Flügel überall: Jean Paul (1763–1825) ist der Dichter der Freundschaft, der Liebe und der Engel. In keinem Werk der deutschen Literatur wuseln sie mehr herum, als in den Erzählungen und Romanen des Pastorensohnes aus Wunsiedel im Fichtelgebirge.
Der hochbegabte Junge hatte einen wahrhaft enzyklopädischen Wissensdurst, weit über die gelehrten Bücher hinaus. Die alten Sprachen lernte er bereits als Schüler mit jener Leichtigkeit, die seinen Lehrer erblassen ließ. Texte aus dem Alten Testament in hebräischer sowie griechische Texte des Neuen Testaments übersetzte er aus dem Stand ins Lateinische – die Wissenschaftssprache seiner Zeit. Jean Paul war ein Überflieger.
Schon früh hatte er mit dem Schreiben begonnen. Zu seinen Vorbildern gehörten Daniel Defoe (1660–1731) und Laurence Sterne (1713–1768). Der Autor des "Robinson Crusoe" sollte nach dem Willen seines Vaters Pfarrer werden, der Verfasser des "Tristram Shandy" diente als Priester der anglikanischen Kirche.
Himmlische Heiterkeit
Jean Paul schloss das Studium der Theologie nicht ab. Wozu auch? Ein wahrer Dichter in seinem Sinne war auch Theologe! Wer die Geheimnisse Gottes und seiner Engel studiert, der gewinnt aus dieser himmlischen Perspektive Abstand zu allen irdischen Sorgen.
Jean Pauls Bücher sind erfüllt von einer himmlischen Heiterkeit. In ihr sind die Gegensätze des Lebens aufgehoben. Mich hat Jean Pauls Welt gleich bei der ersten Lektüre ergriffen. Ich las die "Flegeljahre" mit dem ungleichen Zwillingspaar Gottwald (Walt) Harnisch und Quoddeusvult (Vult), die an einem Doppelroman mit dem Titel "Hoppelpoppel oder mein Herz" bastelten. Der Titel und die Geschwisterkonstellation gefielen mir.
Überall Flügel: Die Dichtung beflügelt, die Liebe breitet ihre Schwingen, überall Gesumm und Gebrumm in der Natur, Bienen- und Schmetterlingsflügel, überall Himmelsleitern und Montgolfieren und der Luftschiffer Giannozzo. Der Engel ist in und über den Dingen. Er gehört zur Geisterfahrung, ist das "fliegende Geistes-Licht", die transzendierende Bewegung, mit der die Liebenden die Erde hinter sich lassen, wenn das Herz den Kopf überflügelt. Engel verleihen dem Schlaf Flügel. Vor allen Dingen sind die liebenden Frauen engelgleiche Gestalten. Jean Paul war der meistgelesene Dichter seiner Zeit. Emphatisch und empathisch, hochsensibel, einfühlsam und invasiv. Der erste feministische Autor in Deutschland. Goethe und Schiller zeigten ihm die kalte Schulter. Auch besaß er für ihr klassisches Lebensgefühl zu wenig Haltung und Distanz.
Viele bezeichneten damals die Geliebte als Engel. Doch ein inflationärer Gebrauch der Metapher beflügelt nicht das Herz. Jean Paul aber vergleicht in seinem Roman "Titan" die schöne Liane mit einem sechsflügeligen Seraphim. Das ist weit mehr als eine Steigerung eines bekannten Motivs. Der engelaffine Jean Paul entnimmt den drei Flügelpaaren das Geheimnis aller Schönheit. Wahre Erotik hält die fragile Balance zwischen Enthüllung und Verhüllung:
"Indem er durch die Fülle der Jahres-Zeit eilte, dacht’ er an die reiche Zukunft, an Lianes Stammeln und Verhüllen: brauchen nicht schöne weibliche Seelen wie jene Engel vor dem Propheten nur zwei Flügel zum Erheben, aber vier zum Verhüllen?"
Die Freude am Abschweifen
Der Engel ist für Jean Paul der Freund des Menschen. Er steht am Anfang des Lebens und begrüßt die Seele mit einem Freundschaftskuss, er wartet auf sie nach dem Tod des Leibes. In dem Roman "Die unsichtbare Loge" formuliert der Dichter "Wünsche für meinen Freund", den Engel der Freude, den Engel der Tränen des Mitleids, den Engel der Geduld:
"Es ist kein Wahn, dass Engel um den bedrohten Menschen wachen, wie die Mutter unter ihren Freuden und Geschäften ihre Kinder hütet. O! ihr unbekannten Unsterblichen! Schließt euch ein einziger Himmel ein? – Dauert euch nie der wehrlose Erdensohn? – Solltet ihr größere Tränen abzutrocknen haben als unsre? – Ach, wenn der Schöpfer seine Liebe so in euch wie in uns gelegt hat, so sinkt ihr gewiss auf diese Erde und tröstet das umstürmte Herz unter dem Monde, fliegt um die gedrückte Seele, deckt eure Hand auf die versiegende Wunde und denkt an die armen Menschen!
