Thérèse war verschwundenDie Erneuerung des Glaubens in der Mystik

Die Praxis der Kontemplation eröffnet einen tieferen Zugang zur Jesus-Geschichte.

Wolke
© Unsplash

Wer mit den geistigen Traditionen des christlichen Glaubens vertraut ist oder auch einige spirituelle Texte anderer Religionen oder Weisheitslehren wie etwa denen des Zen-Buddhismus oder des Advaita Vedanta kennt, begegnet hin und wieder sogenannten Erfahrungsberichten. In ihnen wird erzählt, wie jemand plötzlich in eine andere Dimension der Wirklichkeit versetzt wird. Oft, nicht immer, handelt es sich um Personen, die seit langer Zeit eine geistige Übung praktizieren. Derartige Erfahrungen können während der Kontemplation auftreten, ebenso aber auch außerhalb der Übung, mitten im Alltag.

Über alle kulturellen und individuellen Unterschiede hinweg weisen diese Erfahrungen eine ähnliche Struktur auf: Eine bisher vertraute Form des In-der-Welt-Seins zerbricht, eine neue, so noch nie geschaute Dimension der Wirklichkeit bricht in das Bewusstsein eines Menschen ein. Die Berichte sprechen von einem Erwachen, einer Erleuchtung, einem Sterben und Neugeborenwerden, einer Befreiung. Oft geht ihnen eine Inkubationszeit voraus, in denen sich etwas Neues ankündigt, das ans Licht drängt, doch die allerletzte Phase ist gewöhnlich ein Sprung, ein plötzliches Erwachen.

Die heilige Thérèse von Lisieux berichtet: "An jenem Tag war es nicht mehr ein Blick, sondern eine Verschmelzung (une fusion), da waren nicht mehr zwei, Thérèse war verschwunden (Thérèse avait disparu) wie der Tropfen Wasser sich in der Tiefe des Meeres verliert. Jesus allein blieb, Er war der Herr, der König." Am Tag darauf, so schreibt sie, "flossen wieder meine Tränen mit unbeschreiblicher Sanftheit und ich wiederholte ohne Unterbrechung die Worte des heiligen Paulus: ‚Nicht mehr ich lebe, Jesus lebt in mir‘ [Gal 2,20] (Œuvres complètes, 35vo–36vo).

Derartige Erfahrungen spielen im Alltag christlicher Gemeinden kaum eine Rolle. Auch die akademische Theologie weiß nicht viel mit ihnen anzufangen. Einem aufgeklärten Christentum gelten sie als suspekt und bisweilen sogar als gefährlich.

Liest man, sensibilisiert von derartigen Berichten, mit nüchternem Blick das Neue Testament, so gewinnt man den Eindruck, dass ohne einen solchen Sprung in eine andere Dimension der Wirklichkeit die Jesus-Geschichte nicht wirklich verstanden werden kann. Der Evangelist Johannes macht das gleich zu Beginn seines Evangeliums unmissverständlich klar. Und zugleich gibt er eine Antwort auf die Frage, warum viele Jesus und seine Lehre nicht verstehen und keinen Zugang zum Reich Gottes finden können. Was ihnen fehlt ist eine zweite Geburt, eine "Geburt von oben" (Joh 3,3), eine Geburt "aus dem Geist" (Joh 3,5), eine "Geburt aus Gott" (Joh 1,13).

Von oben geboren werden

Während seines ersten Aufenthaltes in Jerusalem kam eines nachts Nikodemus,

"einer von den Pharisäern, ein führender Mann unter den Juden zu Jesus und sagte zu ihm: Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. Jesus antwortete ihm: Amen, Amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von oben geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus entgegnete ihm: Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Kann er etwa in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und noch einmal geboren werden? Jesus antwortete: Amen, Amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus dem Wasser und dem Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes eingehen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von oben geboren werden" (Joh 3,1–7).

Um die Nikodemus-Geschichte zu verstehen, müssen wir uns die unmittelbar vorangehenden Verse in Erinnerung rufen; sie bilden die Exposition zu der Geschichte:

"Als er [Jesus] aber am Paschafest in Jerusalem war, kamen viele zum Glauben an seinen Namen, da sie die Zeichen sahen, die er tat. Jesus selbst aber vertraute sich ihnen nicht an, denn er kannte sie alle und brauchte von keinem ein Zeugnis über den Menschen; denn er wusste, was im Menschen war" (Joh 2,23–25).

