20. Sonntag nach Trinitatis (02.11.2025)
Micha 6, 8: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.
Elternabend 11. Klasse, Gymnasium. Jugendliche im Umbruch: Auf einmal Oberstufe, aber so richtig dann doch noch nicht. Irgendwie schon erwachsen, aber unterschreiben müssen die Eltern noch. Auf einmal wird man gesiezt in der Schule, aber mit dem Vornamen genannt. Bald werden die Fächer gewählt für die Leistungskurse, aber erstmal einarbeiten, neu ankommen, zurechtkommen.
Elternabend 11. Klasse, Gymnasium: Eltern im Umbruch. Die Kinder schon groß, aber noch angewiesen auf bestimmte Dinge. Eigenständig, unnahbar manchmal, aber auch immer wieder der Nähe bedürftig, vielleicht auf ganz merkwürdigen Wegen. Da muss neu tariert werden. Neu ausgehandelt, was jetzt geht, was noch nicht geht, was nicht gehen soll und was dann eben heimlich gemacht wird.
Was gibt man diesen Jugendlichen mit, als Klassenlehrer? Was gibt man Eltern mit? Was gibt man mit in dieser Welt, in diese Welt hinein, was gibt man mit – in unserer Zeit?
Ganz am Ende habe ich ein Gedicht gelesen, als alles Wichtige besprochen war, Klassenfahrt, Praktikum, Wahl der Elternvertretung, was so anliegt. Ganz am Ende habe ich ein Gedicht gelesen von Hanns Dieter Hüsch, und dann habe ich sie entlassen in den noch jungen Abend – mit Hoffnung und Mut, dass wir zusammen etwas machen können aus dieser Welt, trotz allem:
Bedenkt, dass jetzt um diese Zeit
der Mond die Stadt erreicht.
Für eine kleine Ewigkeit sein Milchgesicht uns zeigt.
Bedenkt, dass hinter ihm ein Himmel ist,
den man nicht definieren kann.
Vielleicht kommt jetzt um diese Zeit
ein Mensch dort oben an.
Und umgekehrt wird jetzt vielleicht
ein Träumer in die Welt gesetzt.
Und manche Mutter hat erfahren,
dass ihre Kinder nicht die besten waren.
Bedenkt auch, dass ihr Wasser habt und Brot,
dass Unglück auf der Straße droht,
für die, die weder Tisch noch Stühle haben
und mit der Not die Tugend auch begraben.
Bedenkt, dass mancher sich betrinkt,
weil ihm das Leben nicht gelingt,
dass mancher lacht, weil er nicht weinen kann.
Dem einen sieht man‘s an, dem andern nicht.
Bedenkt, wie schnell man oft ein Urteil spricht.
Und dass gefoltert wird, das sollt ihr auch bedenken.
Gewiss, ein heißes Eisen, ich wollte niemand kränken,
doch werden Bajonette jetzt gezählt, und wenn eins fehlt,
es könnte einen Menschen retten,
der jetzt um diese Zeit in eurer Mitte sitzt,
von Gleichgesinnten noch geschützt.
Wenn ihr dies alles wollt bedenken,
dann will ich gern den Hut,
den ich nicht habe, schwenken.
Die Frage ist, die Frage ist,
sollen wir sie lieben, diese Welt?
Sollen wir sie lieben?
Ich möchte sagen, wir wollen es üben.
(Hanns Dieter Hüsch: Ich möcht ein Clown sein, Düsseldorf 2002, Seite 97 f.)
Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres (09.11.2025)
Matthäus 5, 9: Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.
(Es sollte dazu das Bild „Hinter dem Vorhang“ von Banksy gezeigt werden, das im Internet in verschiedenen Varianten leicht zu finden, aber leider nur käuflich zu erwerben ist.)
Zwei Kinder vor einer grauen Wand. Sie sind selbst auch schon grau geworden in einer Welt, die aus schwarz und weiß besteht. Wir sehen es: Dort, vor dem Vorhang, wo sie stehen, da gibt es schwarz und weiß, und manchmal mischt es sich zu grau. Eine Welt in Schwarz und Weiß: Das ist eine Welt, die nur in entweder – oder denkt. Es gibt Freund oder Feind. Es gibt absolut richtig und absolut falsch. Es gibt richtige Meinungen und falsche Meinungen – und die richtigen Meinungen sind zum Glück immer die eigenen. Mit den anderen muss man dann auch nicht mehr reden, die haben ja so unerträglich unrecht. In einer Welt, in der alles schwarz und weiß ist, kann höchstens noch ein Grau zustande kommen. Aber das war es. Jede Farbe, jede Fröhlichkeit fehlt.
