Vergebung ohne SchlussstrichDer polnische Hirtenbrief 1965

Vor 60 Jahren schrieben Polens Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder. Der Brief offenbart bis heute Deutschlands blinde Flecken im Umgang mit Versöhnung.

Kardinal Stefan Wyszynski, Erzbischof von Warschau, und Kardinal Julius August Döpfner, Erzbischof von München und Freising, bei der Eröffnung der Bischofssynode am 30. September 1971 im Vatikan.
Kardinal Stefan Wyszynski, Erzbischof von Warschau, und Kardinal Julius August Döpfner, Erzbischof von München und Freising, bei der Eröffnung der Bischofssynode am 30. September 1971 im Vatikan.© Hans Knapp/KNA

Am 18. November 1965, unmittelbar vor Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils, veröffentlichten die polnischen Bischöfe ein folgenschweres Schreiben an ihre deutschen Amtsbrüder. Formell handelte es sich um eine Einladung zur Teilnahme an den Feierlichkeiten zur 1000-Jahr-Feier der Christianisierung Polens – einem Ereignis von gleichermaßen religiöser wie politischer Bedeutung für die europäische Kulturtopografie. Das Schreiben kulminierte in der aufwühlenden Formulierung "Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung". Es kann guten Gewissens zu den Kerndokumenten des europäischen Einigungsprozesses der Nachkriegszeit gezählt werden. Was lehrt uns dieses Schriftstück über die Möglichkeiten von Vergebung? Der 60. Jahrestag dieses Ereignisses sei Anlass für einen Rückblick.

Niemand kann bezweifeln, dass die deutsch-französische Freundschaft ein tragendes Fundament der europäischen Friedensarchitektur ist. Die deutsch-polnische Aussöhnung hatte und hat demgegenüber eine nachgeordnete Bedeutung.

Das Wunder der Nachkriegsversöhnung ist im deutschen kollektiven Bewusstsein bis heute die deutsch-französische Aussöhnung. Sie wird als Vorbild für die Überwindung von Feindschaft hin zu friedlicher und freundschaftlicher Nachbarschaft binnen kürzester Zeit zelebriert.

Niemand kann bezweifeln, dass die deutsch-französische Freundschaft ein tragendes Fundament der europäischen Friedensarchitektur ist. Die deutsch-polnische Aussöhnung hatte und hat demgegenüber eine nachgeordnete Bedeutung. Man scheint auch nach 80 Jahren immer noch daran erinnern zu müssen, dass die Orte der größten Kriegs- und Menschheitsverbrechen im Osten lagen und dass die Spuren der Verwüstung durch Morden, Zerstörung, Demütigung, kulturelle Tilgungsversuche dort von einem ganz anderen Ausmaß sind. Mit dieser Anerkennung tut man sich bis heute schwer.

Eine gemeinsame Erzählung

Das polnische Bedürfnis nach Anerkennung wird nur allzu häufig als komplexbedingtes Aufmerksamkeitsbedürfnis interpretiert. Ist von Anerkennung die Rede, so sind institutionelle, politische, gesellschaftliche Konsolidierungsprozesse gemeint. Solche Prozesse zementieren keine historischen Rollen, sondern entwickeln Räume für eine gemeinsame Erzählung. 

Der polnische Hirtenbrief beginnt nicht etwa mit einer Aufrechnung oder Aufzählung der jüngsten Traumata. Er beginnt mit einer langen und ausführlichen Erinnerung daran, dass die Geschichte beider Nationen historisch-organisch zutiefst miteinander verwoben und aufeinander bezogen sind.

Anerkennung heißt in dem Fall, in der deutschen Erzählung einen Platz zu bekommen. Es gilt zu verstehen, dass die Geschichte des Nachbarn ein bedeutender Teil der eigenen Geschichte ist. Der polnische Hirtenbrief beginnt nicht etwa mit einer Aufrechnung oder Aufzählung der jüngsten Traumata. Er beginnt mit einer langen und ausführlichen Erinnerung daran, dass die Geschichte beider Nationen historisch-organisch zutiefst miteinander verwoben und aufeinander bezogen sind. Man erinnert an die Bedeutung Ottos III. und dessen Anerkennung frühpolnischer Staatlichkeit sowie seine Förderung der kirchlichen Selbstständigkeit östlich des Reiches. Dieser frühen Anerkennungspolitik verdankt das polnische Selbstverständnis seine historische Westbindung, die Integration in die lateinische Kirche, das lateinische Alphabet. Der Brief weiß um die Bedeutung deutscher Missionstätigkeit, dem das Land seine katholische Tiefenidentität verdankt. Was im deutschen historischen Bewusstsein bis heute in der Peripherie verortet sind, bildet für das polnische Bewusstsein ein Zentrum.

Das Schreiben widersteht nationalistischen Narrativen wie der kommunistischen Staatspropaganda gleichermaßen. Dem deutschen Nachbarn wird in keinster Weise Feindschaft attestiert. Ganz im Gegenteil: Der Nachbar wird nicht als Bedrohung der eigenen Identität verstanden, sondern als untilgbare Bedingung dieser Identität gewürdigt. Man ist, wer man ist, auch und gerade dank des Anderen. Man übertreibt nicht, wenn man dem bischöflichen Anliegen eine Art dialogischer Ontologie attestiert.