Viele Jerusalemer fanden zum Glauben an Jesus, weil sie die Zeichen sahen, die er tat. Doch ihr Glaube blieb oberflächlich. Jesus erkannte das und deshalb teilte er sich ihnen nicht vollständig mit.

Die Verse dürften auf einen Vorwurf eingehen, der in judenchristlichen Kreisen noch zur Zeit des Johannes erhoben wurde. Er könnte gelautet haben: Warum hat Jesus nicht von Anfang an klipp und klar gesagt, dass er der Sohn Gottes sei? Im 10. Kapitel des Evangeliums wird von einem derartigen Vorwurf berichtet:

"Um diese Zeit fand in Jerusalem das Tempelweihfest statt. Es war Winter und Jesus ging im Tempel in der Halle Salomos auf und ab. Da umringten ihn die Juden und fragten ihn: Wie lange hältst du uns noch hin? Wenn du der Christus bist, sag es uns offen! Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, aber ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters vollbringe, legen Zeugnis für mich ab; ihr aber glaubt nicht, weil ihr nicht zu meinen Schafen gehört" (Joh 10,24–26).

Die Antwortet, die der Evangelist auf diese Frage gleich zu Beginn seines Evangeliums gibt, lautet: Jesus kannte die Menschen und wusste, dass viele ihn nicht verstehen würden. Deshalb vertraute er sich ihnen nicht an.

"Wie war es möglich […], dass so 'viele' (2,23) Juden, obwohl sie sich zu Jesus bekannten, dennoch nicht zur einzig wahren Erkenntnis seines göttlichen Wesens gelangten? Darauf antwortet der Evangelist in unserer szenischen Exposition: Jesus selbst war es, der sich jenen Menschen nicht anvertraut, sich ihnen nicht geöffnet hat, 'denn er wusste, was im Menschen war'" (Michael Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kap. 1–12, Regensburg 2009, 241).

Ein derart halbierter Glaube hält in der Krise nicht stand. Es wird nicht mehr lange dauern, da weiß der Evangelist zu berichten: "Daraufhin zogen sich viele seiner Jünger zurück und gingen nicht mehr mit ihm umher" (Joh 6,66).

Glaubensvertiefung

Nikodemus will sich offensichtlich mit einem oberflächlichen Glauben nicht zufriedengeben. Wie viele aus Jerusalem, die zum Glauben an Jesus gekommen waren, hat auch er erkannt, dass Jesus ein Lehrer ist, der von Gott kommt, "denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm wäre" (Joh 3,2). Deshalb begibt er sich – im Schutz der Dunkelheit – zu Jesus. Dieser unternimmt nun den Versuch, ihn in die ganze Wahrheit des Glaubens einzuführen. Doch es gelingt ihm nicht.

Nikodemus kann nicht verstehen, was es mit Jesus auf sich hat und worum es in der Jesus-Geschichte letztlich geht. Ihm fehlt etwas Entscheidendes: die Geburt von oben, die Geburt aus Gott. Er versteht nicht, was damit gemeint sein soll; er versteht die Rede Jesu wörtlich, so als müsste er in den Schoß seiner Mutter zurückkehren, eine – wie er selbst sagt – absurde Vorstellung. Er ist mit seinem Bewusstsein noch ganz im Irdischen gefangen, in der Logik des Fleisches; zwischen ihr und der Logik des Geistes gibt es offensichtlich keinen fließenden Übergang: "Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist" (Joh 3,6). "Du bist der Lehrer Israels und verstehst das nicht?", hält ihm Jesus vor (Joh 3,10). Hier stößt Gelehrsamkeit an ihre Grenzen.

Was kann man machen, wo nichts zu machen ist?