Und wenn hienieden ein Geist geht, der euch einmal gleichen wird, könnt ihr euren Bruder vergessen? – Engel der Freude! (…)
Engel der Tränen und der Geduld! Du, der du öfter um den Menschen bist! Ach, vergesse mein Herz und mein Auge und lass sie bluten – sie tun es doch gern –; aber stille, wie der Tod, das Herz und das Auge meines Freundes und zeig ihnen auf der Erde nichts als den Himmel jenseits der Erde. - Ach, Engel der Tränen und der Geduld! (…)
O Engel der Geduld! Ich liebe dich, ich kenne dich! Ich werde in deinen Armen sterben!"
Wozu Dichtung? Jean Paul schrieb seine Bücher in erster Linie zur eigenen Unterhaltung. Er hatte Freude an den abseitigen Gebieten des Wissens. Auf Zetteln notierte er seine Lesefrüchte und streute sie meistens assoziativ in seine Bücher. Wie Laurence Sterne liebte er die Abschweifung (Digression), sodass der Faden der Erzählung nicht labyrinthisch zum Ziel führt, sondern wie in einem Irrgarten gelegentlich ins Leere läuft. Einige seiner Romane blieben daher Fragment.
An der Zettelwirtschaft Jean Pauls muss der Leser Freude haben und vor allen Dingen braucht er viel Zeit und Müßiggang, denn die Erzählungen mäandern dahin. Jean Paul schreibt mit dem langen Atem der Engel, und wie die Himmlischen hält er viele Überraschungen bereit. Unter den tausenden von Zetteln findet sich eine Lesefrucht aus der islamischen Engelwelt. Sie ist nicht nur heiter und erfrischend neu, selbst für alte Engelforscher, sondern zieht in jenen imaginativen Kontext, der sogleich Nachdenklichkeit stiftet und beglückende Neugier entfacht. Da heißt es:
"Die Türken halten die Sternschnuppen für Feuerbrände, welche die Engel auf die Teufel werfen, die den Himmel ersteigen wollen."
Todesengel
Engel sichern die Rahmenbedingungen für das Leben. Jean Paul kannte sie als Taufengel und Todesengel, den er auch den Würgeengel nennt. Taufengel sind ein altes lutherisches Taufgerät. Ein aus Holz geschnitzter lebensgroßer Engel mit einer Taufschale kann von der Decke der Kirche heruntergelassen werden. Er macht augenfällig, dass alles Gute von oben kommt und fast immer reine Gnade ist, wie es Martin Luther wollte. Im Sterben sieht das "Schulmeisterlein Maria Wuz" den Taufengel:
"Der Lebensstrom nach seinem Kopfe wurde immer schneller und breiter: er glaubte immer wieder, verjüngt zu sein; den Mond hielt er für die bewölkte Sonne; es kam ihm vor, er sei ein fliegender Taufengel, unter einem Regenbogen an eine Dotterblumenkette aufgehangen, im unendlichen Bogen auf- und niederwogend."
Dann kommt der Todesengel und hebt die Seele in den Himmel. Was aus dem Grab ins Licht gehoben wird, ist "die beerdigte Puppe des Nachtschmetterlings mit Flügeln". Zu den ersten Texten des Autors gehört die Erzählung "Der Tod eines Engels". Jean Paul hat sie in verschiedenen Fassungen herausgegeben, bis sie eine letzte Form innerhalb des Romans "Leben des Quintus Fixlein" fand. Ihr Eingang wird gerne auf den Homepages der Hospizbewegung zitiert:
"Zum Engel der letzten Stunde, den wir so hart den Tod nennen, wird uns der weichste, gütigste Engel zugeschickt, damit er gelinde und sanft das niedersinkende Herz des Menschen vom Leben abpflücke und es in warmen Händen und ungedrückt aus der kalten Brust in das hohe warme Eden trage. Sein Bruder ist der Engel der ersten Stunde, der den Menschen zweimal küsset, das erstemal, damit er dieses Leben anfange, das zweitemal, damit er droben ohne Wunden aufwache und in das andere lächelnd komme, wie in dieses Leben weinend."
