicht nur vergeblich, sondern sogar verwerflich.

5. Abgeschiedenheit, die «höchste und beste Tugend»

Dem sich in außerordentlichen Bewusstseinszuständen äußernden Wissen stellt Meister Eckhart das eigentliche Wissen von Gott in folgenden Worten gegenüber:

Das andere Wissen ist ungleich besser und nützer und wird allen vollkommenen liebenden Menschen oft zuteil: das ist, daß der Mensch aus Liebe und intimer Nähe [mhd. heimlicheit], die er mit seinem Gott hat, ihm so völlig vertraut und seiner so sicher ist, daß er nicht zweifeln könne, und er dadurch so sicher wird, weil er ihn unterschiedslos in allen Kreaturen liebt. […] Denn, so sehr du ihn [Gott] auch lieben magst, des sei gewiss, daß er dich über die Maßen mehr liebt und dir ungleich mehr vertraut.17

Die Basis des Wissens vom ewigen Leben ist Vertrauen. Der letzte Satz des Zitates macht deutlich, dass das Vertrauen im Leben eines Menschen schon angefangen hat, bevor der Mensch sich seiner bewusst wird: Gott hat den Menschen schon geliebt und ihm schon vertraut, bevor der Mensch selbst Gottesliebe und Gottvertrauen als persönliche Dispositionen entwickeln kann. Zugleich aber ist damit eine Aufgabe angesprochen: Es ist Sache des Menschen, sich dieses Vertrauens bewusst zu werden, sich von ihm ergreifen und in seinem ganzen Sein von ihm durchdringen zu lassen. Wie kann das geschehen?

Damit das von Gott stets vorgegebene liebende Vertrauen für den Menschen wirklich wird, bedarf es der geistlichen Übung. Die Empfänglichkeit für Gott muss zur Gewohnheit werden: Denn, in den oben angeführten Worten Meister Eckharts: Ein Mensch, der von inwendigen Dingen nichts gewöhnt ist, der weiß nicht, was Gott ist. Nicht ohne Grund hebt Eckhart die Gewohnheit hervor. Er ist mit dem Gedanken des Aristoteles vertraut, dass der Mensch Tugend nur dadurch erwirbt, dass er sie praktiziert, bis ihre Ausübung ihm zur Gewohnheit wird. Nur durch Gewohnheit, wie sie in einer Praxis entsteht, wird Tugend zum Habitus, zum bleibenden Moment des Charakters.

Als höchste Tugend sieht Meister Eckhart eine Tugend an, die ins Zentrum der Kontemplation führt. Es ist eine Tugend, die Aristoteles nicht kannte: die Abgeschiedenheit – verwandte Ausdrücke sind Ledigkeit oder Gelassenheit. Von der Abgeschiedenheit sagt Eckhart:

Sie steht auf einem reinen Nichts, und ich sage dir, warum das so ist: Die lautere Abgeschiedenheit steht auf dem Höchsten. Nun aber steht der auf dem Höchsten, in dem Gott nach seinem ganzen Willen wirken kann. Nun kann Gott nicht in allen Herzen nach seinem ganzen Willen wirken, denn obgleich Gott allmächtig ist, so kann er doch nur soweit wirken, wie er Bereitschaft findet oder schafft. […] Ebenso wirkt Gott nicht gleich in allen Herzen; er wirkt danach, wie er Bereitschaft und Empfänglichkeit findet. In welchem Herzen nun dies oder das ist, da kann in dem «dies oder das» etwas sein, wodurch Gott nicht auf das Höchste zu wirken vermag. Soll daher das Herz Bereitschaft haben zum Allerhöchsten, so muß es auf einem reinen Nichts stehen, und darin liegt auch die größte Möglichkeit, die sein kann. Da nun das abgeschiedene Herz auf dem Höchsten steht, so muß dies auf dem Nichts sein, denn in dem liegt die größte Empfänglichkeit.18

Dass damit kein Stoizismus gemeint ist, verdeutlich Eckhart mit der paulinischen Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen. Abgeschiedenheit ist die Tugend des inneren Menschen, während die nach außen gerichtete Seite des menschlichen Bewusstseins durch wechselnde Gemütszustände gekennzeichnet ist und sein soll, derart dass der vollkommene Mensch, Christus, nichts von seiner Vollkommenheit einbüßte, «als er sprach: ‹Meine Seele ist betrübt bis in den Tod.›»19 Abgeschiedenheit im Inneren der Person sichert die der jeweils wechselnden Gegenwart angemessene Beweglichkeit im Äußeren, derart, dass alles Tun und Leiden den Menschen nicht von seinem inneren unverlierbaren Halt abbringen kann:

Und dazu nimm einen Vergleich: Eine Tür geht in einer Angel auf und zu. Nun vergleiche ich das äußere Brett der Tür dem äußeren Menschen, die Angel aber setze ich dem inneren Menschen gleich. Wenn nun die Tür auf- und zugeht, so bewegt sich das äußere Brett hin und her, und doch bleibt die Angel unbeweglich an ihrer Stelle und wird deshalb niemals verändert. Ebenso ist es auch hier, wenn du’s recht verstehst.20

Abgeschiedenheit bewirkt grenzenlose Empfänglichkeit für die göttliche Gegenwart. Sie führt in den Raum des liebenden Vertrauens, das Gott dem Menschen vorgeben hat und das der Mensch in sich wachsen lassen kann, bis es ihm zum Habitus geworden ist.

