Ankara zieht die FädenAktuelle Lage und langfristige Ziele des politischen Islam

Der politische Islam ist eine internationale Ideenbewegung mit langfristigen strategischen Zielen. Ein Land spielt dabei eine besondere Rolle: die Türkei. Der Sturz Assads in Syrien trägt die Handschrift Erdoğans. Das Taumeln des Irans verstärkt den Einfluss Ankaras weiter.

Moschee in Ankara
© Unsplash

"Der Islam wird immer stärker!" warnte unlängst die aus dem Irak stammende kurdisch-österreichische Regisseurin Kurwin Ayub in einer Berliner Tageszeitung. Ihr Spielfilm "Mond" hatte bei den Internationalen Filmfestspielen in Locarno den Spezialpreis der Jury gewonnen. Die Geschichte einer jungen Europäerin, die verzweifelt versucht, jordanische Mädchen aus religiösen Familienzwängen zu befreien, endet tragisch. Doch spiegelt individuelles Scheitern im Film politisch-gesellschaftliche Machtverhältnisse in der Wirklichkeit?

Im Spannungsfeld zwischen Religion und Machtkalkül ist der politische Islam als internationale Ideenbewegung kein Monolith. Seine unterschiedlichen Strömungen entwickeln sich dynamisch, konkurrieren miteinander und bekämpfen sich gegenseitig. Sie folgen allerdings einem gemeinsamen strategischen Langzeitprogramm mit dem Ziel, das gesellschaftliche Zusammenleben, wenn auch in unterschiedlicher Interpretation und Gestalt, nach den Vorschriften der islamischen Rechtsordnung, der Scharia, verbindlich zu regeln.

Dieses Vorhaben entwickelt sich nicht linear, es kann beschleunigt oder aufgehalten werden. Eine realistische Bedrohungsanalyse verlangt daher eine differenzierte Betrachtung, wobei die gegenwärtige Lagebeurteilung Einzelereignisse im Heiligen Land und in Syrien, im Iran und in der Türkei ebenso einbeziehen muss wie fortdauernde gesellschaftliche und religiöse Langzeittrends der gesamten islamischen Welt. Nur so kann die Frage, ob der politische Islam tatsächlich stärker wird, wirklichkeitsnah beantwortet werden.

Umsturz in Syrien

Im Dezember 2024 feierten westliche Medien den Sturz des säkularen, mit härtesten Methoden regierenden Assad-Regimes als "Befreiung". Doch der Machtwechsel in Damaskus war nicht das Ergebnis einer demokratischen Volkserhebung oder diplomatischer Bemühungen, sondern die Folge einer politisch-militärischen Intervention interessierter Dritter: Sie wurde von Katar finanziert und aus Ankara gesteuert.

Der Erfolg in Syrien markierte für die Führungsgruppe in Ankara den Höhepunkt ihrer internationalen Machtstellung.

Bereits während des syrischen Bürgerkriegs hatte Erdoğans Regierung die islamistisch-fundamentalistischen Milizverbände der Hajat Tachrir asch-Scham (HTS) und der Syrian National Army (SNA) ausgebildet und unterstützt. Ihre überraschende Offensive Ende 2024 war das Ergebnis generalstabsmäßiger Planung und sorgfältig abgeschirmter Vorbereitung. Auch die kluge Medienbegleitung der erfolgreichen Operation setzte umsichtige Koordination voraus. Sie lag wohl in den Händen von Hakan Fidan, des früheren Chefs des türkischen Geheimdienstes MIT und jetzigen Außenministers der Türkei. Fidan untersteht unmittelbar dem türkischen Staatspräsidenten und wird als ein möglicher Nachfolger Erdoğans betrachtet.

Der Erfolg in Syrien markierte für die Führungsgruppe in Ankara den Höhepunkt ihrer internationalen Machtstellung. Und sie scheint fest entschlossen, ihre Herrschaft im eigenen Land mit verstärkter Repression gegen Proteste einer aktiver werdenden Opposition zu verteidigen und auszubauen.

Der Krieg um Gaza und die Folgen

Doch der Umsturz in Syrien war nicht allein das Ergebnis einer koordinierten Operation sunnitischer Milizen gegen das von Alawiten dominierte Regime in Damaskus. Dessen Zusammenbruch war auch die unmittelbare Folge des israelisch-palästinensischen Krieges um Gaza, dessen Wirkungen die Machtverhältnisse im gesamten westasiatischen Raum verändert haben und weiter beeinflussen.

Der Überfall der Hamas auf israelisches Territorium löste am 7. Oktober 2023 den bisher längsten und blutigsten Krieg um das Heilige Land aus. Die Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung gehen in die Zehntausende und noch immer sind israelische Geiseln in der Hand der Hamas. Doch von Anfang an war der Krieg nicht nur auf den zwischenzeitlich weitgehend zerstörten Gazastreifen begrenzt. Auch im Süden des Libanon und auf syrischem Gebiet nördlich des Golan wurde und wird gekämpft.

