Abstract / DOI
Gott ist gegenwärtig. Kontemplative Aufbrüche in Liturgie und Anbetung. Der Beitrag untersucht aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive die aktuelle Bedeutung der eucharistischen Anbetung und kontemplativer Gebetsformen. Vor dem Hintergrund kirchenpolitischer Polarisierungen zwischen traditionellen und modernen Gebetspraktiken fragt er nach Brücken zwischen äußeren liturgischen Vollzügen und innerer geistlicher Aneignung. Im Fokus stehen dabei das persönliche, stille Gebet sowie die Kontemplation als Wege, die die spirituelle Dimension der Liturgie vertiefen können. Anhand des Kirchenliedes «Gott ist gegenwärtig» von Gerhard Tersteegen wird gezeigt, wie Lesen, Singen und Schweigen in die kontemplative Schau Gottes führen und damit die innere Tiefe der Liturgie erschließen.
God is present. Contemplative Renewal in Liturgy and Adoration. This article examines the current significance of Eucharistic adoration and contemplative forms of prayer from the perspective of liturgical studies. Against the backdrop of church-political polarizations between traditional and modern prayer practices, it looks for bridges between external liturgical practices and inner spiritual appropriation. The focus is on personal, silent prayer and contemplation as ways of deepening the spiritual dimension of the liturgy. Based on the German hymn «Gott ist gegenwärtig» by Gerhard Tersteegen, it will be shown how reading, singing and silence lead to the contemplative vision of God.
DOI: 10.23769/communio-54-2025-393-400
Wenn es stimmt, dass die Liturgie immer auch «politisch» ist – wie der amerikanische Jesuit und Kirchenhistoriker Mark Massa pointiert feststellt –, dann gilt dies wohl in besonderer Weise für das Gebet vor dem ausgesetzten Allerheiligsten.1 Während Anhänger der eucharistischen Anbetung heute schnell als konservativ etikettiert werden, sieht man im Taizé-Gebet eher ein liberales, ökumenisch offenes Gegenstück. Zwei Frömmigkeitsformen, die heute spirituelle Bedürfnisse erfüllen, aber gleichzeitig als Marker kirchenpolitischer Lager dienen. Nightfever, wo junge Menschen in dunklen Kirchen bei Kerzenlicht schweigend auf die ausgesetzte Hostie schauen, stößt bei liberalen Stimmen auf Skepsis. Ihnen erscheint diese Praxis häufig als ein liturgischer Rückschritt, der die persönliche Innerlichkeit über die gemeinschaftliche Beteiligung am Gottesdienst stellt. Hingegen erfährt das meditative Taizé-Gebet, gerade weil es die Gemeinschaft betont und konfessionelle Grenzen bewusst überschreitet, Zuspruch von denen, die sich für Fortschritt und Öffnung in der Kirche einsetzen. Die Liturgie ist über weite Strecken zum Schauplatz einer kirchenpolitischen Auseinandersetzung geworden, die Gläubige in verschiedene Lager teilt.2 Doch vielleicht wird bei all diesen Zuschreibungen und Labels etwas Entscheidendes übersehen. Spricht nicht aus dem Zulauf zu Nightfever und Taizé gleichermaßen eine Sehnsucht nach neuen Formen des stillen Gebets und der Anbetung? Möglicherweise liegt hier eine Chance, über polarisierende Kategorien hinauszugehen und den Gottesdienst der Kirche neu zu entdecken – gerade dort, wo er sich dem Lärm der Lagerbildung entzieht und Menschen in der Stille versammelt. Diesen und ähnlichen Fragen möchte der vorliegende Beitrag nachgehen, indem er aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive nach der heutigen Bedeutung der eucharistischen Anbetung fragt und nach Brücken zum kontemplativen Gebet sucht. Aufgrund der Fülle an Quellen zum Thema und der damit verbundenen Polarisierung geht es weniger um eine lückenlose Darstellung der heutigen Situation, sondern um die Formulierungen erster Thesen und Blickrichtungen, die zum Weiterdenken anregen wollen.
Eine liturgiewissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Anbetung kommt nicht ohne einen Blick auf jene Kritikpunkte aus, die spätestens seit dem Zweiten Vatikanum an der eucharistischen Anbetung geübt werden.3 Im Mittelpunkt der Kontroverse steht die Frage nach der Trennung von sumptio (Empfang der Eucharistie) und adoratio (Anbetung der Eucharistie). Diese Aufteilung entstand im Mittelalter, als die Kommunionpraxis der Gläubigen aufgrund des hohen Sündenbewusstseins zurückging und durch Formen der «Schaufrömmigkeit» ersetzt wurde. Statt die Eucharistie in der Messe unmittelbar zu empfangen, trat zunehmend die bloße Betrachtung der konsekrierten Hostie in den Vordergrund, was den ursprünglichen Charakter des eucharistischen Mahls in den Hintergrund drängte.
