Engel sitzen nicht auf NadelspitzenThomas von Aquin als Engelforscher

Was sind Engel? Wozu sind sie da – und was erwartet uns im Himmel? Ein Blick in die Theologie des Thomas von Aquin zeigt: Himmlische Ordnung und irdisches Leben sind enger verbunden als gedacht.

Carlo Crivelli  (ca. 1435 – ca. 1495): Thomas von Aquin
Carlo Crivelli (ca. 1435 – ca. 1495): Thomas von Aquin© gemeinfrei/Wikimedia Commons

Im Studium der Evangelischen Theologie kam Thomas von Aquin (1224/5-1274) nicht vor. So war ich nicht gefasst auf die Frage meines pädagogischen Meisters Herwig Blankertz (1927-1983): "Sag mal, Uwe, wie viele Engel können auf einer Nadelspitze sitzen?" Blankertz war Mitte der Siebziger Jahre die Autorität in allen Fragen der Schulreform. Auf seinem Weg zur Vorlesung über Rousseau im Münsteraner Schloss wurde er mit seiner Leeze, wie man hier das Fahrrad nennt, von einem Auto erfasst. Thomas, der Lehrer der heiligen Theologie, starb kurz nach einer Entrückung während der Messe. Blankertz war Katholik und arbeitete vor einem transparenten Bild der Muttergottes, das an der Fensterscheibe seines Bungalows im Ortsteil Gievenbeck hing.

Die Engelfrage setzte mich auf die Spur. Aber Thomas vermochte ich nicht zu lesen. Der Scholastiker schrieb in einem mir fremden Stil. Einst hatte er Schule gemacht. Eine These (quaestio disputata) wurde aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Dabei berief sich der Meister auf die Bibel, die Kirchenväter, das kirchliche Lehramt und die Philosophen der Antike, allen voran Aristoteles. In den Predigerseminaren hielt sich diese Kunst der Erörterung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. So diskutierte Hans Blumenberg im Priesterseminar St. Georgen über die Frage: "Welchen Sinn macht eine Hausordnung?" Sein Freund Walter Koop hatte die Hausordnung zu verteidigen, Hans Blumenberg musste sie angreifen (Advocatus diaboli).

Denn die Engel sind doch Geister!

Bei Christian Morgenstern (1871-1914) fand ich eine Antwort auf die Frage meines Meisters. Morgenstern glaubte an die Gegenwart der Engel. Er hatte in Kristiana (Oslo) durch Rudolf Steiner eine Einweihung in die höheren Welten bekommen. Sein Gedicht "Scholastikerprobleme" kalauert mit der wahrhaft spitzfindigen Frage:

Wieviel Engel sitzen können
auf der Spitze einer Nadel –
wolle dem dein Denken gönnen,
Leser sonder Furcht und Tadel!
Alle!, wird’s dein Hirn durchblitzen.
Denn die Engel sind doch Geister!
Und ein ob auch noch so feister
Geist bedarf schier nichts zum Sitzen.
Ich hingegen stell den Satz auf:
Keiner! – Denn die nie Erspähten
können einzig nehmen Platz auf
geistlichen Lokalitäten.

Thomas von Aquin hatte eine sehr ehrgeizige Mutter. Sie hieß Theodora. Zur geistigen und geistlichen Eliteschule der Klöster gab es damals keine Alternative. Also wollte sie ihren Sohn in die Abtei Monte Cassino einschulen, jener berühmten Gründung des Heiligen Benedikt, die Ende des Zweiten Weltkrieges, vollbesetzt mit Flüchtlingen, von alliierten Bombern zerstört wurde. Die schwangere Theodora sah ihr Kind bereits mit der Abtswürde bekleidet. Ein Einsiedler vom Berg Rocca aber korrigierte die Träume der Mutter. Thomas solle in den neu gegründeten Orden des Heiligen Dominik (1170-1221) eintreten. "Er wird ein Bruder des Predigerordens werden, in seinem Wissen von solcher Berühmtheit und in seinem Leben von solcher Heiligkeit, dass man auf der Welt zu seiner Zeit niemand wird finden können, der ihm ähnlich wäre", schreibt Thomas’ Biograf Wilhelm von Tocco.

Gott als Steuermann, Engel als Matrosen

Thomas schrieb im Alleingang seine vielbändige "Summe der Theologie". Von diesem Selbstbewusstsein, das Ganze der Theologie aus eigener Kraft zu bewältigen, waren im 20. Jahrhundert nur noch Karl Barth und Hans Urs von Balthasar getragen. Engel gehören für den Aquinaten zur Schöpfungsordnung. Die himmlische Hierarchie oder Ordnung hat zwei Aufgaben: den Lobpreis Gottes und die Mitwirkung bei der göttlichen Weltregierung. Das Buch, in dem Thomas über Gottes Weltenplan nachdenkt, trägt den schönen Titel "Über die Steuerung der Schöpfung" (De gubernatione mundi). Gott als der Kybernetiker oder Gubernator ist der Steuermann auf dem Schiff, die Engel sind seine Matrosen. Das Ziel der Fahrt liegt jenseits der Weltmeere im Hafen der Ewigkeit.

