Wie wurde Jesus als Gottes Sohn verstanden – und warum entfachte diese Frage einen der heftigsten Konflikte der frühen Kirche? Im Gespräch gehen Jan-Heiner Tück und Kardinal Walter Kasper den dramatischen Debatten um Arius und Nizäa nach. Sie zeigen, warum es damals um weit mehr ging als um Begriffe: nämlich um das Herz des christlichen Glaubens.

Jan-Heiner Tück: Papst Leo XIV. unternimmt am 27. November seine erste Auslandsreise in die Türkei, um anlässlich des 1.700-Jahr-Jubiläums des Konzils von Nizäa ein Zeichen zu setzen. Welche Bedeutung kommt dieser Reise zu?

Walter Kardinal Kasper: Die Reise von Papst Leo XIV. in die Türkei zur Feier des 1700. Jubiläums des ersten ökumenischen Konzils in Nizäa will ein Zeichen der Einheit und des Friedens setzen. "In unitate fidei" - "In der Einheit des Glaubens" -, so hat der Papst sein Apostolisches Schreiben zu diesem Jubiläum überschrieben, so lässt sich auch die erste Reise seines Pontifikats überschreiben. In Nizäa haben vor 1.700 Jahren Ost und West des damaligen römischen Reiches zusammengefunden. Die Einheit und der Friede in der Welt ist heute erneut bedroht. Papst Leo kommt als Pilger nach Nizäa, um zu sagen, dass bei allen Unterschieden, die damals und die uns heute trennen, Friede möglich ist.

Das Bekenntnis von Nizäa beginnt mit dem Glauben an den einen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Dieser Glaube eint uns mit unseren jüdischen und muslimischen Brüdern und Schwestern. Schalom – salam, das sollten wir gemeinsam sagen und Wege des Friedens miteinander und zueinander finden. Papst Leo kommt nach Nizäa als Zeichen und Werkzeug der Einheit und des Friedens der weltweiten Christenheit. Das Bekenntnis von Nizäa ist allen Kirchen des ganzen Erdkreises gemeinsam; es ist unsere gemeinsame Quelle, unsere gemeinsame Grundlage und die gemeinsame Mitte unseres Glaubens. Diese Einheit in Jesus Christus will der Papst mit allen christlichen Brüdern und Schwestern als Pilger in Nizäa bezeugen, sie feiern und um sie zu beten. Wir alle sollten ihn dabei nach Kräften unterstützen und ihn im Gebet begleiten.

Tück: Werfen wir einen Blick zurück in die Geschichte. Arius hat den Sohn als "erstes Geschöpf" vor aller Schöpfung bezeichnet und ihn Gott dem Vater ontologisch untergeordnet. Das hat für Kontroversen gesorgt, so dass im Jahr 325 Kaiser Konstantin, ein ungetaufter Laie, das erste Ökumenische Konzil von Nizäa einberufen hat. Es stehen also neben theologischen Fragen auch politische Interessen im Hintergrund …

Kasper: Die Kontroversen brachen schon bald nach dem Toleranzedikt von Mailand auf, das von den Kaisern Konstantin und Licinius im Jahr 313 erlassen wurde. Es gewährte Christen und allen anderen Bürgern des Römischen Reiches die freie Religionsausübung. Damit sollte die innere Einheit des Römischen Reiches gesichert werden. Doch die Rechnung ging nicht ganz auf. Die neu gewonnene Freiheit der Kirche führte sehr bald zu theologischen Auseinandersetzungen in der Kirche. Das bewegte Kaiser Konstantin, der inzwischen Alleinherrscher geworden war, wohl nicht ganz ohne politische Hintergedanken 325 eine Versammlung aller Bischöfe in seiner Sommerresidenz in Nizäa einzuberufen, die zum ersten ökumenischen Konzil wurde. Da die historische Quellenlage prekär ist, sind viele Einzelfragen, auf die wir hier nicht eingehen können, umstritten.

Die Ursache des innerkirchlichen Streits war der alexandrinische Presbyter Arius mit seiner christologischen Interpretation, die mehr dem damaligen hellenistischen Zeitgeist als der biblischen Tradition entsprach. Der Logos war nach ihm das erste und höchste, aber dem Vater untergeordnete Geschöpf, das zum Demiurg, dem "Weltbaumeister" der Schöpfung wurde. Der Widerstand gegen den Subordinatianismus des Arius kam zunächst von seinem Bischof Alexander von Alexandrien und dessen Diakon und späteren Nachfolger Athanasius.

Tück: Bemerkenswert ist, dass die Konzilsväter zunächst die Kontinuität zum biblischen Monotheismus Israels (Dtn 6,4f) unterstrichen haben.