Ein weiterer zentraler Kritikpunkt betrifft den Gemeinschaftscharakter der Liturgie. Eucharistiefeier und Kommunion konstituieren die Kirche als sichtbare Gemeinschaft des «Leibes Christi». Bei von der Messfeier isolierten Formen der Anbetung besteht die Gefahr einer zu starken Individualisierung des liturgischen Geschehens, wodurch die gemeinschaftliche Dimension des Sakraments zurücktritt. Verwiesen wird dabei auf Paulus: «Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot» (1 Kor 10, 17). Schließlich rückt die liturgiewissenschaftliche Diskussion die participatio actuosa in den Blick, die das Zweite Vatikanum als zentrales Kriterium für liturgisches Handeln formuliert. Diese Teilnahme meint keinen bloßen Aktivismus, sondern bewusstes, gemeinsames Tun. Kritisch angemerkt wird, dass eucharistische Anbetung zu einer passiven Verinnerlichung führen kann, die das gemeinschaftliche Mitfeiern der Liturgie durch betrachtendes Verweilen ersetzt. Zusammenfassend forderte die Liturgiewissenschaft in den letzten Jahrzehnten, die eucharistische Anbetung sichtbarer an die Feier der Eucharistie rückzubinden und sie so im Licht des kirchlichen Verständnisses von Liturgie als gemeinschaftlichem Vollzug kritisch zu verorten.
Anbetung
Was Anbetung im (eucharistischen) Gottesdienst bedeutet, bleibt heutigen Menschen oft fremd. Anbetung, so lautet die klassische Formel etwas vereinfacht dargestellt, ist die menschliche Antwort auf die Gegenwart Gottes in der Liturgie. Diese Haltung spiegelt sich exemplarisch in der ersten Strophe des bekannten Kirchenlieds «Gott ist gegenwärtig» (Gotteslob Nr. 387) von Gerhard Tersteegen (1697–1769) wider:
Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten.
Gott ist in der Mitten. Alles in uns schweige
und sich innigst vor ihm beuge.
Wer ihn kennt,
wer ihn nennt,
schlagt die Augen nieder;
kommt, ergebt euch wieder.4
Auch Romano Guardini (1885-1968) greift diesen Gedanken in seinen Überlegungen auf und vertieft ihn theologisch, wenn er in seinem Klassiker «Von heiligen Zeichen» das Knien als leibliche Gebärde der Anbetung schlechthin deutet: «Der Mensch kniet. Und ist’s seinem Herzen noch nicht genug, so mag er sich beugen dazu. Und die gesenkte Gestalt spricht: ‹Du bist der große Gott, ich daher bin ein Nichts!›»5 Was über Jahrhunderte hinweg als höchste Form der Gottesverehrung galt, das Sich-Beugen und Niederknien vor der Majestät Gottes, stößt bei vielen heutigen Menschen, die auf Freiheit und Selbstbestimmung bedacht sind, auf Irritation. Anbetung erscheint vielen nicht mehr als Akt freiwilliger Hingabe, sondern vielmehr als Zeichen von Unterwerfung und Selbstverlust. Diese Irritation gegenüber klassischen Anbetungsgesten spiegelt sich auch in der liturgischen Entwicklung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wider. Während vor dem Konzil vor allem die emporsteigende, kultisch-anbetende Dimension des Gottesdienstes im Vordergrund stand, wurde in den folgenden Jahrzehnten verstärkt die herabsteigende, heilshafte Dimension der Liturgie betont (vgl. SC 33). Gesten und Gebärden der Anbetung wie Niederknien oder Niederwerfen (prostratio) wurden zunehmend infrage gestellt. Die nachvatikanische Liturgiewissenschaft wies dabei das gemeinsame Knien in der Messe mit Verweis auf die Praxis der alten Kirche teils zurück, weil es dem österlichen Charakter der Eucharistiefeier widerspreche. Lediglich für das persönliche Gebet solle der Brauch des Kniens weitergepflegt werden. Die Auseinandersetzung um das Knien schlug sich auch in den liturgischen Normen nieder: Während die Allgemeine Einführung ins Messbuch (AEM 21) eine Empfehlung zum Knien während des Einsetzungsberichts ausspricht, macht die spätere Grundordnung des Römischen Messbuchs (GORM 43) daraus eine verbindliche Vorgabe für alle Gläubigen. Auch auf diesem Feld zeigt sich einmal mehr, was eingangs als «Politisierung» der Liturgie bezeichnet wurde. Solche Kontroversen tragen zur Polarisierung innerhalb der Kirche bei – der tieferliegenden Frage nach der geistlichen Bedeutung leiblicher Ausdrucksformen werden sie jedoch kaum gerecht.