Die Welt schwarz und weiß. An manchen Stellen grau. Aber keine Farbe, keine Freude. Und ich glaube, es geht vielen manchmal so: Dass wir nur noch schwarz und weiß sehen, Freund und Feind, richtige und falsche Meinung. Im besten Fall kommt mal ein Grau heraus. Aber nur im Grau kann niemand leben, da ist keine Lebensfreude.
Auf dem Bild haben die Kinder einen Ausweg gefunden. Sie ziehen einen Vorhang beiseite, und dahinter entdecken sie eine bunte, schöne Welt. Und diese bunte Welt besteht aus verschiedenen Begriffen: Liebe, Gerechtigkeit, Gleichheit, Vertrauen. Und Frieden. Mutig greifen die Kinder nach dem Vorhang und ziehen ihn zur Seite, weil sie neugierig sind auf diese andere Welt, die nicht nur schwarz und weiß kennt, sondern die bunt ist! Weil da Frieden ist, in aller Buntheit der Frieden und die Gerechtigkeit und die Liebe und das Vertrauen. Mit kindlichem Entdeckerdrang und mit (Über-)Mut lässt sich hinter dem Vorhang eine andere Welt in der grauen Welt entdecken.
Doch wie kommen Kinder, wie kommen Jugendliche, wie kommen Erwachsene dazu, den Vorhang mal wieder zur Seite zu ziehen? Wie bekommen wir alle Mut, wieder in einer bunten, vielfältigen Welt zu leben? Wie kommen wir dazu, unsere weiß-schwarzen Meinungen wegzuwerfen und die Meinungen der anderen zu entdecken?
Es ist seit je her ganz einfach, und die Bibel macht es vor: Erzählt Geschichten. Und ja: Die Kriegsparteien erzählen sicher gute Geschichten; es ist ja so, dass überall Menschen ihre Geschichten erzählen, und dass man manchmal nicht mehr weiß, welche richtig sind. Das können wir auch nicht klären. Aber wir können selbst anfangen, Geschichten zu erzählen. Wir können Geschichten von gelingendem Frieden erzählen, von Liebe, Gerechtigkeit, Gleichheit, Vertrauen. Und von Frieden. Wenn schon nicht für uns, dann für die Kinder. Denn wenn diese lernen, Frieden zu schaffen, wenn die Kinder lernen, friedlich miteinander umzugehen, dann gibt es vielleicht wirklich die Chance, dass sie den grauen Vorhang der Geschichte zurückziehen und dahinter eine bunte, freundliche, friedliche Welt entdecken, in der sie viel lieber und viel besser leben können.
Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (16.11.2025)
2. Korinther 5, 10a: Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.
Gerädert von deiner Sonne,
gerädert von deinem Mond
und in die Scherben der Sterne geschleudert –
was willst du, daß ich bekenne?
Mein Bräutigam war ohne Pferdehuf,
wir haben uns niemals über die Erde,
über das Tal aller Tränen erhoben,
nie deine Gewitter besprochen.
Wenn ich das könnte, wofür du mich quälst,
hätt` ich den Schwund meiner Zuflucht verhindert
und wäre gewiß nie ins Räderwerk
deiner Verfolgung gefallen.
Du sollst meine Knochen zusammenfügen,
mein Herz und Gehirn auf dem rechten Ort
einsetzen wieder, bevor du – o Herr –
mein sanftes Geständnis empfängst.
(Lavant, Christine: Zu Lebzeiten veröffentliche Gedichte, herausgegeben und mit Nachworten versehen von Doris Moser und Fabjan Hafner, Göttingen 2014, S. 154.)
Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi! Angst und Bange kann einem werden, wenn man das hört. Und gegen diese verheißende Bedrohung, gegen diese bedrohliche Verheißung erklingt eine laute Klage: Gerädert von deiner Sonne, gerädert von deinem Mond und in die Scherben der Sterne geschleudert – was willst du, dass ich bekenne? Sonne, Mond, Sterne – alles schreit Gericht, wo doch eigentlich die Güte Gottes so weit reichen soll wie der Himmel ist.
