Würden Sie so mit Ihrer Mutter reden? Oder mit Ihrer Schwester? Oder mit Ihrem Bruder? Wahrscheinlich eher nicht. Und schon gar nicht so, dass Sie Ihrer eigenen Mutter und Ihren Geschwistern absprechen, Ihre Mutter und Ihre Geschwister zu sein. Aber genau das macht Jesus: Seine Familie, das sind die Jünger, die mit Jesus zusammenleben und umherziehen. Das ist seine Familie. Oder wie es der letzte Satz des Predigttextes sagt: Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
Jesus lässt sich nicht durch seine Familie davon abbringen, das Evangelium zu verkünden und den Willen Gottes zu tun. Es kann gut sein, dass Jesus und seine Jünger und alle, die mithörten, die damalige Situation als brenzlig empfunden haben. Denn es fällt auf, dass zwar Maria und die Geschwister zu Jesus kommen, aber von Josef nicht die Rede ist. Es kann gut sein, dass Josef verstorben ist und nun der älteste Sohn, der Jesus ja nun einmal ist, die Rolle des Vaters übernehmen soll, um für die Familie zu sorgen. Das lehnt Jesus ab. Sein Auftrag ist ein anderer.
Kommen wir nicht manchmal auch in solche oder ähnliche Loyalitätskonflikte? Dann, wenn zwei Seiten auf uns einwirken, entweder das eine oder das andere zu tun? Ich denke an Familien, die keinen Bezug zum Glauben, zur Kirche und zum Christentum haben. Da findet ein Familienmitglied zum Glauben und lässt sich taufen. Und lebt seinen Glauben. Das führt unweigerlich zu erheblichen Spannungen in der Familie.
Oder wenn Menschen, die als Migranten mit muslimischem Glauben nach Deutschland kamen, hier den christlichen Glauben gefunden haben und sich taufen lassen. Das ruft erhebliche Spannungen in den Familien hervor, auch in der Großfamilie, die ja zum Teil weiterhin in muslimischen Ländern lebt. Manchmal brechen dadurch ganze Familien auseinander, Kontakte werden abgebrochen.
Wie leben wir heute als Christen? Gibt es für uns diesen Gegensatz zwischen Familienzugehörigkeit und Glaubenszugehörigkeit noch? Die meisten von uns kommen aus christlichen Familien. Da sind Glaube und Taufe eine Selbstverständlichkeit und gehören zum Familienleben dazu.
Was bedeutet es, den Willen Gottes zu tun? Genau darum ging es Jesus. Es ging ihm nicht um die Beziehungen in den Familien, sondern um den Willen Gottes. Und die den Willen Gottes tun, die sind Jesu Familie.
Gilt das für uns heute genauso? Gehören wir zur Familie Jesu? Und: Woher wissen wir, was der Wille Gottes für uns heute ist? Auf wen sollen wir hören?
In jedem Fall gilt: Auf Jesus zu hören, lässt uns den Willen Gottes erkennen. Dazu lesen wir die Bibel und hören auf die Predigt. Aber das allein ist ja noch nicht Familie. Zur Familie Jesu gehört für uns heute die Kirche. In der Kirche, in der Gemeinde kann und wird darüber gesprochen, beraten, auch manchmal gestritten, was für uns heute der Wille Gottes ist. Wie leben wir unser Christsein heute? Was soll gelten, was lehnen wir ab? Das innerkirchliche Gespräch, das Gespräch in der Gemeinde, der persönliche Austausch, das gemeinsame Gebet sind dafür unerlässlich. Ja, dann fühlen wir uns wie eine Familie, wenn wir uns darüber verständigen, was der Wille Gottes für uns heute ist.
Und das merkt man auch. Egal, ob wir mit Christen aus Deutschland oder Europa, aus Amerika oder Afrika, ja von überall her zusammenkommen, sind die Unterschiede der Sprache, der Kultur, der Lebensart recht deutlich zu spüren. Aber wir spüren auch, dass wir uns als Schwestern und Brüder im Glauben erkennen können. Wir sind eine Familie, die von Gott durch den Heiligen Geist gewirkt ist. Wir sind eine geistliche Familie, nicht eine biologische Familie.
Wie ging es mit Jesu biologischer Familie weiter? Ganz genau wissen wir das nicht. Was wir aber wissen, ist, dass Maria, die Mutter Jesu, in der Römisch-katholischen Kirche, aber auch in anderen Kirchen, sehr verehrt wird. Vor Marienstatuen finden sich oftmals Blumen und Kerzen. Sie ist also nicht vergessen. Und die Apostelgeschichte (1,14) erzählt, dass nach der Himmelfahrt Jesu sich die Urgemeinde versammelte und dass Maria und die Brüder Jesu dazugehörten. Die Apostelgeschichte berichtet weiter, dass der Herrenbruder Jakobus die Leitung der Urgemeinde in Jerusalem übernahm, nachdem Petrus aus Jerusalem fliehen musste (Apostelgeschichte 12,17; Galater 2,9; Apostelgeschichte 15,13; 21,18). Jakobus hat offenbar eine führende Rolle eingenommen. Biologische und geistliche Familie müssen sich also nicht widersprechen.
Familie ist uns wichtig, unser Glaube ist es ebenso. An Jesu biologischer Familie können wir erkennen, dass der Wille Gottes die eigenen natürlichen Beziehungen nicht unbedingt außer Kraft setzt. Stattdessen kann die Kraft Gottes diese Beziehungen so verwandeln, dass der Glaube zu einer neuen Grundlage wird. Zu einer Grundlage, die uns mit der ganzen Christenheit verbindet.