Von oben geboren werden? Völlig zu Recht fragt Nikodemus: "Wie kann das geschehen?" Jesus besitzt offensichtlich einen hohen Grad an kommunikativer Kompetenz. Wenn man spürt, dass ein Gesprächspartner nicht in der Lage ist, etwas zu verstehen, bringt es nichts, weiter zu reden und zu versuchen, ihm die Dinge zu erklären. Dies gehört zu den grundlegenden Einsichten geistlicher Begleitung. Und doch ist die Lage nicht hoffnungslos. Es bedarf eines Vorgangs, der auf der Ebene des Erklärens nicht zu erreichen ist. So ist es kein Widerspruch, wenn der Evangelist auf der einen Seite den Unglauben der vielen als ein Unvermögen bezeichnet, das ihnen gleichsam wie ein göttliches Geschick zuteil wird (vgl. 6,65: "Niemand kann zu mir kommen, wenn es ihm nicht vom Vater gegeben ist"), ihnen auf der anderen Seite aber doch die Verantwortung für ihren Unglauben nicht abspricht (vgl. 3,18: "Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat"). Damit steht die Frage im Raum: Was kann man machen, wo nichts zu machen ist?

Schrift und Tradition

Nach katholischer Lehre ist die Bibel allein für das Verständnis der Offenbarung nicht hinreichend. Sie bedarf der Annahme, der Auslegung und der Anwendung durch die Tradition, da sie selbst nicht vom Himmel gefallen, sondern von gläubigen Menschen geschrieben, tradiert und ausgelegt worden ist und weiterhin ausgelegt wird. Die Päpstliche Bibelkommission spricht von der "Interpretation der Bibel in der Kirche" – so der Titel eines bedeutenden Dokumentes dieser Kommission aus dem Jahre 1993.

Bedeutende Lehrerinnen und Lehrer des geistlichen Lebens haben sich die Frage gestellt: "Wie kann jemand aus dem Geist geboren werden?" Ihre Antwort lautet: dadurch, dass er Geistliches und nicht Irdisches denkt. Denn "der irdisch gesinnte Mensch", so heißt es bei Paulus, "erfasst nicht, was vom Geist Gottes kommt" (1 Kor 2,14). "Richtet euren Sinn auf das aus, was oben ist, nicht auf das Irdische", heißt es im Kolosserbrief (3,2).

Aus dieser Aufforderung haben bedeutende Lehrerinnen und Lehrer des geistlichen Lebens eine Übung gemacht, die – wenn sie regelmäßig praktiziert wird – zu einer tiefgreifenden Wandlung des irdischen Lebens führt, zur Geburt eines "neuen Menschen" (vgl. Röm 6–8).

In der christlichen Tradition wird diese Übung Kontemplation genannt: "Habe allein Gott im Sinn, der dich erschaffen, erlöst und voll Gnade zur Kontemplation gerufen hat. […] Es genügt völlig ein nacktes, reines Ausgerichtetsein auf Gott, das kein anderes Motiv hat als ihn selbst", heißt es in der "Wolke des Nichtwissens" (Kap. 7), einer aus dem Spätmittelalter stammenden Schrift, die in die Übung der Kontemplation einführt. 

Geh, verlass die Heimat

Dem Alttestamentler Fridolin Stier (1902–1982), der an der Universität Tübingen Exegese des Alten Testamentes gelehrt hat, verdanken wir einen Text, der gerne im Rahmen von Kontemplationskursen rezitiert wird und der in Anspielung an Spitzentexte der Heiligen Schrift diese Erfahrung wie folgt ins Wort fasst:

Geh, verlass die Heimat,
die Welt, darin du geboren, bist, darin du dich eingerichtet hast –
das Haus voll von den Namen der Dinge, die um dich sind,
lass alles, was dir die Sprache über sie zu wissen gibt,
lass auch alles, was dir die Wissenschaft über sie vorspricht,
lass auch die Begriffe, mit denen du nach den Dingen greifst –
lass dieses Haus hinter dir, geh!
Dann wirst du, vielleicht wirst du dann dem Anderen begegnen,
für das du weder Namen noch Wissen noch Begriffe hast,
dem ur- und ingründig Wirklichen und Wirkenden begegnen.
Du wirst 'schauen' … Dann ist kein Ding mehr,
was es dir zuvor gewesen, ein jedes, eins um das andere,
wird dir einen Namen sagen, den du nicht nachsprechen kannst.
Und dann wird dir, vielleicht wird dir dann aus allem und jedem,
das um dich ist, das Unnennbare erscheinen,
und du wirst jene Stimme hören, die du noch nie gehört,
sehr nah und gewaltig wirst du sie rufen hören:
Ich bin da!"
COMMUNIO Hefte

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt gratis testen