Schiitische Hisbollah-Einheiten, seit vier Jahrzehnten vom Iran ausgebildet und finanziert, waren bis zur Jahresmitte 2024 eine wesentliche Stütze des Assad-Regimes. Während der Kämpfe um Gaza wurden sie aus Syrien abgezogen und an die libanesisch-israelische Grenze verlegt. Dort wurden die gut ausgebildeten Verbände jedoch durch israelische Luftangriffe zerschlagen und ihre Führungsstrukturen weitgehend vernichtet. Dieser Verlust schwächte die Regierung in Damaskus und ihre schlecht bezahlten, wenig motivierten eigenen Truppen leisteten den sunnitisch-fundamentalistischen Milizen, die auf die Hilfe der Türkei und Katars rechnen konnten, keinen ernsthaften Widerstand mehr.

Die Krise des Mullah-Regimes

Der Sturz von Assad und des Alawiten-Regimes in Syrien führte zu einer geopolitischen Zäsur. Sie machte den Iran zum großen Verlierer auf den nahöstlichen Schlachtfeldern. Im Libanon, in Syrien, im Irak und im Jemen hat die expansive Regionalpolitik Teherans ihren Zenit überschritten. Die seit der iranischen Revolution 1979 gegen Israel geschmiedete "Islamische Widerstandsachse" ist während des Jahres 2024 in zentralen Teilen zusammengebrochen.

Politische Unzufriedenheit, gesellschaftliche Unruhe und wirtschaftlicher Niedergang sind im Iran nicht mehr zu übersehen. Die Führung des Landes ist sich ihrer Schwäche bewusst, sie reagiert mit brutaler Härte: 2024 wurden rund 1000 politisch motivierte Todesstrafen verhängt. Gleichzeitig sieht sich das iranische Machtzentrum mit einer entscheidenden Personalfrage konfrontiert: Wer soll Nachfolger des 86-jährigen Ayatollah Ali Chamenei werden? Als aussichtsreichster Kandidat für das Amt des "Obersten Führers" galt Ebrahim Raisi, der frühere Präsident des Iran, der im Mai 2024 bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben kam. Jetzt streiten hinter den Kulissen Teherans die Familien hochrangiger schiitischer Kleriker, einflussreiche Unternehmer und die Islamischen Revolutionsgarden um die künftige Führung des Landes.

Auch in seiner zweiten Amtszeit wird Trump Gewalt als legitimes Mittel amerikanischer Politik gegenüber dem Iran betrachten und, falls aus seiner Sicht erforderlich, auch einsetzen.

In dieser Lage verstärken die USA den Druck auf Teheran. Bereits während seiner ersten Amtszeit ließ Präsident Trump vor mehr als fünf Jahren General Qassem Solimani, den Kommandeur der Auslandseinheiten der Revolutionsgarden, im Irak durch eine US-Drohne töten. Auch in seiner zweiten Amtszeit wird Trump Gewalt als legitimes Mittel amerikanischer Politik gegenüber dem Iran betrachten und, falls aus seiner Sicht erforderlich, auch einsetzen.

Muss Teheran, in den vergangenen Monaten außenpolitisch in die Isolierung geraten, mit fundamentalen Veränderungen und einem Sturz des Mullah-Regimes rechnen? Nach Erfahrungen mit unerwarteten Machtwechseln in Kabul 2021 und in Damaskus 2024 ist eine ähnliche Entwicklung im Iran nicht auszuschließen. Doch wird die Zukunft des Landes vom iranischen Volk selbst zu entscheiden sein.

Die Grenzen kurzfristiger Betrachtung

Angesichts der kritischen Lageentwicklung im Nahen und Mittleren Osten wird das Nachdenken über Machtverschiebungen und die Stärke des politischen Islam weitergehen müssen. Dabei bestätigen die aktuellen Entwicklungen, dass Stärken und Schwächen relevanter Akteure, ihre Möglichkeiten und Grenzen möglichst zeitnah und differenziert zu analysieren sind. Gleichzeitig aber warnen die Erfahrungen der vergangenen Jahre vor der Illusion, der politische Islam und seine Wirkungen ließen sich allein mit dem kalkulierenden Blick auf aktuelle Ereignisse und politisch-militärische Kräftebilanzen zutreffend erfassen. Ohne Einbeziehung langfristiger gesellschaftlicher und geistiger Veränderungen im westasiatisch-nordafrikanischen Raum werden die strategischen Ziele des politischen Islam und ihre Folgen nicht verständlich.