Anbetung im christlichen Gottesdienst kann weder bedeuten, dass die Verschiedenheit zwischen Gott und Mensch aufgehoben wird, noch, dass Gottes Größe auf Kosten der Freiheit des Menschen vernachlässigt wird. In beiden Fällen würde das Gegenüber zwischen Gott und Mensch verfehlt: Weder eine scheinbare Gleichsetzung noch die völlige Unterwerfung entspricht dem christlichen Verständnis von Anbetung. Bereits Guardini analysierte dieses Dilemma in seiner «Vorschule des Betens» mit bemerkenswerter Klarheit. Für ihn wäre eine Anbetung, die sich lediglich auf Gottes Macht oder Größe gründet, im Letzten nicht menschlich: Sie würde den Betenden dazu zwingen, sich zu beugen, weil er gar nicht anders kann. Das aber, so Guardini, wäre letztlich «unwürdig». Der Mensch würde nicht als freies Subjekt handeln, sondern als jemand, der einem Übermächtigen ausweicht oder sich ihm mechanisch ergibt. Wahre Anbetung dagegen ist nur möglich, wenn sie aus der Einsicht in den inneren Wert Gottes erwächst – aus der Erkenntnis, dass Gott «nicht nur Wirklichkeit, sondern auch Wahrheit; nicht nur die Macht, sondern auch das Gute» ist. Deshalb beugt sich der Mensch nicht nur mit dem Körper, sondern mit seiner ganzen Person, in Freiheit. Nur so, schreibt Guardini, kann Anbetung «in Würde geschehen».6 Doch was verbirgt sich hinter dem Begriff der «Würde», den Guardini neben der Freiheit so deutlich in Bezug auf die Anbetung akzentuiert?7 In der Liturgie selbst wird diese Kategorie in der Oration der dritten Weihnachtsmesse theologisch vertieft: «Gott, du hast den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen und noch wunderbarer erneuert. Lass uns, wir bitten dich, teilnehmen an der Gottheit dessen, der unsere Menschennatur annehmen wollte.»8 Bis zur Liturgiereform des Zweiten Vatikanums betete der Priester die aus dem 6. Jahrhundert stammende Oration in jeder Messe während der Gabenbereitung bei der Vermischung des Weins mit dem Wasser. Heute findet sie am Weihnachtstag Verwendung, weil in ihr zum Ausdruck kommt, was die Tradition als «heiliger Tausch» (sacrum/(ad)mirabile commercium) bezeichnet: Gott steigt aus seiner Herrlichkeit hinab in Elend und Armseligkeit, um umgekehrt dem Menschen Anteil an der göttlichen Herrlichkeit zu geben. Gott verleiht dem Menschen damit jene Würde, durch die der Mensch in ein neues Verhältnis zu Gott tritt. Anbetung ist nun nicht mehr der Kniefall des Fremden vor dem Unnahbaren, sondern Ausdruck der Erwählung, Teilhabe und Nähe. Die menschliche Würde ist damit erhöht – nicht trotz, sondern gerade durch Gottes Herablassung. Das Sich-Niederwerfen geschieht nicht in Entwürdigung, sondern in Übereinstimmung mit der neuen, durch Christus verliehenen Würde des Menschen. Die Anbetung wird damit zum Echo des Inkarnationsgeschehens: ein freier Akt der Antwort auf eine göttliche Geste der Nähe. Sie ist kein Rückfall in voraufklärerische Unfreiheit, sondern ein Akt der personalen Freiheit, der das Menschsein selbst vollendet. Sie ist nicht gegen die Würde des Menschen gerichtet, sondern ihr angemessener Ausdruck. Der moderne Mensch muss sich nicht in einer Logik der Unterwerfung verlieren, um anbeten zu können. Gerade indem der Mensch in Freiheit das Göttliche als wahr, gut und würdig erkennt und darauf antwortet, erfüllt er seine eigene Würde. Die christliche Liturgie wahrt die Transzendenz Gottes und die Freiheit des Menschen zugleich, indem sie Anbetung als Beziehung gestaltet – als eine Bewegung der Hingabe, die auf seiner Erwählung, Wahrheit und Würde gründet.