Zu jeglicher Tugend gehört es, dass sie, wie Aristoteles lehrt, geübt wird: Wollen wir gerecht werden, uns also die Tugend der Gerechtigkeit zu eigen machen, so müssen wir Gerechtigkeit im Tun praktizieren, bis wir uns daran gewöhnt haben, auch ohne Nachdenken gerecht zu handeln. Dann nämlich ist uns Gerechtigkeit als Habitus zu eigen geworden. Wie aber wird die Tugend der Abgeschiedenheit geübt, auf welchem Weg kann sie zum Habitus werden?

6. Das Gebet

Der Übungsweg der Abgeschiedenheit ist eine Form des Gebetes. Meister Eckharts Gebetslehre steht in der Tradition des ununterbrochenen Gebetes, wie es Paulus den Gläubigen ans Herz legt (1 Thess 5, 17; Eph 6, 18). In seinen Erfurter Reden formuliert Eckhart seine Gebetslehre in den folgenden Worten:

Das kräftigste Gebet und nahezu das allmächtigste, alle Dinge zu erlangen, und das allerwürdigste Werk vor allen ist jenes, das hervorgeht aus einem ledigen Gemüt. Je lediger dies ist, um so kräftiger, würdiger, nützlicher, löblicher und vollkommener ist das Gebet und das Werk. Das ledige Gemüt vermag alle Dinge.
Was ist ein lediges Gemüt?
Das ist ein lediges Gemüt, das durch nichts beirrt und an nichts gebunden ist, das sein Bestes an keine Weise gebunden hat und in nichts auf das Seine sieht, vielmehr völlig in den liebsten Willen Gottes versunken ist und sich des Seinigen entäußert hat. Nimmer kann der Mensch ein noch so geringes Werk verrichten, das nicht hierin seine Kraft und sein Vermögen empfinge. So kraftvoll soll man beten, daß man wünschte, alle Glieder und Kräfte des Menschen, Augen wie Ohren, Mund, Herz und alle Sinne sollten darauf gerichtet sein; und nicht soll man aufhören, ehe man empfinde, daß man sich mit dem zu vereinen im Begriffe stehe, den man gegenwärtig hat und zu dem man betet, das ist: Gott.21

Am Ende dieses Traktates aus den Erfurter Reden wird der Angel- und Zielpunkt des Gebets genannt: Gott. Ziel des Gebets ist, dass die betende Person und der, zu dem sie betet und in dessen Gegenwart sie betet, eins sind. Eins sind Gott und Mensch von Anfang an, lehrt Meister Eckhart,22 aber es kommt darauf an, dass der Mensch innerlich in aller Bewusstheit und Wachheit vollzieht, was immer schon ist. Die Dynamik der Einung aber vollzieht sich im Gemüt. Das Gemüt ist diejenige Instanz im Menschen, die an der Schwelle zwischen innerem und äußerem Menschen steht, zwischen Bewusstsein und Willen, ausgesetzt den Einflüssen des Äußeren und den Stimmungen der Gefühls- und Gedankenwelt, offen nach innen und zum Innersten. Gebet als Ledigwerden bedeutet, dass sich das Gemüt von der Macht alles dessen, was von außen oder durch Stimmungen, Gefühle und Gedanken das Bewusstsein besetzt, zu lösen vermag. Versunkensein ist der dem ledigen Gemüt entsprechende Zustand – man könnte sagen: sein wesentlicher Bewusstseinszustand. Diese Versenkung lässt es aus allem, was das persönliche Ich ausmacht, herausgehen, sie löst es vom Eigenwillen und öffnet es für das, was aus dem Innersten einfließt: den liebsten Willen Gottes. In diesen Weg des Ledigwerdens bezieht Eckhart ausdrücklich die Leiblichkeit des Menschen mit ein: Alle Glieder und Kräfte sollen beteiligt sein, alle Sinne sollen von der Neigung, sich an begehrenswerte oder abzuwehrende äußere Gegenstände zu heften, frei werden.