Engel haben einen geistigen oder ätherischen Körper, weiß Thomas von Aquin. Sie können aber wie die zahlreichen Engelerscheinungen in der Bibel zeigen, einen sichtbaren Leib annehmen, sodass Menschen sie erkennen können. Thomas sieht in dieser Gestaltwerdung einen Hinweis auf "die heilige Menschwerdung des göttlichen Wortes." Gottes wirkende Kraft ist unbegrenzt. Deshalb ist Gott überall. Die Kraft des Engels aber ist begrenzt. Er kann immer nur an einer Stelle zugegen sein. Im Himmel wie auf Erden herrscht eine klare Hierarchie oder heilige Ordnung. "Die kirchliche Rangordnung ist eine Ableitung und Darstellung der himmlischen", schreibt Thomas (Quaestio/Frage 106), benennt aber auch einen klaren Unterschied. Die niederen Engel können niemals die höheren erleuchten. In der Kirche sind es dagegen oftmals die nicht im Licht der Öffentlichkeit stehenden Menschen, von denen Priester, Bischöfe und Kardinäle etwas lernen können.

"In der kirchlichen Rangstufenordnung aber sind bisweilen diejenigen, die Gott in der Heiligkeit am nächsten sind, im Rang die untersten und im Wissen nicht ausgezeichnet; und andere ragen in einem Wissensgebiet hervor und versagen im anderen. Und darum können die Höheren von den Niederen Belehrung empfangen."

Mensch bleibt Mensch, Engel bleibt Engel

Am Ende der Reise auf dem Ozean des Lebens steht das Weltgericht, in dem die Engel Christus assistierend zur Seite stehen (Mt 25,31). Auch Thomas bewegt die Frage nach dem Leben im Himmel. Werden alle Christen in einem der Chöre aufgenommen oder nur die jungfräulichen oder vollkommenen Menschen? Der Himmel ist eins und deshalb bilden Mensch und Engel eine Einheit. Werden die in den Himmel aufgenommenen Menschen zu Engeln? Auch hier schafft Thomas Klarheit. Mensch bleibt Mensch, Engel bleibt Engel. Die Natur verändert sich nicht, aber durch die Gnade können die Menschen "eine solche Herrlichkeit verdienen, dass sie den Engeln gleichgestellt werden, je nach den Rangstufen der Engel. Und das bedeutet das Aufgenommenwerden von Menschen in die Chöre der Engel." (Quaestio/Frage 108)

Rainer Maria Rilke hat in seiner letzten "Duineser Elegie" von dieser Zukunft gesprochen. Doch für Thomas ist mit der Aufnahme der Menschen unter die himmlischen Chöre des Fragens noch kein Ende. Was wird aus den Chören nach dem Weltgericht? Wenn die Welt heimgefunden hat zu Gott, wird ihre Mitarbeit bei der Steuerung der Lebensschicksale nicht mehr gebraucht. Doch sind sie keineswegs ohne Aufgabe. Am Ende sind Engel und Mensch reiner Gesang. Hierarchie ist Hymnologie. Thomas spricht von einem erfolgreichen Feldzug gegen das Böse. Nach dem Sieg wird es keine Schlacht mehr geben, sondern nur noch Freudengesänge:

"Die Ausübung der Engelsämter dagegen wird nach dem Tage des Gerichtes in einer Hinsicht bleiben, in anderer Hinsicht aufhören. Sie wird aufhören, sofern ihre Ämter darauf hingeordnet sind, andere zu dem Ziel zu führen; sie wird fortdauern, soweit es nach der endgültigen Erreichung des Zieles noch Sinn hat. So sind auch die Aufgaben der Heereseinheiten verschieden in der Schlacht und im Siege."

Loblieder am Abgrund

Da nun aber nicht alle Menschen zu Himmelsbewohnern werden, bleibt am Ende die Frage nach dem Schicksal der gefallenen Engel und der unerlösten Menschen. Dass die Menschenschinder in die Hölle kommen und dort ihr ewiges Schicksal erleiden werden, ist für Thomas keine Frage, die er erörtern müsste. Können aber die Erlösten in Ewigkeit Lob- und Siegesgesänge anstimmen und dabei in den Abgrund schauen? Erfüllt die nun geretteten Opfer vielleicht sogar eine gewisse Genugtuung über die göttliche Gerechtigkeit, die Missbrauch und andere Gräueltaten nicht unbestraft lässt? Davon und von allen Leidenschaften und Rachegefühlen kann nicht die Rede sein. Wenn überhaupt von der Freude der Seligen gesprochen werden kann, dann von ihrer Freude, dass die Schöpfung am Ende wieder in den Zustand der Ordnung zurückgekehrt ist, eben Kosmos ist und nicht Chaos.

"Und so werden an sich die göttliche Gerechtigkeit und ihre eigene Befreiung die Ursache der Freude der Seligen sein, die Strafe der Verdammten aber nur beiläufig."

Und wer vollstreckt den Urteilsspruch des Richters in der Hölle? Die Dämonen? Thomas von Aquin wäre nicht der große engelgleiche Gelehrte (Doctor angelicus), wenn er sich hier um eine Antwort drücken würde. In seiner Schrift "Über die letzten Dinge" (Quaestio/ Frage 89) heißt es: "Wie den Menschen durch Engel göttliche Erleuchtungen zuteil werden, so sind auch die Dämonen Vollstrecker der göttlichen Gerechtigkeit an den Bösen."

Thomas von Aquin starb, wie man sich den Tod eines Engelforschers wohl vorstellen mag. Die Engel kamen, wie beim Tod des armen Lazarus und später im katholischen Schluss des "Faust II", und geleiteten ihn nach Hause. Wilhelm von Tocco berichtet: "Glücklich die Seele des Lehrers, der die Himmelsbürger entgegenkamen, um sie zum himmlischen Reich zu führen."

Hefte

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt gratis testen