Wenn ich das könnte, wofür du mich quälst, hätte ich den Schwund meiner Zuflucht verhindert und wäre gewiss nie ins Räderwerk deiner Verfolgung gefallen. Es ist ungerecht, dieses Gericht, aber ich fürchte mich doch vor deinem Zorn, der mich trifft und mir im wahrsten Sinne durch Mark und Bein geht. Denn es ist doch so, dass du Gott bist. Der, von dem man alles erwarten kann, aber eben auch alles befürchten muss. Dessen Zorn heilig ist, weil er selbst heilig ist. Und tief im Innern, vielleicht weiß ich da sogar, dass ich diesen Zorn doch verdient habe, obwohl ich etwas anderes behaupte: Mein Bräutigam war ohne Pferdehuf, wir haben uns niemals über die Erde, über das Tal aller Tränen erhoben, nie deine Gewitter besprochen – was sind das für Ausreden, wenn ich ansehe, wie wenig Lob und Dank ich dir eigentlich bringe. Mein Leben ist nicht so, dass es gut ist. Wer mit sich im Reinen ist, ist einfach blind geworden für Unrecht und Leid, das er verursacht.
Aber Gott, und das ist das unerklärliche, das nur staunend wahrzunehmende Wunder, er zeigt sich als der, den wir lieben dürfen, obwohl er der ist, den wir fürchten müssten. Er ist der, der uns über dem Abgrund des Nichts hält und dessen Hand mich nicht mehr loslässt, obwohl manches oder sogar alles dafür spräche, dass er es tut. Bei aller Drohung, die Paulus uns mit seinem Text hinmalt, das ist ihm doch eine Gewissheit: Der Zorn Gottes ist nicht das erste und letzte Wort, er ist das Wort in der Mitte. Umschlossen ist dieser Zorn von der Liebe Gottes, von seinem Zutrauen, dass wir seine Mitarbeiter sein können. Es ist heiliger Zorn, ein gerechter Zorn, aber einer, der von Gottes heiliger Liebe und Güte getragen ist. Wenn wir vor dem Richterstuhl offenbar werden, dann mit unseren Verfehlungen – aber eben auch als Geschöpfe, eigentlich erst wirklich als Geschöpfe werden wir dort offenbar, wo nichts anderes uns mehr Ausrede und Ausweg sein kann vor der überschwänglichen Liebe, die uns so fremd ist, weil wir sie im Leben nicht kennen.
Heinrich Heines letzte Worte sollen gewesen sein: „Gott wird mir vergeben – das ist sein Beruf.“ Ob sie es wirklich waren, wissen wir nicht. Aber besser und wahrer erfinden könnte selbst er sie nicht.
Ewigkeitssonntag (23.11.2025)
Psalm 90, 12: Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.
Gerade war Totensonntag. Wir haben an die gedacht, die uns voraus gegangen sind – vor kurzem oder schon vor einiger Zeit –, die wir verloren haben und nun vermissen. Wir haben unsere Hoffnung ausgedrückt, dass sie bei Gott sind, und dass er sie bewahrt. Und wir haben ihre Namen genannt und Kerzen angezündet in der Kirche und vielleicht zu Hause auch. Damit haben wir den Totensonntag für uns zum Ewigkeitssonntag gemacht, wir haben der Dunkelheit ein Licht entgegengestellt. Wir haben gezeigt, dass wir dem Tod nicht das Letzte Wort lassen wollen. Und wir haben nicht nur getrauert, sondern auch gehofft: So flackernd wie eine Kerze vielleicht, so zart wie das Licht eines Teelichts, aber doch gehofft!
Und im Grunde gleich schon haben wir Advent, und wieder werden Kerzen angezündet, am Adventskranz diesmal. Eine Freudenzeit soll das sein: Tochter Zion, freue dich! Gut aber, dass es vier Wochen sind, bis die Weihnachtstage kommen. Gut, dass es vier Kerzen gibt, die wir entzünden können, ganz langsam. Zumindest für mich ginge das sonst zu schnell, meine Seele muss hinterherkommen, von der Trauer zur Freude am Weihnachtsfest.
Die Kerzen, sie verbinden das alte und das neue Kirchenjahr, einmal am Ende und nun am Anfang leuchten sie uns. Auf den ersten Blick flackern sie in ganz verschiedene Richtungen. Die eine Kerze erzählt vom Abschied, vom Gehen-Lassen-Müssen, vom Verlust auch und von der Trauer. Sie leuchtet von uns weg. Die andere Kerze, die jetzt, die im Advent, die erzählt vom Kommen-Lassen-Können, vom Warten auf das große Fest, von Jesu Geburt: Gott kommt in die Welt. Sie leuchtet zu uns her.
