Verdrängt, verspätet, … verblendetWie die Bistümer Missbrauchsprävention mit Ideologie vermischen

Beim Umgang mit sexuellem Missbrauch ist in der katholischen Kirche in Deutschland viel schiefgelaufen: Die Aufarbeitung begann spät und ist zersplittert in etliche, kaum miteinander vergleichbare Einzelstudien. Und die Prävention wird in letzter Zeit verstärkt mit fragwürdigen sexualpädagogischen Konzepten verquickt. Gut, dass eine neue Initiative hier Einspruch erhebt.

Pfarrer in einer Sakristei
© Harald Oppitz/KNA

Papst Leo XIV. hat in seinem jüngsten Interview zu Recht davor gewarnt, den Missbrauch "zum einzigen Brennpunkt der Kirche" zu machen und das vielfältige kirchliche Leben auf dieses eine Thema zu reduzieren. Bedauerlicherweise haben in Deutschland die massiven Fehler der Bischöfe und Ordensleitungen im Umgang mit dieser Krise genau zu diesem fatalen Ergebnis geführt. Dabei sind jedoch zwei Problembereiche voneinander zu unterscheiden: Der eine betrifft die Aufarbeitung des Unrechts in der Vergangenheit, der andere die Prävention zur Verhinderung weiterer Missbrauchstaten in der Zukunft.

Aufarbeitung in Deutschland als abschreckendes Beispiel

Bezüglich der ersten Problematik wird man rückblickend feststellen müssen, dass bei dem (noch immer unabgeschlossenen) Aufarbeitungsprozess in Deutschland so viele gravierende Fehler gemacht worden sind, dass dieser insgesamt nur als abschreckendes Beispiel für andere Teile der Weltkirche dienen kann.

Vergleicht man etwa die Strategie der amerikanischen Bischöfe mit dem Vorgehen ihrer deutschen Amtsbrüder, dann treten deutliche Unterschiede im Krisenmanagement zu Tage.

Unter dem Eindruck der desaströsen Konsequenzen dieses Skandals entschied sich die nordamerikanische Bischofskonferenz zu einer zentralen, unabhängigen wissenschaftlichen Aufarbeitung durch das John Jay College of Criminal Justice, das 2004 und 2011 seine jeweiligen Abschlussberichte vorlegte.

Ganz anders verhielten sich die Bischöfe in Deutschland. Trotz der Dramatik der amerikanischen Erfahrungen verharrten sie bis 2010 nicht nur in völliger Untätigkeit. Sie erwiesen sich auch als unfähig, die skandalösen Vorgänge um den sexuellen Missbrauch von Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen in kirchlichen Einrichtungen und seiner jahrzehntelangen systematischen Vertuschung durch die Kirchenleitungen von unabhängiger Seite in einer alle Bistümer und Orden einschließenden gemeinsamen wissenschaftlichen Studie mit einer einheitlichen Methodik umfassend aufarbeiten zu lassen.

Durch die Kaskade von Veröffentlichungen wird das Thema in der Öffentlichkeit weiterhin vor allem mit der katholischen Kirche in Verbindung gebracht. Dabei zeigen alle empirisch verfügbaren Daten, dass es sich um eine gesamtgesellschaftliche Problematik handelt, die zahlreiche Handlungsfelder betrifft.

Zwar konnten mit der insgesamt sieben Teilprojekte umfassenden MHG-Studie (2014–2018) wichtige Einzelaspekte des Missbrauchskomplexes im Zeitraum von 1946 bis 2014 untersucht werden. Doch haben die einzelnen Diözesen und Ordensgemeinschaften daneben inzwischen eine Fülle weiterer Studien mit jeweils unterschiedlichem Fokus und Forschungsdesign in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse nur schwer miteinander vergleichbar sind.

Durch die Kaskade von Veröffentlichungen wird das Thema in der Öffentlichkeit weiterhin vor allem mit der katholischen Kirche in Verbindung gebracht. Dabei zeigen alle empirisch verfügbaren Daten, dass es sich um eine gesamtgesellschaftliche Problematik handelt, die zahlreiche Handlungsfelder betrifft.

Angesichts dieses in der heutigen Mediengesellschaft geradezu selbstzerstörerischen Vorgehens der DBK stellen sich zwei Fragen. Erstens: Wieso sind die für dieses Desaster Verantwortlichen eigentlich heute noch im Amt? Und zweitens: Wie lange wollen die Bischöfe diese kurzsichtige Kirchturmpolitik noch fortsetzen, die in den letzten 15 Jahren bereits den denkbar größten Schaden angerichtet hat?