Kasper: Ja, in der Tat hat das Konzil schon im ersten Satz seines Bekenntnisses "Ich glaube an den einen Gott", "Schöpfer des Himmels und der Erde" am jüdischen Ein-Gott-Glaube festgehalten. Zur Abwehr der hellenistisch klingenden Interpretation der Gottessohnschaft Jesu im Sinn eines von Gott geschaffenen höchsten, dem Vater damit untergeordneten Geschöpfs benützte es dann den griechischen Begriff homoousios (lat. consubstantialis) und lehrte, der Sohn sei aus demselben Wesen (ousia) wie der Vater (DH 125). Auch damit kommt der biblische Monotheismus klar zum Ausdruck. Dennoch wurde der nicht biblische Begriff homoousios in der Folge zum zentralen Streitpunkt und zum Schibboleth der nizänischen Rechtgläubigkeit.

In griechischer Sprache, aber der Sache nach biblisch

Tück: Die Verwendung des nichtbiblischen Begriffs hat den Vorwurf provoziert, das Konzil habe den einfachen Glauben des Evangeliums hellenistisch verfälscht – zurecht?

Kasper: Das homoousios wurde vor allem durch Adolf von Harnack (1851-1930) zum Schibboleth der These einer Hellenisierung des christlichen Glaubens: "Das Dogma ist in seiner Conception und in seinem Aufbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums", heißt es in Harnacks vielgelesenem Lehrbuch der Dogmengeschichte. Inzwischen ist diese These weithin wieder aufgegeben, auch wenn es in der Theologie des 20. Jahrhunderts immer wieder aufflackernde Renaissancen des Hellenisierungsvorwurfes gab, so bei Hans Küng, der hinter das Konzil von Nizäa zurückwollte, um an frühe judenchristliche Christologien anzuschließen, oder bei Johann Baptist Metz, dessen Neue Politische Theologie durch die altkirchliche Theologie eine Abkehr von den jüdischen Wurzeln des Christentums diagnostizierte. In Wirklichkeit ging es in Nizäa nicht darum, das Gottes- und Christus-Verständnis hellenistisch schmackhaft zu machen, sondern im Gegenteil darum, das Gottes- und Christus-Verständnis des Arius im Sinn der Tradition mit den Mitteln hellenistischer Sprache zu enthellenisieren und Gott wie Jesus Christus zwar in der griechischen Sprache, aber in der Sache biblisch nicht als den fernen, sondern als den lebendigen Gott der Bibel zu verkünden, der uns in Jesus Christus nahe gekommenen ist und unter uns seine Wohnung aufgeschlagen hat.

Die Idee eines ersten Geschöpfs als Schöpfungsmittler und Demiurg war zwar eine im damaligen (sogenannten mittleren) Platonismus weit verbreitete Idee, sie hat aber weder in der Heiligen Schrift noch bei den frühen Kirchenvätern einen Anhalt.

Tück: Statt Arius in einer Art Siegergeschichtsschreibung als überwundenen Ketzer im Straßengraben liegenzulassen, versucht man heute, seinem Anliegen gerechter zu werden, und sagt: Arius war kein Arianer, da er den Sohn nicht einfach als bloßes Geschöpf oder menschlichen Menschen, sondern als Schöpfungsmittler und Demiurgen bezeichnet hat. Seine legitime Absicht sei es gewesen, das Bekenntnis zum einen Gott nicht zu gefährden. Warum war sein Lösungsvorschlag, dem Sohn die Gleichewigkeit abzusprechen und ihn dem Vater ontologisch unterzuordnen, dennoch so verfehlt?

Kasper: Man könnte zunächst einmal die Gegenfrage stellen, ob Arius nicht selbst in den Straßengraben hineingefahren ist und dann nicht mehr herauswollte oder nicht mehr herauskonnte. Offensichtlich war das Siegerbewusstsein einige Zeit sogar auf seiner Seite, während sein Gegenspieler Athanasius von Alexandrien fünfmal das Schicksal der Verbannung auf sich nehmen musste. Auch der nizänisch eingestellte Hieronymus fragte sich einmal staunend, ob der Erdkreis inzwischen arianisch geworden sei. Wem bei der schwierigen nachnizänischen Auseinandersetzung der Siegespreis zufallen soll, wurde erst nach Jahrzehnten, endgültig erst beim Konzil von Chalzedon (451) und dann immer wieder neu in der Reformation des 16. und in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts entschieden, als Arius und Athanasius schon längst nicht mehr am Leben waren.

Kardinal Walter Kasper und "Communio"-Schriftleiter Jan Heiner Tück im Gespräch
Kardinal Walter Kasper und "Communio"-Schriftleiter Jan Heiner Tück im Gespräch © Jan-Heiner Tück

