Für Aufmerksamkeit in kirchlichen Kreisen sorgte vergangene Woche ein von mehreren katholischen Bistümern finanziertes Themenheft. Pünktlich zum Pride Month widmet es sich dem Thema "Sichtbar anerkannt: Vielfalt sexueller Identitäten". Darin äußerte sich unter anderem Heinrich Timmerevers, Bischof von Dresden-Meißen: Es brauche ein "neues Denken" der Kirche in der "Gender-Frage". Durch die Begegnungen mit Betroffenen und "anerkannten Wissenschaftlern" habe er bei dem Thema eine "neue Sensibilität" entwickelt. Und Marianne Heimbach-Steins, Professorin für Christliche Sozialwissenschaften und sozialethische Genderforschung in Münster, kritisiert das kirchliche Lehramt: "Der Abwehrkampf, den das Lehramt gegen 'Gender' und gegen die Anerkennung sexueller Vielfalt führt, konterkariert das Eintreten für die unbedingte Anerkennung der Personenwürde".
Das Heft war offenbar als Ergänzung zu einer "Orientierungshilfe" der Deutschen Bischofskonferenz gedacht. Im Vorwort heißt es:
"Die Beiträge spiegeln Erträge von drei Fachkonsultationen, die wir in den letzten beiden Jahren durchführen konnten. Sie begleiteten einen Prozess der Kommission für Erziehung und Schule der Deutschen Bischofskonferenz, die im Nachgang des Synodalen Weges der katholischen Kirche in Deutschland eine entsprechende Orientierungshilfe erarbeitet."
Bischof Timmerevers ist Vorsitzender der Schulkommission. Geplant war dem Vernehmen nach, das Papier als offizielle Verlautbarung der deutschen Bischöfe zu verabschieden. Doch daraus wird nichts. Wie mehrere Insider zu berichten wissen, diskutierten die Diözesanbischöfe beim "Ständigen Rat" letzte Woche in Berlin über das Dokument, das von einer Redaktionsgruppe rund um Marianne Heimbach-Steins und den Essener Weihbischof Ludger Schepers im Auftrag der Kommission erstellt worden war – und entschieden, es in der jetzigen Form nicht zu publizieren. Der Text, der der Redaktion vorliegt, soll überarbeitet werden und später gegebenenfalls als Kommissionspapier erscheinen, heißt es.
Der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, Matthias Kopp, will den Vorgang nicht kommentieren und verweist auf "interne Beratungen".
Das Vorgehen wirkt strategisch: Die Angelegenheit wird pädagogisch aufgegleist, abgezielt wird aber auf eine Neuausrichtung der kirchlichen Lehre insgesamt.
Während das von Heimbach-Steins und dem Berliner Sozialethiker Andreas Lob-Hüdepohl herausgegebene Heft das Thema "Vielfalt" im Großen und Ganzen behandelt, widmet sich das Schreiben, das letzte Woche hätte abgesegnet werden sollen, der "Sichtbarkeit und Anerkennung" der "Vielfalt sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten" in katholischen Schulen. Das Vorgehen wirkt strategisch: Die Angelegenheit wird pädagogisch aufgegleist, abgezielt wird aber auf eine Neuausrichtung der kirchlichen Lehre insgesamt.
Rückschlag für Reformer
Doch die Rechnung scheint nicht aufgegangen zu sein. Kein katholisches Queer-Papier zum Pride-Month – das ist ein Rückschlag für die Kräfte, denen es beim "Synodalen Weg" noch gelungen war, einen Handlungstext über die "lehramtliche Neubewertung von Homosexualität" und über den "Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt" durchzusetzen. Dass es unter den Bischöfen auch Kritiker dieses Kurses gibt, zeigte sich, als 2022 der Grundlagentext über eine Reform der kirchlichen Sexualethik knapp die damals nötige Zweidrittelmehrheit unter den Bischöfen verfehlte, was für regelrechtes Entsetzen unter den Reformkräften sorgte.
Worum geht es in dem vorerst gescheiterten Dokument? Wenn man verfolgt, wie das Queer-Thema gesamtgesellschaftlich und insbesondere im Bildungswesen angegangen wird, sind die Empfehlungen, die in dem Schreiben ausgesprochen werden, wenig überraschend.