Dass Anbetung auch das Bewusstsein der eigenen Gebrochenheit einschließt, macht eine weitere Oration der römischen Liturgie aus dem Messbuch von 1962 deutlich, die am Donnerstag vor Palmsonntag gebetet wurde: «Gewähre, wir bitten Dich, allmächtiger Gott, dass die Würde der menschlichen Existenz (dignitas conditionis humanae), die durch Maßlosigkeit verletzt wurde, durch das Bemühen um heilsamen Verzicht wiederhergestellt werde.»9 Diese Oration bringt einen zentralen Gedanken auf den Punkt: Die Menschenwürde ist nicht nur gegeben, sondern auch verletzlich. Sie kann verfehlt oder beschädigt werden, etwa durch Maßlosigkeit, Selbstverfehlung oder Sünde. Anbetung wird in diesem Horizont zur Rückbindung an die ursprüngliche Berufung des Menschen. Zugleich ist sie Ausdruck der Einsicht, dass der Mensch auf die heilende Zuwendung Gottes angewiesen bleibt. Das Knien ist eine leibliche Geste dieser Einsicht: Es ist nicht nur Ausdruck ehrfürchtiger Verehrung, sondern auch Zeichen eines bewussten Umgangs mit der eigenen Gebrochenheit und Sündhaftigkeit.10 So wird das Knien zu einem doppelten Zeichen: Es vereint Anbetung und Buße, Demut und Hoffnung – und verweist auf die Wiederherstellung einer Würde, die in der Beziehung zu Gott gründet.
Persönliches Gebet
«Es geht darum, in der Kargheit, in der Stilisierung, in der ganzen Formalisierung der Liturgie das Große zu entdecken. Wahrscheinlich müssen wir noch behutsamer und elementarer werden. Ich sehe einen großen Bedarf an schweigenden Räumen der Anbetung.»11 Damit benennt Elmar Salmann eine oft übersehene Schwäche heutiger Gottesdienste. In einer Zeit, in der die Liturgie immer häufiger als formelhaft und fremd erlebt wird, stellt sich neu die Frage, wie Anbetung ihren liturgischen Ort finden kann. Salmanns Plädoyer für «schweigende Räume» verweist auf eine Form von Präsenz vor Gott, die nicht nur durch äußere Beteiligung gekennzeichnet ist, sondern durch innere Sammlung, Stille und kontemplatives Gebet. Diese Frage ist von Bedeutung, weil der eucharistischen Anbetung häufig vorgeworfen wird, sie sei individualistisch und widerspreche damit dem gemeinschaftlichen Charakter der Liturgie. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, die Anbetung innerhalb der Messe bewusster wahrzunehmen, bevor sie in eigene Formen überführt wird. Das setzt jedoch eine differenzierte Sichtweise auf das Verhältnis von persönlichem und gemeinschaftlichem Gebet voraus.
Wie sich persönliches Beten in den gemeinschaftlichen Vollzug integrieren lässt, macht Eva-Maria Faber in Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis von Beten zwischen Intimität und Öffentlichkeit sichtbar.12 Dabei analysiert sie, wie in der Umsetzung der Liturgiereform das Ideal der tätigen Teilnahme (participatio actuosa) häufig auf äußere Formen reduziert wurde, während persönliche Gebetsformen – insbesondere in Stille – kaum mehr Beachtung fanden. Liturgie ist aber nicht nur gemeinschaftlicher Vollzug, sondern bedarf der innerlichen Aneignung. Gerade das stille Gebet ermöglicht es, die eigene Lebenswirklichkeit vor Gott zu bringen, nicht als Ausdruck individualistischer Frömmigkeit, sondern als Teil des gemeinschaftlichen Feierns. Persönliches Beten ist integraler Bestandteil des liturgischen Vollzugs, besonders in bewusst gestalteten Momenten der Stille. Wenn stilles, persönliches Beten in der Liturgie stärker berücksichtigt wird, kann darin eine Haltung der Anbetung eingeübt werden. Gerade bewusst gestaltete Zeiten der Stille innerhalb der Feier fördern auch die innere Beteiligung, in der sich das Verhältnis zu Gott verdichtet.