Es zählen nicht Unterstellungen, es zählen Argumente. Die Rede von einem "Geschöpf vor aller Schöpfung" ist nicht nur biblisch, sondern auch rein denkerisch höchst problematisch, da es Zeit erst mit der Schöpfung, aber nicht vor aller Schöpfung gibt, wie Augustinus deutlich gemacht hat. Die Idee eines ersten Geschöpfs als Schöpfungsmittler und Demiurg war zwar eine im damaligen (sogenannten mittleren) Platonismus weit verbreitete Idee, sie hat aber weder in der Heiligen Schrift noch bei den frühen Kirchenvätern einen Anhalt. Das Anliegen, die alttestamentliche und neutestamentliche Lehre vom einen Gott zu wahren, war beim Konzil bereits in den ersten Sätzen seines Bekenntnisses verankert und wurde mit der Erklärung, dass der Sohn "eines Wesens mit dem Vater" (DH 125) ist, nachdrücklich bestätigt. Das Konzil wollte eine grundsätzliche Korrektur und Transformation des damaligen hellenistischen Gottesverständnisses einleiten und dabei hervorheben, dass Gott, wie er sich in Jesus Christus offenbarte, zwar jenseits aller Geschöpfe und doch der lebendige Gott ist, der uns in Jesus Christus nahegekommen und für uns Mensch geworden ist. An der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Arius und dem nizänischen Konzil lässt sich nicht rütteln.

Ordnung in Gott

Tück: Die Transformation des Gottesbegriffs, von der Sie sprechen, besteht dann darin, dass der eine Gott ein "Gott in Beziehung" von Vater und Sohn (und Heiligem Geist) ist – und diese Beziehung nicht, wie bei Arius, im Sinne einer Subordination, sondern, wie in Nizäa, im Sinne einer symmetrischen Relation gefasst wird. Das verlangt weitergehende Reflexionen, die den johanneischen Satz "Gott ist Liebe" trinitätstheologisch einholen.

Kasper: Ja, neben der Wesensgleichheit zwischen den trinitarischen Personen lässt sich eine innere Ordnung (τάξις) feststellen, die in der Heiligen Schrift angedeutet und von den kappadokischen Kirchenvätern Gregor von Nazianz, Basilius von Caesarea und Gregor von Nyssa dargelegt wurde: Der Vater ist Ursprung und Quelle in (!) der Gottheit, der Sohn geht vom Vater aus, ebenso geht der Heilige Geist vom Vater durch den Sohn aus. Diese innere Ordnung spiegelt sich in den alten wie in den gegenwärtigen liturgischen Gebeten: Wir bitten den Vater durch den Sohn im Heiligen Geist. Am deutlichsten kommt die innertrinitarische Ordnung in der Schluss-Doxologie am Ende des eucharistischen Hochgebets zum Ausdruck: "Durch ihn, mit ihm und in ihm [dem Sohn] bringen wir Dir, allmächtiger Vater in der Einheit des Heiligen Geistes alle Ehre und Verherrlichung dar."

Das bedeutet: Gott ist keine starre leblose Wirklichkeit, keine einsame Monade; er ist in sich Geist und Leben, ja Fülle des Lebens, der sich uns aus Liebe im Heiligen Geist durch Jesus Christus seinen Sohn mitteilt und uns an seiner Fülle des Lebens Anteil schenkt. Gott ist ein Gott in dynamischer Beziehung in sich selbst. Er ist Einheit in der Dreiheit und Dreiheit in der Einheit. Er nimmt uns als seine adoptierten Söhne und Töchter in diese Beziehung hinein und macht uns damit zu der einen Familie der Kinder, der Söhne und Töchter Gottes.

Athanasius war der Überzeugung, dass das Leben des Menschen einzig in der Gemeinschaft mit Gott zu seinem Ziel und zu seiner Erfüllung gelangt.

Tück: Athanasius von Alexandrien hat das "homoousios" zum Schibboleth der nizänischen Orthodoxie erhoben. Er hat offenbarungstheologisch betont, dass wir vom Geheimnis Gottes immer noch nichts wüssten, wenn Jesus Christus nicht wirklich Gottes Sohn gewesen wäre, und soteriologisch in der Menschwerdung des Wortes Gottes die Grundlage für den Prozess der Vergöttlichung des Menschen gesehen. Welche Bedeutung würden Sie diesen Argumenten auch heute zusprechen?

Kasper: Damit ist eine grundlegende Frage berührt, die gegenwärtig leider oft in Vergessenheit geraten ist. Der christliche Glaube ist ja nicht eine Summe und Aufzählung von inhaltlich richtigen Glaubensaussagen; als kohärent und richtig zeigen sie sich dadurch, dass sie in die richtige Richtung unseres Lebens weisen und im Leben praktisch umgesetzt werden. Genau das war bei Athanasius der Fall. Er war der Überzeugung, dass das Leben des Menschen einzig in der Gemeinschaft mit Gott zu seinem Ziel und zu seiner Erfüllung gelangt. Damit ist er ein authentischer Zeuge der Lehre und der Spiritualität von der Vergöttlichung des Menschen, die vor allem in den Ostkirchen fundamental geworden ist.

Ohne Menschwerdung des Wortes Gottes kann es keine Vergöttlichung von uns Menschen geben. Die Grundlage dieses Glaubens hat das Konzil durch das Bekenntnis zur Homoousie ein für alle Mal gesichert – und es ist schön, dass dieses Bekenntnis von Katholiken, Orthodoxen, Anglikanern, Lutheranern und Reformierten auch heute 1.700 Jahre nach seiner Verabschiedung in der Liturgie rezitiert und in ökumenischer Verbundenheit bekannt wird.

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