Während es in unserer Zeit als normal gilt, überall den eigenen Vorteil zu suchen, während viele Menschen sich, auch auf Kosten anderer, von ihren Interessen leiten lassen, wenn sie nicht von Einfällen, Stimmungen und Gefühlen getrieben werden, mahnt Eckhart: in nichts auf das Seine sehen. Das aber muss man üben, um sich von der Gewohnheit oder Untugend zu lösen, immer wieder auf das Seine zu achten, was es ist und wie man es festhalten oder vermehren könnte. Denn in nichts auf das Seine sehen bedeutet, von allem, was man sein nennt, absehen zu können. Absehen muss man nicht nur von seinem äußeren Besitz, von seinen Leistungen und seiner Reputation, sondern auch von eigenen Interessen, Wünschen, Begierden, Aggressionen, aber auch von den Belastungen durch Ärger, Verletzungen und Schuld. Alles das kann das Gemüt besetzen, so dass es, in den Worten Eckharts, beirrt und gebunden ist. Es ist die Selbstwahrnehmung, die Eckhart als Bedingung für dieses Gebet des ledigen Gemüts betrachtet: «Nimm dich selbst wahr, und wo Du dich findest, da lass dich, das ist das allerbeste.»23

7. Das Atemgebet

In Eckharts Text über «das kräftigste Gebet» heißt es vom ledigen Gemüt, dass es sein Bestes an keine Weise gebunden hat. Weise bedeutet bei Eckhart die Form und Gestaltung der Lebensführung im Ganzen oder auch in bestimmten Hinsichten: Das Leben in diesem oder jenem Mönchsorden, das Leben in der Welt in diesem oder jenem Beruf, in dieser oder jener Lebensform – das alles sind Weisen. Weisen sind auch bestimmte Formen des Gebets oder der Liturgie, auch Übungen wie Fasten, Nachtwachen oder andere Arten von Askese. Jede gute Weise hat ihr eigenes Recht, man sollte sie nicht vergleichen und man sollte nicht, ist man einmal bei einer bestimmten Weise angekommen, nach einer anderen verlangen. Einerseits fällt jedem Menschen seine Weise zu – drückt sich darin doch der Wille Gottes mit ihm aus – andererseits ist jede Weise Sache der eigenen Wahl, denn der Mensch ist dafür verantwortlich, dass seine Lebensführung geordnet und auf das gute Leben ausgerichtet ist. So rät Eckhart: «Der Mensch ergreife eine gute Weise und bleibe immer dabei und bringe sie in alle guten Weisen ein».24

Für das Gebet empfiehlt Eckhart keine bestimmte Weise. Für die Vergegenwärtigung des vorgängigen Vertrauens Gottes oder der eingegossenen Kontemplation ist es indes empfehlenswert, unter den möglichen guten Weisen eine zu ergreifen und dabei zu bleiben. Eine solche erkennt man daran, dass sie die Tugend fördert, die Meister Eckhart Abgeschiedenheit nennt.

Ich vollziehe nun einen Sprung in unsere Gegenwart, indem ich etwas vorstelle, was sich bei Eckhart nicht findet: eine besondere «Weise» in Gestalt einer kontemplativen Übung für unsere Zeit – jenseits von Selbsterlösung oder träger Passivität. Es gibt eine Weise des Gebets, die die Ablösung vom äußeren Dies und Das und die Empfänglichkeit für ihr Innerstes fördert. Sie kann zur Gewohnheit werden, wie Eckhart sie im Hinblick auf die Abgeschiedenheit fordert. Es handelt sich um das Atemgebet, wie Schwester Ludwigis Fabian es lehrte, angeregt von Paulus: «Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt, sondern der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen.» (Röm 8, 26) Positiv gewendet: Das Atemgebet befreit von der Meinung, wir wüssten, was wir beten sollen, es befreit uns von allem eigenen Wissen, Wollen und Haben, gemäß dem, was Eckhart über den wahrhaft ledigen Menschen sagt, der nichts will, nichts weiß und nichts hat.

In der Hinwendung zum Atem löst sich der Mensch von seinem Wissen und Wollen und öffnet sich für das, was man den Atem hinter dem Atem nennen könnte, für den Geist der Liebe, die ihn aus ihrem verborgenen Ursprung heraus belebt. Wenn Meister Eckhart lehrt, dass Gott alles, was er vor tausend und mehr Jahren schuf, gerade jetzt in diesem gegenwärtigen Augenblick neu schafft, so darf man sagen, dass der Atem, den Gott einst dem Lehmkloß einblies, jetzt neu in jedem Jetzt und in unserem Leib eingegeben wird. Und wie Adam durch den Odem Gottes ein lebendiges Wesen ward, so werden auch wir, wenn wir den Atem aus seiner tiefsten Tiefe empfangen, lebendig aus dem Grund des liebenden Vertrauens in uns, das wir als Vorgabe aus dem göttlichen Grund empfangen.