Und doch: Nicht ganz in unterschiedliche Richtungen leuchten sie, oder vielleicht doch in zwei Richtungen, aber sie treffen sich in der Mitte. Die Kerzen am Ewigkeitssonntag und die im Advent, sie beide erzählen: Vom Leben, und nur deswegen vom Tod. Trauer und Freude, beides gehört da hinein, und das Evangelium, das zum 1. Advent gehört, es steht genau dafür. Es ist ja eigentlich ein Palmsonntagstext: Jesus zieht in Jerusalem ein, in die Stadt, in der er sterben wird, in der er sich dem Tod aussetzt. Diesen Text am 1. Advent? Ja, ganz genau. Weil eben beides zusammengehört: Die Hirten auf dem Felde, die angesichts der Geburt Jesu singen und fröhlich sind, und die Jünger, die ansehen müssen, wie Jesus gekreuzigt wird. Beides gehört zusammen: Gott in der Krippe, der zu den Menschen kommt, und Gott am Kreuz, von allen Menschen verlassen. Und beides gehört zusammen: Unsere tränenblinden Augen am Grab ebenso wie die leuchtenden Kinderaugen am Weihnachtsbaum. Der Totensonntag und der 1. Advent, der Ewigkeitssonntag und Weihnachten, das Licht für die Toten und das Licht am Adventskranz, beides gehört zusammen.
1. Advent (30.11.2025)
Sacharja 9, 9a: Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.
(Hinweis: Das Lied „Nun komm, der Heiden Heiland“ wird, unterbrochen von kurzen Gedanken-Impulsen, gesungen.)
Eine Sehnsucht steht am Anfang des Liedes von Martin Luther. Ein Ruf, den ewigen Bergen entgegen, zum Heiland Jesus Christus steht am Anfang dieses Advents. Eine Hoffnung steigt hinauf in den Himmel, eine Hoffnung, die herkommt davon, dass es schon einmal passiert ist, in Bethlehem, damals. Ein Warten beginnt, dass es wieder passieren möge, auch in diesem Jahr, gerade in diesem Jahr. Ein Bekenntnis wird laut, dass Er nötig ist auch in unserer Zeit, gerade in unserer Zeit. So beginnt Luthers Lied:
Nun komm, der Heiden Heiland,
der Jungfrauen Kind erkannt,
dass sich wunder alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt.
Gott wird Mensch. Das ist schnell gesagt und schwer verstanden. Es entzieht sich immer wieder dem Verstehen. Es Entzieht sich aber nicht dem Besingen und dem Loben:
Er ging aus der Kammer sein,
dem königlichen Saal so rein,
Gott von Art und Mensch, ein Held;
sein’ Weg er zu laufen eilt.
Die Erde ist Christus so nah wie der Himmel, Gott ist ihm so nah wie der Teufel. Einmal alles mitgemacht, das Geborenwerden und das Sterben, das Leben und den Tod. Die Hölle überlebt im Dunkel und in der dröhnenden Stille des Karsamstags. Die Dornenkrone hat sich im blendenden Licht der Herrlichkeit Gottes zur Königskrone verwandelt:
Sein Lauf kam vom Vater her
und kehrt wieder zum Vater,
fuhr hinunter zu der Höll
und wieder zu Gottes Stuhl.
In der Mitte der Heiligen Nacht blüht der Anfang einer neuen Erde und eines neuen Himmels. Lichtumglänzt und strahlend, vom noch ganz zerknautschten Gesicht eines friedlich schlafenden Babys breiten sie sich aus:
Dein Krippen glänzt hell und klar,
die Nacht gibt ein neu Licht dar.
Dunkel muss nicht kommen drein,
der Glaub bleib immer im Schein.
Wir warten noch, doch das Licht leuchtet schon in der Ferne. Es leuchtet uns entgegen aus der offenen Zukunft Gottes. Es leuchtet uns entgegen aus der stillen und heiligen Nacht damals. Und manchmal trifft uns mitten im Alltag, jetzt schon, aus der Vergangenheit und aus der Zukunft, der Morgenglanz der Ewigkeit und vertreibt alle Todesnächte, alle Schatten auf der Seele, alle schwarzen Gedankenwolken – und von den Bergen der Ewigkeit kommt uns ein Ruf zurückgeweht. Und auch am 1. Advent kann das Lied nicht anders als mit einem Lobpreis enden, in allem Warten auf den gerechten König, der uns hilft, und in der gewissen Hoffnung, dass er kommt:
Lob sei Gott dem Vater g’tan;
Lob sei Gott seinem ein’gen Sohn,
Lob sei Gott dem Heilgen Geist
immer und in Ewigkeit.