Liebe Leserinnen und Leser der Pastoralblätter,
Seelsorgerinnen und Seelsorger lernen im Vikariat, dass die wichtigsten Worte bei einem Besuch oft die letzten sind. Meist sind es leise Worte, diese letzten, manchmal ganz beiläufig geäußert, geflüstert schon beim Händedruck und in der Rückwärtsbewegung, manchmal herausgestoßen wie schwerer Atem. Die Verabschiedung zwischen Tür und Angel befreit offenbar noch einmal die Seele, kratzt den letzten Mut zusammen, der bislang gefehlt hat, um doch noch etwas Wichtiges loszuwerden und mitzugeben.
Ich sitze im Vorgespräch zu einer Jubelhochzeit; alles Wesentliche wurde geplant, erinnert, gewünscht. Die Schweigepausen werden irgendwann länger, mein Blick wandert zur Uhr. Und dann: Der Jubilar bleibt am Tisch sitzen, seine Frau bringt mich lächelnd zur Tür. Ich bin schon draußen, warte auf die schwere Holztür, die hinter mir ins Schloss fällt. Das Klacken bleibt aus, stattdessen höre ich eine leise Stimme, die zu meinem Rücken spricht: „Hoffentlich darf ich den Tag noch erleben; ich habe Krebs, es ist nichts mehr zu machen. Ich wollte das vor meinem Mann nicht ansprechen.“ Mein Umdrehen erinnere ich in Zeitlupe. Wir verabredeten ein neues Treffen, um über ganz andere Dinge als über ein Lebensfest zu sprechen, zu zweit.
In diesem Fall war es sehr deutlich und nicht zu überhören. Meist kommen die letzten Worte noch leiser, zwischenzeilig, verschlüsselt mit einem fragenden Blick, und oft kommen sie zuletzt. Wir wurden als junge Vikarinnen und Vikare darin geschult, auf letzte Worte zu achten, bloß nicht im Hinausgehen schon mit den Gedanken beim nächsten Termin zu sein, beim Einkauf, im Kindergarten, im Arm der Liebsten. Wir wurden sensibilisiert für die Bedeutung letzter Worte.
Die Beobachtung aus der Seelsorgepraxis umweht ein Geheimnis: Warum eigentlich wird das Wesentliche zwischen Menschen nicht während einer stundenlangen, tage- oder sogar lebenslangen Begegnung auf den Tisch gelegt, sondern erst dann, wenn es (fast) schon zu spät dazu ist? In Trauergesprächen höre ich den bedauernden Satz: „Wir hatten doch noch so viel zu besprechen miteinander.“ In das unmittelbare Schweigen danach legt sich quer dazu ein Gedanke zwischen all die notierten Lebenserinnerungen: Hat die gemeinsame Zeit, haben all die Jahre zwischen uns denn dazu nicht gereicht? Worüber sprechen wir Menschen denn ein Leben lang miteinander, besser gefragt: worüber nicht? Wenn es letzte Worte sind, zeigen sie Wirkung.
Berühmte letzte Worte gibt es ohne Zahl. Doch warum schreibt man den letzten Atem eines Menschen in Worten auf, was ist das Besondere eines letzten auf dieser Erde geäußerten Gedankens? Diese besondere Aufmerksamkeit ist mit dem Geheimnis einer größeren Bedeutung umweht. Kommt da etwa die mit schon geschlossenen Augen geflüsterte und doch sehende Botschaft aus einem anderen Leben herbei? Oder ist es die wirkmächtige, knappe Zusammenfassung von dem, was einem Menschen in seinem Leben sprichwörtlich bis zum letzten Atemzug wichtig erschien? Will die Nachwelt vielleicht sogar nachprüfen, ob jemand „Größe“ bewahrt und seiner und ihrer Überzeugung treu und konsequent verbunden bleibt bis zum Tod? Oder ist es gar ein „höherer“ Auftrag, der sich da auf die Schultern der Hinterbliebenen legt? Vielleicht auch die längst herbeigesehnte und nun ausgesprochene Vergebung, ein Segen oder gar ein Fluch, der durch ein Sterbezimmer geistert und sich in das Leben derer legt, die noch hierbleiben? Der Aufmerksamkeit für letzte Worte haftet auch etwas Magisches an.
Letzte Worte festzuhalten ist ein weltweites Phänomen und zieht sich durch die Geschichte. Nicht immer ist dabei nachzuprüfen, ob die Worte genauso gesprochen wurden, wie sie letztlich notiert sind. Aber, erst einmal in der Welt, wandern sie durch Zeit und Raum.
Tausendfach wird bis heute Goethe zitiert, der im Todeskampf aufstöhnte: „Mehr Licht!“ und darin einen banalen Wunsch nach einer Lampe oder eine ganze Philosophie aufleuchten ließ. Und wer wollte nicht bewundernd dem scheidenden Galileo Galilei von den Lippen ablesen: „Und sie bewegt sich doch“?
Heinrich Heine soll auf dem Sterbebett gesagt haben: „Gott wird mir verzeihen, das ist sein Beruf.“ Das ist originell und mindestens einer Predigt wert, ob er es nun gesagt hat oder nicht.