Wenn Prävention zum Risiko wird

Anders gelagert sind die Probleme im zweiten Bereich, der Prävention. Auch hier lohnt ein Seitenblick in die USA. Dort hatte man schon in den Achtziger- und Neunzigerjahren Maßnahmen zum Beispiel in der Aus-, Fort- und Weiterbildung kirchlichen Personals zur Bekämpfung eines den Missbrauch begünstigenden Verhaltens ergriffen. Als 2002 die Missbrauchsfälle in Boston öffentlich bekannt wurden, war es darum schon zu einem deutlichen Rückgang er Fallzahlen gekommen. In der Erzdiözese Washington etwa entwickelte man eine erste Child Protection Policy mit Schulungen für kirchliches Personal im Jahr 1986!

In Deutschland hingegen trat die erste "Rahmenordnung Prävention gegen sexualisierte Gewalt in kirchlichen Institutionen" der Bischofskonferenz im Jahr 2010 in Kraft. Inzwischen zeigen die Präventionsmaßnahmen, etwa die flächendeckend durchgeführten Schulungen, auch hierzulande Wirkung, was zuletzt auch empirisch bestätigt wurde.

Fragwürdig ist allerdings die Tendenz, Präventionsarbeit hierzulande zunehmend mit einer ideologieanfälligen Neuorientierung der Sexualpädagogik zu verknüpfen. Dafür steht etwa das "Positionspapier zur Gestaltung der Schnittstelle von Prävention sexualisierter Gewalt und sexueller Bildung" der Bundeskonferenz der Präventionsbeauftragten der deutschen Bistümer, das erstmals 2021 veröffentlicht wurde und im März 2024 in einer überarbeiteten Version erschien.

Die Bundeskonferenz plädierte 2021 für eine grundlegende sexualpädagogische Neuorientierung. An die Stelle der traditionellen "Sexualerziehung", deren Verständnis von Sexualität vermeintlich "einseitig von der Gefahrenseite formuliert" (4) gewesen sei, wobei die "gegebenenfalls gewalttätige Beherrschung eigener Bedürfnisse … spiegelbildlich zur gewalttätigen Beherrschung eines anderen Menschen im Rahmen sexualisierter Gewalt gesehen werden" (9) könne, sollte jetzt ein "Konzept sexueller Bildung" treten, "das grenzachtend die emanzipatorische Selbstermächtigung (Empowerment) fördert und bei der persönlichen Suche nach sexueller Identität begleitet" (7).

Im Jahr 2024 wurde dieses Positionspapier überarbeitet; dabei beseitigte man einige kompromittierende Quellenangaben. Der emanzipative Grundduktus blieb jedoch erhalten.

Eine Initiative erhebt Einspruch

Das Papier versteht sich als "Einladung zum fachlichen Diskurs". Auf diese Einladung geht nun die neu gegründete Initiative Prävention und Kinderschutz ein. Sie hat soeben "Empfehlungen für eine zeitgemäße und forschungsbasierte Prävention sexualisierter Gewalt im sexualpädagogischen Kontext" vorgelegt.

Im Mittelpunkt der Kritik der Initiative steht der mit dem sexualpädagogischen Ansatz von Uwe Sielert verbundene Begriff der "sexuellen Bildung", der davon ausgehe, "dass bewusste körperliche Erfahrung und das sinnliche Erproben von Sexualität eine ausreichende Identitätsentwicklung und Reife nicht unbedingt voraussetzen, sondern vielmehr zur Entwicklung dieser beitragen, das Selbstwertgefühl stärken und präventiv den Umgang mit Grenzen fördern" (4).

Die Autoren weisen darauf hin, dass genau dieses sexualpädagogische Konzept "nicht neutral" und "mit den Inhalten der katholischen Morallehre, wie sie durch das universalkirchliche Lehramt verbindlich vorgelegt wird, keineswegs kompatibel" sei, "da es zur sexuellen Betätigung außerhalb des Rahmens der Ehe anleitet und animiert" (4f).

Deshalb stellen sie im ersten Teil ihres Papiers einige Leitlinien für eine Kultur des Schutzes vor, die neben der "Orientierung an evidenzbasierten Konzepten" vor allem die konzeptuelle "Trennung von Sexualpädagogik und Prävention", die "Altersangemessenheit der vorausgehenden Sexualpädagogik" sowie die "Berücksichtigung vulnerabler Gruppen" umfasst.