Nun aber beginnt nach diesem Vorsprung, jene originelle Wendung, mit der Jean Paul aus der alten Überlieferung eine neue angelologische Dimension entwickelt. Engel leisten seit Lazarus’ Zeiten den Seelentransfer. Aber verstehen sie überhaupt, was sie da tun? Wissen sie, was es heißt, krank zu sein, zu leiden und zu sterben?
Christus wurde Mensch, den Menschen in allem gleich, nur nicht der Sünde (Kann er dann wahrer Mensch gewesen sein?). Er litt und starb. Engel wissen nicht, was der Tod ist. Und genau dieses Erfahrungsdefizit treibt Jean Pauls Engel des Mitleids um. Er will Mensch werden. "Ach, ich will einmal sterben wie ein Mensch, damit ich seinen letzten Schmerz erforsche und ihn stille, wenn ich sein Leben auflöse." Ein sterbender Jüngling auf dem Schlachtfeld zieht ihn an. Neben dem Leidenden liegt die trauernde Geliebte. Der Engel nimmt ihre Gestalt an. Dann schlüpft er wie ein Blitzstrahl in die sterbende Hülle. Der Soldat stirbt.
"Die Braut des emporgetragenen Helden merkte nicht, dass in der Brust ihres Geliebten nur ein Engel wohne: Sie liebte noch die aufgerichtete Bildsäule der verschwundenen Seele und hielt noch fröhlich die Hand dessen, der so weit ihr gezogen war. Aber der Engel liebte ihr getäuschtes Herz mit einem Menschenherzen wieder, eifersüchtig auf seine eigene Gestalt – er wünschte, nicht früher als sie zu sterben, um sie so lange zu lieben, bis sie es ihm einmal im Himmel vergäbe, dass sie an einer Brust zugleich einen Engel und einen Geliebten umfangen."
Die Braut stirbt und auch der Engel. Nun erfährt er das Schicksal aller Menschen. Durch den Tod kommt er ins Leben. Was aber hat er erfahren?
"Tief rührte ihn die menschliche Tugend, und er weinte aus unendlicher Liebe gegen die Menschen, die unter dem Anbellen ihrer eigenen Bedürfnisse, unter herabgesunkenen Wolken, hinter langen Nebeln auf der einschneidenden Lebensstraße dennoch vom hohen Sonnenstern der Pflicht nicht wegblicken, sondern die liebenden Arme in ihrer Finsternis aufbreiten für jeden gequälten Busen, der ihnen begegnet, und um die nichts schimmert als die Hoffnung, gleich der Sonne in der alten Welt unterzugehen, um in der neuen aufzugehen."
Mit 45 Jahren war Jean Paul ein alter, dicklicher Mann. Zahlreiche echte und eingebildete Leiden quälen den Hypochonder. Aber er ertrug alle Misslichkeiten mit Engelsgeduld. Er hatte eine Familie gegründet. In Bayreuth fand er nach vielen Wohnortswechseln seine letzte Bleibe. Zu Hause hielt er eine ganze Menagerie: Eichhörnchen, Vögel und Mäuse, einen Wetterfrosch, für dessen Ernährung er Fliegen züchtete. Seine Nächte waren unruhig. Wohl zwanzigmal, berichtet er, wachte er auf. Morgens trank er ein Glas eiskaltes Wasser auf nüchternen Magen, dann einen leichten französischen Landwein.
Draußen vor den Toren der Stadt lag der Landgasthof von Anna Dorothea Rollwenzel. Hier besaß Jean Paul ein Arbeitszimmer. Er wanderte jeden Morgen mit seinem Knotenstock aus Rosenholz, einer Botanisiertrommel und seinem Hund zur Rollwenzelei. Der Spitz war immer um ihn wie später der schwarze Pudel, der seinen Tod nur wenige Wochen überlebte.
Als der Engel des Todes sein Kommen andeutete, fand er Jean Paul bereit. Bis in seine letzten Lebenstage machte er, was er immer gemacht hatte: Er ordnete sein Leben durch Schreiben. Als Unterleib und Beine immer stärker anschwollen und die Augen gänzlich erblindeten, diktierte er täglich weiter an seinem letzten philosophischen Roman "Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele". Im Sommer 1826 besuchte Wilhelm Müller die Rollwenzelei und notierte, was ihm die Wirtin mitteilte:
"Fünfzig Jahre noch hätte er zu schreiben gehabt, das hat er mir selber oft gesagt, wenn ich ihn bat, sich zu schonen und das Essen nicht kalt werden zu lassen. Nein, nein, so ein Mensch wird nicht wieder geboren. Er war nicht von dieser Welt."