Aus unserer Reihe "Gut katholisch"Miteinander glauben statt gegeneinander

Entdeckungen und Erfahrungen des Katholisch-Seins – Vorsätze und Ansätze, den Glauben zu leben

Katholisch bin ich, aber aus Niedersachsen, also aus der „Diaspora“. Für mich war das gut. Die Attitüde einer übermächtigen Kirche habe ich als Kind nicht kennengelernt. In Hannover, meiner Heimatstadt, war die katholische Kirche aber auch nicht so klein, dass sie muffig gewesen wäre. Ich bin bis heute froh, wenn eine Kirche offen ist; aber ich bin nicht davon abhängig, dass mir jemand die Tür aufhält, sondern von Jugend auf gewohnt, mir Freiräume des Glaubens zu schaffen. Den Sonntagsgottesdienst hat unsere Gemeinde im Hinterzimmer einer Gastwirtschaft gefeiert und erst später in einer neu erbauten Kirche. 2009 wurde sie abgerissen. Wie groß und weit und schön ein Haus des Glaubens sein kann: Die erste Ahnung kam in mir auf, als mich meine Oma in den Hildesheimer Dom mitgenommen hatte.

Weil mein Religionsunterricht in der Oberstufe so schlecht war, habe ich mich für Theologie interessiert – und ob ich ohne das Studium heute noch kirchlich engagiert wäre, weiß ich nicht. In Münster habe ich kennengelernt, wie unaufgeregt prägend eine katholische Mehrheit sein kann. Vor allem hat mich das intellektuelle und spirituelle Abenteuer, den Glauben auf den Prüfstand der Vernunft zu stellen, begeistert – bis heute. Dabei wurde für mich zentral: Katholisch ist es, nicht gegen andere zu glauben, sondern mit anderen. Zwar ist es immer ein Traum geblieben, zu sein, was der Name „katholisch“ verspricht: eine Kirche für alle. Aber dieser Traum ist lebendig. Die katholische Kirche ist eine Weltkirche, die zusammenhält. Sie ist bunter, vielsprachiger, weiträumiger als alle anderen Kirchen, allein schon wegen ihrer Größe. Aber der Wille, mehr noch: der Wunsch und die Sehnsucht, eine Kirche zu sein, ist gleichfalls stärker als in anderen Gemeinschaften ausgeprägt. Das heißt nicht, dass es ideal wäre, im Gleichschritt zu marschieren: Das katholische Versprechen besteht darin, einander nicht aus dem Blick zu verlieren und auf Augenhöhe füreinander einzutreten.

Das Verhältnis von Einheit und Vielfalt ist ein Schlüsselthema. Laissez-faire ist keine Option. Aber wenn die Zügel angezogen werden sollen, wird es gefährlich: weil die katholische Kirche eine Weltkirche ist, mit einer Hierarchie, die agiert, und mit einem Kirchenrecht, das durchgesetzt wird – und mit knapp 1,5 Milliarden Mitgliedern, die zur Freiheit berufen sind. Das Lehramt hat in den letzten Jahrzehnten zu oft versucht, in den intimsten Fragen vorzuschreiben, was richtig und falsch sei. Humanae Vitae, die „Pillenenzyklika“ von Papst Paul VI., der 1968 die „künstliche Empfängnisverhütung“ verbieten wollte, hätte ein warnendes Beispiel sein müssen. Aber nach wie vor scheint alles, was mit Sex zu tun hat, eine enorme Anziehungskraft auf die katholische Katechismus-Moral auszuüben – und nach wie vor sollen es vor allem Verbote und Verwerfungen sein, die sichern, was katholisch sei: kein Sex vor der Ehe, keine praktizierte Homosexualität, keine Transgeschlechtlichkeit. Diese Fixierung ist ein Irrweg. Sie diskreditiert verantwortete Freiheit – und verspielt die kirchliche Autorität. Leute von heute hatten früher ein schlechtes Gewissen, haben sich später die Übergriffe verbeten – und setzen sich inzwischen gar nicht mehr mit den katholischen Vorgaben auseinander. Was am Evangelium gut ist, sollte aber nicht vergessen werden: Leib mit Seele, Sex aus Liebe, Ehe in Treue.

„Katholikale“ Eiferer halten sich für die Elite und sprechen liebend gerne anderen ab, katholisch zu sein, wenn sie nicht so fromm, nicht so streng, nicht so enthusiastisch wie sie selbst sind. Aber sie verkennen, dass sie an Modellen aus dem 19. Jahrhundert kleben, die gegen die Aufklärung entwickelt worden sind. Sie missverstehen, dass man gut katholisch auch dann sein kann, wenn man kirchlich in der Deckung bleibt: weil ja andere auch für einen selbst in die Kirche gehen und weil die Kirche nicht durch das Engagement von Einzelnen entsteht und nicht nur im Moment der Zusammenkunft existiert, sondern eine vorgegebene Größe ist, die Zeiten und Räume übergreift. Die Orden haben durchaus mit Standesdünkel zu kämpfen, wissen aber von ihrer Gründung her, dass sie die große Mehrheit der Gläubigen entlasten, wenn sie besondere Orte, besondere Momente, besondere Formen des Christseins gestalten.