Ob Danton vor seiner Hinrichtung auf der Guillotine 1794 in Paris seinem Henker zugerufen hat: „Zeige meinen Kopf dem Volk, er ist es wert!“, wissen wir nicht, es hört sich aber gut an. Und ob immer gleich alle himmlischen oder höllischen Endstationen bemüht werden müssen in letzten Worten, wie es bei Machiavelli 1527 angeblich der Fall war, scheint zumindest fraglich. Sein letzter Wunsch wurde jedenfalls wie folgt notiert: „Ich will in die Hölle und nicht in den Himmel, da treffe ich nur Bettler, Mönche und Apostel. In der Hölle habe ich die Gesellschaft von Päpsten, Prinzen und Königen.“
Der Glanz, der diese Worte umweht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass letzte Worte oft einfach banal sind. In meiner Zeit als Zivildienstleistender in einem Senioren- und Pflegeheim flüsterte mir ein sterbender alter Uhrmacher seine letzten Worte zu: „Ich habe jetzt Lust auf ein Wurstbrot.“ Thomas Mann soll geraunt haben: „Gebt mir meine Brille.“ – Die Frage für alle letzten Worte bleibt aber: Was macht es aus, dass solche kurzen, tiefgehenden oder banalen Sätze den Nachkommen oder Hörer/innen derart in Erinnerung bleiben und sogar durch Zeit und Raum weitergetragen werden? Womöglich gibt ihnen das Unwiderrufliche ihren Wert. Es konnte auf diese Worte nichts und niemand mehr folgen.
Auf letzte Worte wird Wert gelegt. Im Kleinen wie im Großen. Jetzt im November sowieso, wenn wir uns an die Menschen erinnern, die noch nicht allzu lange her mit uns gelebt, geliebt, gelacht und gestritten haben. Aber auch an die Ungezählten sei gedacht, die wortlos in den Wirren von Kriegen und in der Gewalt menschlichen Unrechts verschwinden. Was werden sie uns für letzte Gedanken hinterlassen haben, die niemand je notierte, oder die womöglich jemand eigens vernichtete?
In Spielfilmen und Dramen lassen die sterbenden Heldinnen und Helden erst dann ihren Kopf endgültig zur Seite sinken, wenn sie mit fast geschlossenen Augen noch einen letzten Wunsch, eine Vergebung, einen Liebesschwur, einen Auftrag oder eine bittere Verfluchung in die Ohren ihrer Liebsten gehaucht haben. Dies scheint nicht nur dem menschlichen Bedürfnis im Angesicht des Unvermeidbaren nach letzter Versöhnung und nach der Kraft unendlicher Liebe (oder ewiger Rache) nahe zu kommen, sondern findet seine literarischen Vorbilder neben anderen auch in der Bibel.
Im älteren Testament hinterlassen scheidende Familienoberhäupter ihren Nachkommen einprägende letzte Worte. Sie segnen oder sie verfluchen ihre Kinder, Wegbegleiter oder Gegner. Eine Art gesprochenes Testament. Und diese Worte haben Gewicht, auf jeden Fall Konsequenzen für die Angesprochenen. Der alte Jakob etwa kreuzt seine Hände beim Segnen über den Köpfen von Ephraim und Manasse und zeigt damit seine Bevorzugung des jüngeren Bruders gegenüber dem älteren. (Genesis 48) Joseph steht fassungslos daneben. Und danach bekommen alle weiteren Kinder ihren Anteil an Jakobs Segen und Fluch: Ruben bleibt zunächst der Erste, wird seine „oberste Stellung“ aber verlieren; Jakob verflucht den fürchterlichen Zorn von Levi und Simeon, Issachar bekommt das Bild eines knochigen Esels mit auf den Weg als Ausblick auf Fronknechtschaft, und Juda darf sich dagegen über die Verheißung der Stärke eines jungen Löwen freuen, Naftali dagegen nur über das zweifelhafte Vergnügen, eine flüchtige Hirschkuh zu sein, die sich in schöner Rede gefällt. (Genesis 49) Alle bekamen sie seinen Segen, manche seinen Fluch mit auf den Weg. Letzte Worte, die sitzen. Dann erklärte er noch seinen letzten Wunsch zur Begräbnisstätte, tat seine Füße zusammen auf dem Lager und verschied und wurde versammelt zu seinen Vätern (Luther;1 Mose 49,33)
Wie gut, dass die Bibel weitergeht als unsere oft magische Vorstellung von letzten Worten. Dass der Segen Gottes ein anderer ist als letzte Worte von Menschen. Dass der göttliche Segen auch verschlungenste Pfade und flüchtige Zeiten wirkmächtig umfasst, sogar das unsagbare Schweigen. Wie segensreich, dass der Sohn Gottes keinen Abschied auf ewig einleitet, sondern alte Grenzen zwischen Fluch und Segen aufhebt, verkehrt, wegnimmt. Und dass er mehr als den Abschied sein Bleiben ankündigt, in den vielleicht berühmtesten letzten Worten im Matthäusevangelium: Und siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende. (Mt 28,20b).
Wir wünschen Ihnen einen gesegneten, ruhigen November,
mit segensreichen Entdeckungen im Leben,
wenn es sein darf auch in dieser Ausgabe der Pastoralblätter.
Mit etwas Zeit für sich, für Abschiede,
und mit starken Gedanken für die, die da waren und die da kommen.
Herzliche Grüße,
Ihre Redaktion der Pastoralblätter
und ihr Jochen Lenz (Schriftleiter)