Atmen ist eine uns eigene Betätigung, aber nicht unsere eigene Leistung. Wir sagen zwar, dass wir atmen, aber ob wir atmen oder nicht, ist nicht abhängig von unserer Willensentscheidung. Die Luft zum Atmen empfangen wir, ja, auch die Bewegung des Atmens selbst kommt uns als etwas Empfangenes zu. Unser Atmen geschieht in der Regel unbemerkt. Wohl aber können wir, was wir empfangen, jederzeit als eigene Lebenstätigkeit vollziehen und wahrnehmen. Wir können uns mit gesammelter Aufmerksamkeit ganz auf unser Atmen einlassen, während Denken und Wollen zum Schweigen gebracht werden. Dieses gänzliche und vorbehaltlose Sich-Einlassen ist der Kern des Atemgebetes: Nichts wollen und denken wir, nichts nehmen wir wahr außer dem, was sonst unbemerkt und unbeachtet, aber ohne Unterlass an uns geschieht: das Atmen.

Was im Folgenden zum Atemgebet gesagt wird, ist eine Zusammenfassung dessen, was ich in mehrtägigen Übungszeiten der Kontemplation an die Teilnehmer weitergebe. Die Zeiten der Kontemplation vollziehen sich im Schweigen, besonders wichtig ist das Medienfasten, der Verzicht auf den Zustrom von äußeren Informationen durch Smartphone, Tablet etc. Die Anweisungen zu Körperhaltung und Atmung verdanken sich Anregungen aus dem Zen-Buddhismus, die Orientierung der Übung ist Impulsen aus dem Gebet der Ruhe von Franceso di Osuna und Teresa von Avila verpflichtet.

Das Atemgebet ist ein innerlich lauschendes Schweigen oder ein inneres Schweigen, das zugleich Lauschen ist – Lauschen in eine grenzenlose Offenheit. Nichts Bestimmtes wird erwartet oder gefordert, keine Mitteilung, kein Gedanke, keine Botschaft, kein Bild, kein Licht, keine Energie, kein inniges Gefühl. Nur lauschen, schweigen, leer werden, sich öffnen, weit werden, empfangen. Dazu bedarf es eines gesammelten Bewusstseins. Unser ganzer Leib wird zu einem Raum der Sammlung. Eine angemessene aufrechte, ruhige Körperhaltung ermöglicht uns, ohne Anspannung oder gar Verkrampfung buchstäblich still zu sitzen. In einer solchen Haltung können wir, wie Schwester Ludwigis zu sagen pflegte, die innere Würde spüren, die Würde des Ebenbildes Gottes. Die Achtsamkeit richtet sich auf den Atem. Wir lassen ihn frei kommen und gehen, wie er kommt und geht. Zum Atmen gehört keinerlei willentliche Aktivität, Atmen ist nichts als Empfangen, Aufnehmen und Gehenlassen. Nicht: Ich atme, ich will so und so atmen, sondern: der Atem kommt im Einatmen zu uns, erfüllt uns, wir wissen nicht wie und woher, und er geht von uns im Ausatmen, wir wissen nicht wohin, die Atemluft verlässt uns und wir werden leer. Wenn sich Wahrnehmungen, Bilder und Gedanken einstellen, lassen wir uns von ihrem Kommen und Gehen nicht ablenken, sondern verweilen beim Atem. Finden wir uns aber abgelenkt, so halten wir uns das nicht vor, sondern kehren zum gegenwärtigen Atemzug zurück. Jeder Atemzug ist ein Neuanfang! Ein synchron mit der Atembewegung innerlich ständig wiederholtes Gebetswort oder eine Gebetsformel, wie sie das Jesusgebet darstellt, kann dem Bewusstsein, das immer wieder zu Zerstreuung und Ablenkung geneigt ist, Halt für seine Achtsamkeit bieten.25

Das Atemgebet, Zufluchtsstätte und Kraftquelle zugleich, steht idealerweise nicht isoliert, sondern bildet das Herzstück einer Gebetspraxis, zu der Lob-, Dank- und Bittgebet gehören. Vor allem aber ist das Atemgebet Teil einer Lebenspraxis, in der Vita contemplativa und Vita activa sich ergänzen im Wechsel von Alltag und Feiertag, von Tätigsein und Erholen, von Caritas und Liturgie, von Leisten und Aufnehmen. Aber auch für Menschen, die zum verbalen Gebet keinen Zugang haben und denen die Riten und Lehren der christlichen Konfessionen fremd sind, kann das Atemgebet einen Zugang zum Inneren eröffnen. Sie müssen jedoch darüber hinaus selbstständig Formen und Praktiken der Lebensführung finden, in die das Atemgebet so eingebettet ist, dass es nicht ein Add-On zum gewöhnlichen Leben bleibt, sondern wie ein Sauerteig mehr und mehr den Alltag durchdringt und ihn für die Liebe öffnet.

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