Weil der moralische und dogmatische Druck in der katholischen Kirche vielerorts noch so groß ist, wird von denen, die nach vorne denken, die Vielfalt betont. Die ur-katholische Intuition besteht darin, ihren Reichtum zu schätzen. Aber bei aller Freude über polyphone Harmonien gibt es auch Misstöne und Dissonanzen. Es tut not, Unterscheidungen zu treffen und Orientierung zu geben. Vielleicht wäre eine antizyklische Überlegung angebracht: was die katholische Kirche eint. Die sieben Sakramente gehören dazu, der Papst in Rom, das Bischofsamt, das Zweite Vatikanische Konzil, die Heilige Schrift, zusammen mit der lebendigen Tradition, das Glaubensbekenntnis, die Liturgie, das Gesangbuch, die Marienverehrung, die Heiligen, die Caritas, lokal und international. Nicht, dass immer alles verstanden oder gutgeheißen würde, was geschrieben steht und verlautbart wird – aber für die meisten gilt: von allem nicht zu viel und nicht zu wenig. Das richtige Maß macht es aus. Dass die Identität der katholischen Kirche im Kampf gegen das „Gendern“ besteht, sagt nur eine kleine Minderheit – die aber in den Sozialen Medien so tut, als ob sie ganz groß sei.

Die Theologie muss die weiten Horizonte des Glaubens und Denkens ermessen, die durch die Heilige Schrift, die Tradition und die „Zeichen der Zeit“ entstehen. Am wichtigsten ist der „Glaubenssinn des Gottesvolkes“: der Lebenserfahrung und religiöse Praxis vermittelt, ohne Extremismus, ohne Beliebigkeit, stattdessen mit Herz und Verstand, Gottvertrauen und Nächstenliebe.

Der Missbrauch geistlicher Macht hat das katholische Selbstbewusstsein allerdings schwer erschüttert. Ich muss gestehen, dass ich mir vor 2010 das Ausmaß nicht vorgestellt und die systemischen Dimensionen nicht klargemacht habe. Als Kind habe ich zwar schon gelernt: „Wir gehen ja nicht wegen des Pastors in die Kirche“ – was für durchaus gemischte Erfahrungen der Familie mit Geistlichen spricht. Aber als Messdiener, als Lektor und Katechet, als Ehemann und Vater, als Schüler, Freund und Lehrer von Priestern sind mir nicht nur Katastrophen erspart geblieben, sondern auch viele gute Momente im Haus der Kirche geschenkt worden.

Inzwischen ist durch intensive Forschungen, durch die kritische Öffentlichkeit und vor allem durch die Selbstermächtigung der Betroffenen deutlich geworden, dass keineswegs alles nur schöner Schein war, dass aber die katholische Kirche trotz – oder wegen? – ihres hohen moralischen Anspruchs nicht besser dasteht als andere Kirchen und gesellschaftliche Gruppen. Das spezifisch katholische Problem: „heilige Männer“ hoch oben auf dem Podest. Eine Reform ist überfällig – und Synodalität ist das Stichwort für diejenigen, die auf Umkehr und Erneuerung setzen. Ich bin dankbar, dass sich mir die Chance bietet, an diesem Prozess mitzuwirken. Ich bringe ein, was ich im Neuen Testament lese: die Verheißung, dass die Gottesliebe das Menschsein bereichert, auch das Miteinander.

Über die Exegese bin ich in die Ökumene und in die Politik gekommen: Katholisch zu sein, ohne ökumenisch zu sein, ist ein Widerspruch. Für die katholische Kirche ist es ebenso herausfordernd wie inspirierend, zu erkennen, dass es Alternativen gibt – und dass Glaubensunterschiede nicht Feindschaft, sondern Freundschaft begründen können. Als Neutestamentler ist mir klar geworden, wie wichtig der jüdisch-christliche Dialog für den Kampf gegen den Antisemitismus ist, zumal denjenigen, der sich religiös munitionieren will.

Katholisch zu sein, ohne politisch zu sein, ist gleichfalls ein Widerspruch. Mit dem lieben Gott durchregieren zu wollen, war zwar immer ein schwerer Fehler, politisch und religiös. Aber sich in eine Nische zurückzuziehen, auch. Dass ich ins Zentralkomitee der deutschen Katholiken gewählt wurde, hat mir gezeigt, wie eng das Engagement für gesellschaftlichen Zusammenhalt und internationale Verantwortung damit verbunden ist, eine klare, verständliche Sprache des Glaubens zu sprechen und innerkirchliche Verhältnisse zu schaffen, die im Sinne Jesu sind. Von schwachen Kirchen hat die Demokratie nichts – aber von einer starken Demokratie profitieren die Kirchen sehr.

Weltweit wächst die katholische Kirche, hierzulande schrumpft sie: aufgrund gesellschaftlicher Megatrends, die institutionelle Bindungen schwächen, aber auch aufgrund eigener Fehler. An erster Stelle steht der institutionalisierte Patriarchalismus. Wer vorankommen will, muss den Reformstau auflösen; wer aus der „Diaspora“ kommt, weiß, dass es Alternativen zur Volkskirche gibt; und wer die Geschichte kennt, dem wird um die Zukunft nicht bange. Also: Gerne öfter gut katholisch sein. Und am besten bei mir selbst anfangen.

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