Heute sind weite Landstriche an der nordafrikanischen Küste, große Teile der Sahelzone und die Region zwischen Nil und Indus destabilisiert. Außerhalb einer ganz kleinen, westlich geprägten Bildungsschicht gewinnen unter der jungen männlichen Bevölkerung nicht die liberalen Reformer, sondern die militanten Kräfte des Islam Zulauf.

So erinnern die Reaktionen der deutschen und europäischen Diplomatie auf den Machtwechsel in Syrien ebenso wie ihre erkennbare Nachsicht gegenüber den Machthabern in Teheran an Fehleinschätzungen der Vergangenheit. Die Rebellion der verarmten Bevölkerung Tunesiens und Ägyptens gegen ihre autokratischen Herrscher wurde 2011 von der westlichen Politik und Öffentlichkeit geradezu begeistert begrüßt. Die einprägsame und medial vermittelte Bezeichnung "Arabischer Frühling" erinnerte allzu sehr an den "Prager Frühling" des Jahres 1968. Aber die Erwartung friedlichen Wandels wurde ebenso enttäuscht wie die mit großen finanziellen Zuwendungen unterstützte Hoffnung auf eine langfristige Reformpartnerschaft mit den Transformationsgesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens. Heute sind weite Landstriche an der nordafrikanischen Küste, große Teile der Sahelzone und die Region zwischen Nil und Indus destabilisiert. Außerhalb einer ganz kleinen, westlich geprägten Bildungsschicht gewinnen unter der jungen männlichen Bevölkerung nicht die liberalen Reformer, sondern die militanten Kräfte des Islam Zulauf.

Langzeitperspektiven

Diplomaten in Brüssel und Berlin begründeten ihre positive Reaktion auf den Umsturz in Damaskus mit der Absicht, Erdoğan "im westlichen Lager" zu halten: Die Regionalmacht Türkei sei als Auffangbecken für die islamische Migration in Richtung Europa notwendig und unverzichtbar. Aus kurzfristiger Perspektive ist diese realistische Einschätzung wohl zutreffend. Aber sieht sich die türkische Führung um Erdogan, der gegen die laizistische Opposition des eigenen Landes mit aller Härte vorgeht, im westlichen Lager? Oder verfolgt er als Repräsentant des politischen Islam langfristig Ziele, die mit den Interessen und Idealen Europas nicht zu vereinbaren sind?

Ein 1989 im pakistanischen Peschawar aufgenommenes Video zeigt zwei junge Männer. Sie knien respektvoll zu Füßen Gulbuddin Hekmatyars, des Vorsitzenden der radikal-islamischen Hezb-e Islami, der stärksten Kraft des afghanischen Widerstands gegen die Sowjetunion. Ihm wollen sie als Lehrer und Vorbild ihre Reverenz erweisen. Jahre später wurden beide Männer in ihren Heimatländern herausragende Führer islamischer Parteien, die über die internationale Muslimbruderschaft verbunden sind. Der eine Verehrer Hekmatyars war Rached al-Ghannouchi, der Führer der islamischen Ennehad-Partei Tunesiens, die nach dem "Arabischen Frühling" bei der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung die meisten Stimmen erhielt.

Der andere war Recep Tayyip Erdoğan, der in der Türkei seit 2001 als Vorsitzender der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung AKP, als Minister- und Staatspräsident Schritt für Schritt die ideologische Hegemonie des laizistischen Kemalismus untergrub und beseitigte. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den Islam und die einstige Machtstellung des Osmanischen Reiches richtete er die türkische Politik und Gesellschaft neu aus. Dabei handelte er stets situationsgerecht, war pragmatisch geschmeidig und ging taktisch geschickt vor.

Aus seinem strategischen Langzeitprogramm machte Erdoğan allerdings kein Hehl, ja er war sogar bereit, dafür ins Gefängnis zu gehen. Als Bürgermeister von Istanbul wurde er 1999 seines Amtes enthoben und zu einer Haftstrafe von zehn Monaten verurteilt, von denen er immerhin vier absitzen musste. Nicht Erdoğans Aussage, die Demokratie sei lediglich eine Straßenbahn, "in die wir einsteigen, bis wir am Ziel sind", begründete das Urteil, sondern die Tatsache, dass er 1997 vier Zeilen eines Gedichts des türkischen Denkers und Dichters Ziya Gökalp (1876-1924) öffentlich zitierte. Es beschrieb die Zukunft visionär als Synthese von Moderne und militantem politischen Islam:

Die Moscheen sind unsere Kasernen,
die Kuppeln unsere Helme,
die Minarette unsere Bajonette
und die Gläubigen unsere Soldaten.

 

Wenn Sie keinen Beitrag mehr verpassen wollen, abonnieren Sie gerne unseren Whatsapp-Kanal!

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt gratis testen