Kontemplation
Immer mehr Menschen erleben heutige Gottesdienste als unzugänglich.13 Und doch wächst zugleich die Sehnsucht nach liturgischen Feiern, die eine innere Berührung ermöglichen. Formen kontemplativen Gebets eröffnen Brücken zwischen der äußeren und der inneren Dimension des Gottesdienstes. Um besser zu verstehen, wie Liturgie und Kontemplation wieder zueinander finden könnten, soll abschließend nochmals das bereits zitierte Lied «Gott ist gegenwärtig» von Gerhard Tersteegen eingeblendet werden.14 Neben die Anbetung als menschliche Reaktion auf die Gegenwart Gottes stellte Tersteegen in seinem mitten in der Aufklärung entstandenen Lied von 1729 das Schweigen: «Gott ist in der Mitten. Alles in uns schweige.» Das Schweigen steht jedoch erst am Ende eines Dreischritts, der zwar an die klassischen Stufen der Kontemplation erinnert, aber dennoch einen eigenen Akzent setzt.15 Während man in der kontemplativen Tradition häufig von meditatio – oratio – contemplatio spricht, entfaltet Tersteegen eine liturgisch eingebettete Alternative: Lesen – Singen – Schweigen. Zunächst wird das Lied gelesen – eine Praxis, die der Aneignung und Verinnerlichung des Textes dient. Die Worte entfalten dadurch ihre Wirkung, noch bevor sie gesungen werden, und bereiten so auf den nächsten Schritt vor. Das Lied wird nicht nur still rezipiert, sondern im Anschluss gemeinsam gesungen und damit zum Vollzug der inneren Hinwendung zu Gott. Gerade im Singen, das zwischen Wort und Stille vermittelt, verbindet sich die äußere Feier mit dem inneren Vollzug: Es macht den Glauben hörbar, trägt ihn in die Gemeinschaft und öffnet zugleich den Raum der Sammlung. Der Gesang wird so selbst zu einer kontemplativen Übung, die auf das kontemplative Schweigen hinführt. In dieser Weise führt das Lied Schritt für Schritt von der Anbetung über das Lesen und Singen in die Stille – eine Bewegung, in der sich Liturgie und Kontemplation verbinden. Aber auch damit ist der kontemplative Weg Tersteegens noch nicht abgeschlossen. Der eigentliche Höhepunkt ereignet sich in der fünften Strophe:
Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben,
aller Dinge Grund und Leben,
Meer ohn Grund und Ende, Wunder aller Wunder,
ich senk mich in dich hinunter.
Ich in dir,
du in mir,
laß mich ganz verschwinden,
dich nur sehn und finden.16
Der anfängliche Dreischritt Lesen – Singen – Stille mündet auch bei Tersteegen in der contemplatio. Obwohl er aus einem reformiert-pietistischen Milieu stammt, knüpft er an die Tradition der Mystik an, die die Gottesbegegnung als innere Schau versteht. Zwar bedient sich das Lied zunächst metaphorischer Bilder, wie Luft und Meer oder später auch noch Blume und Adler, hebt sie dann aber in der Unmittelbarkeit der Gottesbegegnung auf. Tersteegen zeigt eindrücklich, dass Mystik keine Flucht aus der Welt ist, sondern ein tieferes Verweilen bei Gott, das die äußeren Bilder und Vorstellungen hinter sich lässt. In einer Bewegung des Loslassens und Schauens wird deutlich: Kontemplation zielt hier auf ein inneres Geschehen – eine Begegnung mit Gott, in der der Mensch nicht ausgelöscht wird, sondern sich selbst in neuer Weise begegnet. Deshalb lautet auch die achte und letzte Strophe: «Ich in dir, du in mir.» Damit wird die unio mystica auf den Punkt gebracht: eine kontemplative Erfahrung, in der sich das Subjekt nicht verliert, sondern in der göttlichen Gegenwart seine wahre Identität findet.
Die hier sichtbar werdende Dynamik der Kontemplation wirft ein neues Licht auf zeitgenössische Anbetungsformen wie Nightfever oder das Taizé-Gebet. Auch sie bieten – jede auf ihre ganz spezifische Weise – Räume, in denen äußerer Vollzug und innere Sammlung miteinander verknüpft werden können. Kontemplation vollzieht sich dabei zunächst nicht in Konkurrenz zur Liturgie, sondern entdeckt deren innere Dimension neu. In besonderer Weise geschieht dies in der eucharistischen Anbetung, in der Christus in den konsekrierten Gestalten von Brot und Wein gegenwärtig ist. Doch auch meditatives Singen oder schweigendes Verweilen eröffnen Räume, in denen der Mensch der Gegenwart Gottes begegnen kann. Entscheidend bleibt nicht die äußere Form, sondern die geistige Bewegung: das stille Hinhören, das sich Einlassen, das Erwarten der Gegenwart Gottes. So verstanden, sind sowohl eucharistische Anbetung als auch andere Formen kontemplativen Betens weniger Alternativen als vielmehr unterschiedliche Wege, die auf die gleiche Mitte ausgerichtet sind: die Erfahrung der Gegenwart Gottes.