Der zweite Hauptteil enthält eine Reihe konkretisierender Impulse für institutionelle Schutzkonzepte wie etwa die systematische Fortbildung kirchlicher Mitarbeiter, die Unterstützung von Risikofamilien, die aktive Einbeziehung von Eltern und die Förderung der Sprachfähigkeit im Umgang mit Sexualität.

Für die Autoren ist die Kontinuität zwischen der "sexuellen Bildung" bzw. der "Sexualpädagogik der Vielfalt" und der "emanzipatorischen Sexualpädagogik" des umstrittenen Psychologen Helmut Kentler "unbezweifelbar" und muss "unbedingt aufgearbeitet werden".

Besondere Beachtung verdienen die Ausführungen des dritten Hauptteils zum fachlichen Hintergrund der Reflexionen. Während sich in manchen Schutzkonzepten Prävention und Sexualpädagogik überschneiden, vertreten die Autoren einen anderen Ansatz. Dieser ist darauf ausgerichtet, "primärpräventive Konzepte zu favorisieren, die der Sexualpädagogik nur eine untergeordnete Rolle beimessen und stattdessen auf die Förderung konkreter Schutzkomponenten zur Abwehr von Gefahren abzielen" (19). Gegen die Vorstellung, eine rein affirmative Begleitung kindlicher Sexualität erhöhe das Verstehen und die Identifikation sexueller Handlungen, erhebe sogar die Sexualforschung selbst den Einwand, "dass es bislang keine Erkenntnisse darüber gibt, wie Kinder Aspekte der Sexualität verstehen" (25). Während die Programme der Primärprävention evidenzbasiert seien und sich durch überprüfbare Verhaltensziele und Schutzfaktoren auszeichneten, beruhe der von den Präventionsbeauftragten der deutschen Bistümer vertretene Ansatz der "sexuellen Bildung" "auf vermeintlicher theoretischer Plausibilität ohne belastbare Wirkungsnachweise" (26). Daher sei es "dringend erforderlich, dass eine Diskussion eröffnet wird, die den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand gerecht wird …, ohne dass Kritikern reflexartig eine politisch fragwürdige Motivation oder ein ‚ewig-Gestrig-Sein‘ unterstellt wird" (ebd.).

Für die Autoren ist die Kontinuität zwischen der "sexuellen Bildung" bzw. der "Sexualpädagogik der Vielfalt" und der "emanzipatorischen Sexualpädagogik" des umstrittenen Psychologen Helmut Kentler "unbezweifelbar" und muss "unbedingt aufgearbeitet werden" (29).

Man beruft sich auf einen vermeintlich veränderten humanwissenschaftlichen Forschungsstand und propagiert ein sexualethisches Emanzipationsparadigma, das im Wesentlichen aus den Sechziger- und Siebzigerjahren stammt.

Diese letzte Forderung ist deswegen so wichtig, weil im Positionspapier der Präventionsbeauftragten von 2021 und in seiner Neufassung von 2024 dieselbe unwissenschaftliche Strategie zum Vorschein kommt wie in dem jüngsten, bislang nicht veröffentlichten Dokument der Schulkommission der Deutschen Bischofskonferenz mit dem Titel "Geschaffen, geformt und geliebt. Sichtbarkeit und Anerkennung der Vielfalt sexueller Identitäten in der Schule". 

In beiden Fällen beruft man sich auf einen vermeintlich veränderten humanwissenschaftlichen Forschungsstand und propagiert ein sexualethisches Emanzipationsparadigma, das im Wesentlichen aus den Sechziger- und Siebzigerjahren stammt. Dessen ambivalente Wirkungen werden nur deshalb nicht problematisiert, weil die Hermetik der Produktion solcher Papiere eine breitere fachwissenschaftliche Diskussion gar nicht zulässt und die einschlägigen Einwände gegen einen einseitig affirmativen Ansatz systematisch ausblendet.

Nicht nur für die dringend gebotene Präventionsarbeit ist eine solche, letztlich ideologisch motivierte Instrumentalisierung des Missbrauchs besonders ärgerlich. Auch die Reputation der deutschen Bischöfe steht in der Gefahr, durch einen derart selektiven Umgang mit wissenschaftlichen Forschungsbeständen dauerhaft weiteren Schaden zu nehmen.

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