Da werden etwa die Lehrer aufgefordert, "zur Sichtbarkeit von Menschen unterschiedlicher sexueller Identitäten" beizutragen, "indem sie eine Sprache nutzen, die der Vielfalt sexueller Identitäten und damit jeder:m Einzelnen gerecht wird, und Lernmaterialen [meiden], in denen stereotype Geschlechter- und Rollenbilder dominieren und Vielfalt ausgeblendet werden". Welche Klassiker der Weltliteratur über das Verhältnis von Mann und Frau wären angesichts dieser Maßgabe im Ernstfall wohl noch als Schullektüre zulässig?
Auch andere Vorgaben liegen ganz im Trend. So fordert die Orientierungshilfe die Schulleitungen auf, "in ihrer Öffentlichkeitsarbeit […] das im Leitbild verankerte Selbstverständnis als Schule der Vielfalt proaktiv [zu] kommunizieren". Seelsorger und Sozialarbeiter sollen Projekte anstoßen oder unterstützen, "die einen akzeptierenden Umgang mit queeren Personen in der Schule fördern (z.B. Diversitätstage, Anti-Diskriminierungsmaßnahmen)" und die Jugendlichen darin unterstützen, "Klarheit über ihre sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität zu erlangen und sie zu akzeptieren." Die Schüler wiederum sollen "die Entscheidung von Betroffenen über die Art und Weise des Umgangs mit ihrer queeren Identität und vor allem deren Selbstzuordnung und Selbstbezeichnung/Namensverwendung" akzeptieren.
Der mehrfache Verweis auf "wissenschaftliche Erkenntnisse" suggeriert eine Eindeutigkeit, die der Komplexität des Themas nicht gerecht wird, sagt COMMUNIO-Mitherausgeber Franz-Josef Bormann.
Die Orientierungshilfe erhebt den Anspruch, auf der Grundlage des "humanwissenschaftlichen Sachstands" zu argumentieren. Doch der mehrfache Verweis auf "wissenschaftliche Erkenntnisse" suggeriert eine Eindeutigkeit, die der Komplexität des Themas nicht gerecht wird, sagt COMMUNIO-Mitherausgeber Franz-Josef Bormann. Der Moraltheologe war von 2016 bis 2024 Mitglied im Deutschen Ethikrat und hat das Papier gelesen. Er meint: Der Text erliegt einem "konstruktivistischen Missverständnis von Geschlechtlichkeit". "Die Rede von der 'Vielfalt geschlechtlicher Identitäten' impliziert die Aufgabe der biblischen Zweigeschlechtlichkeit, die humanwissenschaftlich gut begründet ist", so Bormann. Auch die "unkritische Übernahme aktivistischer Terminologie" wie "Cis-Jugendliche" sieht Bormann kritisch.
Besonders bemängelt der Ethik-Experte einen "selektiven Umgang mit empirischen Erkenntnissen zur Trans-Geschlechtlichkeit". So heißt es im Dokument: Dass die Zahl der Jugendlichen, die wegen einer "Inkongruenz der Geschlechtsidentität" eine Beratung oder Behandlung in Anspruch nehmen, so stark angestiegen sei, sei nicht auf eine höhere Verbreitung zurückzuführen, sondern auf die "Veränderung des öffentlichen Bewusstseins". Bormann: "Die verschiedenen, teils hochproblematischen Gründe für die Steigerung der Fallzahlen werden geflissentlich verschwiegen."
Dass ausgerechnet der Kinder- und Jugendpsychiater Alexander Korte in diesem Zusammenhang in einer Fußnote erwähnt wird, entbehrt nicht einer gewissen Ironie – betont doch gerade Korte, dass die zum Teil exponentielle Zunahme der Fälle sich nicht allein durch die höhere Akzeptanz erklären lasst. Korte spricht von einem "Zeitgeistphänomen". Den "rein affirmativen" Ansatz, bei dem die Identifizierung des Kindes mit dem anderen Geschlecht nicht mehr hinterfragt werden darf, und den auch das kirchliche Queer-Papier vertritt, hält er für falsch – zumal sich die meisten betroffenen Jugendlichen, wenn sie ihre Pubertät normal durchlaufen, mit ihrem Geschlecht aussöhnen würden. Korte verweist auch auf ein diesbezügliches Umdenken in zahlreichen europäischen Ländern. So wurde die früher in Großbritannien übliche Gabe von Pubertätsblockern dort im vergangenen Jahr aufgegeben.