Man könnte sich freilich nach der Erfahrung der deutschen Schreckensherrschaft von dieser gemeinsamen Verwurzelung zu emanzipieren versuchen. Es hätte sogar eine politische und moralische Plausibilität. Der romantisch-messianistische Unterbau des 19. Jahrhundert, der für den polnischen Katholizismus bis heute prägend ist, wäre dafür prädestiniert. Ein solches Unterfangen hätte aber eine Unehrlichkeit der eigenen politischen und christlichen Identität gegenüber zur Folge. So heißt es folgerichtig im vorletzten Absatz der Einladung: "Und wenn Ihr, die deutschen Bischöfe und Konzilsväter, die brüderlich ausgetreckten Arme ergreift, erst dann werden wir guten Gewissens unser Millenium in einer vollkommenen christlichen Weise begehen können."

Die deutschen Bischöfe antworteten vergleichsweise diplomatisch und in der Sprache berechnend.

Die Antwort der deutschen Bischöfe erfolgte prompt. Joseph Ratzinger mahnte damals an, die sich auftuende Chance gut zu überlegen und zu nutzen. Die deutschen Bischöfen antworteten vergleichsweise diplomatisch und in der Sprache berechnend. Auf eine emotional-intime Selbstoffenbarung folgte eine formal wirkende Replik. Polnischerseits wertete man dies als Enttäuschung. Historikern zufolge hemmte die Sorge vor den Befindlichkeiten der Vertriebenen. Auch ihr Schicksal würdigte der Brief vom 18. November übrigens. Während die polnischen Amtsbrüder den "großen göttlichen Kairos" vor sich sahen, brauchten die deutschen noch Zeit.

Zurück zu den Ursprüngen

Was lehrt uns der Hirtenbrief über die Topografie des Verzeihens? Der erste Reflex des Schreibens besteht nicht im Beschwören einer notwendigen Versöhnung. Es fordert kein billiges "es muss doch mal wieder gut sein". Der Blick geht nicht nach vorne. Der Blick geht zurück, zu den Ursprüngen. Um die Eigentlichkeit und Qualität einer Beziehung, einer Geschichte, einer Existenz zu begreifen, braucht es den Blick zu jenem Ort, an dem alles begann. Hier entfaltet sich etwas Konstitutives, eine Art ursprünglicher Sinn.

Heil ist im christlichen Sinne ja beides, das eschatologisch Zukünftige und das dem Bruch vorausgehende Ursprüngliche. Wie einst Elija zum Berg Horeb geschickt wurde, um am ursprünglichen Offenbarungsort wieder die Eigentlichkeit seiner Sendung zu begreifen, verweisen die polnischen Bischöfe auf das Datum der Christianisierung ihres Landes. Das ist und soll auch weiterhin der konstitutive Moment sein, aus dem der Sinn und die Qualität deutsch-polnischer Beziehungen bezogen werden. Herkunftsbewusstsein wird als nichts Trennendes beschworen, sondern als Verbindendes erkannt. Damit wäre zugleich der Perversion des Herkunftsmythos der Nazis eine heilsame Alternative entgegengesetzt.

Wer sein Verhältnis heilen möchte und trotzdem der Schlussstrichlogik zu widerstehen gedenkt, der muss das verbindende Element, das geistliche Band identifizieren und von diesem Ereignis aus denken.

Die Promulgation des Konzilserklärung "Nostra aetate" ging dem Schreiben gerade mal drei Wochen voraus. Die Beschreibung des Verhältnisses zum Judentum beginnt das Konzil mit den Worten: "Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist.“ Es ist die gleiche Logik. Wer sein Verhältnis heilen möchte und trotzdem der Schlussstrichlogik zu widerstehen gedenkt, der muss das verbindende Element, das geistliche Band identifizieren und von diesem Ereignis aus denken. Das gilt sowohl für die Makro- wie für die Mikroebene des Verzeihens. Die Botschaft ist eine einfache: Der versöhnungsstiftende Moment wird nicht gemacht oder gesetzt, er wird empfangen durch die Besinnung auf das Gemeinsame, auf eine ursprüngliche Zugehörigkeit.

Vergeben ist eine moralische Kategorie. Aus der Position des Geschädigten um Vergebung zu bitten hingegen ist eine spirituelle.

"Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung". Vergeben ist eine moralische Kategorie. Aus der Position des Geschädigten um Vergebung zu bitten hingegen ist eine spirituelle. Sie entspringt weder einer formalistischen Deduktion, noch einer politischen Kalkulation. Sie ist noch nicht einmal zwingend politisch klug. Sie anerkennt nicht nur die moralische Verfehlung, sondern auch die geistliche Not und die Destruktion, die aus beiden erwächst. Heilungsprozesse leuchten auch die eigenen Dunkelheiten aus.

Wer Heilung ernst meint, sich ihrer transformativen Wirkmächtigkeit aussetzt, wird von authentischer Demut ergriffen. Das ist die Logik des Purgatoriums. Und das Ereignis vom 18. November 1965 lässt diese eschatologische Logik im Weltenlauf durchscheinen. 

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