Wurden die Stimmen kritischer Experten bewusst nicht einbezogen? Hat es von niemandem diesbezügliche Anregungen gegeben? Oder wurden Bedenken geäußert, aber von den Verantwortlichen übergangen?
Immerhin schreiben auch die Autoren des Kirchenpapiers, "dass die Zahl der Kinder, bei denen die Inkongruenzen der Geschlechtsidentität sich nicht verfestigen, beträchtlich ist", ziehen daraus jedoch keine Schlussfolgerungen. Franz-Josef Bormann kritisiert, dass Schulleitungen, Lehrkräfte, Schülerschaft und alle Mitarbeiter ausschließlich auf die "anerkennende Unterstützung" von Trans-Personen verpflichtet werden, was weder dem "wissenschaftlich hochgradig kontroversen Forschungsstand" entspreche noch mit der "Fürsorgeverantwortung professioneller Akteure für die Betroffenen" zu vereinbaren sei.
Haben derlei Einwände bei den "Fachkonsultationen", aus denen das Papier erwachsen ist, keine Rolle gespielt? Wurden die Stimmen kritischer Experten bewusst nicht einbezogen? Hat es von niemandem diesbezügliche Anregungen gegeben? Oder wurden Bedenken geäußert, aber von den Verantwortlichen übergangen?
Vatikan-Standpunkt ignoriert
Unter den Diözesanbischöfen jedenfalls scheinen sich Zweifel breitgemacht zu haben. Vielleicht liegt das auch daran, dass das Schreiben den offiziellen Standpunkt des Vatikans zur Sache links liegen lässt. In dem Schreiben "'Als Mann und Frau schuf er sie'. Für einen Weg des Dialogs zur Gender-Frage im Bildungswesen", heißt es unter anderem:
"Tatsächlich erfolgt die Verteidigung der verschiedenen Identitäten oft so, dass sie als untereinander völlig indifferent geltend gemacht und damit faktisch in ihrer Relevanz negiert werden. Das gewinnt besondere Bedeutung in Bezug auf die sexuelle Differenz: Tatsächlich verbirgt der allgemeine Begriff der 'Nicht-Diskriminierung' oft eine Ideologie, die die Differenz und die natürliche Aufeinander-Verwiesenheit von Mann und Frau leugnet. (…) Diese Ideologie führt zu Bildungsangeboten und zu einer Ausrichtung in der Gesetzgebung, die eine persönliche Identität und eine affektive Intimität fördern, die völlig gelöst sind von der biologischen Differenz zwischen Mann und Frau. Die menschliche Identität wird einer individualistischen, – über die Zeit auch veränderlichen – Wahlfreiheit übergeben, ein Ausdruck der heute recht weit verbreiteten Weise des Denkens und Handelns, 'die echte Freiheit mit der Vorstellung zu verwechseln, dass jeder urteilen mag, wie er meint, als gebe es jenseits der einzelnen Menschen keine Wahrheiten, Werte und Grundsätze, die uns orientieren, als sei alles gleich und müsse alles erlaubt sein'."
Auf der anderen Seite hat sich Papst Franziskus, unter dessen Ägide das Vatikan-Schreiben entstanden ist, immer wieder für die pastorale Inklusion aller Menschen unabhängig von Identitäten, Orientierungen und Zuschreibungen ausgesprochen. Mehrfach traf er sich mit Trans-Personen und ließ sich mit den Worten zitieren: "Gott liebt uns, wie wir sind."
Wie denkt Leo XIV.?
Wie der neue Papst Leo XIV. sich diesbezüglich positioniert, ist noch unklar. Kurz nach seiner Wahl machte eine Ansprache aus dem Jahr 2012 die Runde. Darin sagt der damalige Bischof Robert Prevost, die westlichen Medien und die Pop-Kultur würden "Sympathie für Überzeugungen fördern, die im Widerspruch zum Evangelium stehen" – und bezog sich dabei unter anderem auf einen "homosexuellen Lebensstil" und "alternative Familien."
Vielleicht hielten es die Bischöfe auch angesichts dessen für ratsam, ihr Queer-Papier erstmal in die Revision zu schicken. Gut möglich, dass man für längere Zeit nichts mehr davon hören wird. Der zuständige Mitarbeiter im Bonner Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, der das Anliegen stark vorangetrieben haben soll, geht in diesen Tagen in den Ruhestand.