Der 2018 erschienene Roman Baron Wenckheims Rückkehr von László Krasznahorkai gleicht einer Passage in arktische Breiten, wo Treibeis und Stürme lauern. Der Reisende benötigt eine gewisse Ausdauer, um sich in die verwirrende Lage einzufinden. Nach einer Weile jedoch lichten sich die Nebel, er sieht die Konturen einer fantastischen Landschaft. Am Ende ist er froh, die Komfortzone des Lesens verlassen und eine Erfahrung gewonnen zu haben, von der er nie geträumt hätte.
Die Kälte in diesem durch und durch ungemütlichen Buch rührt daher, dass wir einem geradezu dostojewskihaften Ensemble von Figuren begegnen, die selten sympathisch sind. Manche von ihnen sind korrupte Zyniker, andere traurige, gescheiterte Gestalten, und alle sind sie in ihre Interessen und Schicksale verstrickt. Manche wachsen uns ans Herz, weil sie uns irritierend ähnlich sind.
Eine Wärmezone in der Ungemütlichkeit
Es gibt aber eine Wärmezone, die den Roman mit einem stillen Glühen erfüllt: eine tragikomische, eine ergreifende Liebesgeschichte. Béla Wenckheim nämlich, Nachkomme eines österreichisch-ungarischen Adelsgeschlechts, der lange Jahre in Argentinien verbracht hat, kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück, in die an der rumänischen Grenze gelegene ungarische Kleinstadt, und er tut dies nicht, um das Schloss der Vorväter zu beziehen und erloschenen feudalen Glanz wieder herzurichten, sondern einzig deswegen, weil dort die Liebe seines Lebens lebt, jene damals Neunzehnjährige, die er, der Siebzehnjährige, angebetet und nie vergessen hat.
Nun ist der Baron mittlerweile 65 Jahre alt und die einst Geliebte entsprechend älter, so dass er sie, als sie einander endlich begegnen, schlichtweg nicht wiedererkennt – während sie, die einsame, die resignierte Frau, die er durch vorausgeschickte Liebesbriefe in Flammen gesetzt hat, sich aufs Bitterste gedemütigt fühlt. Der Baron zeigt ihr das Jugendfoto, das er immerzu bei sich trägt, und er fragt sie, ob sie ihm nicht helfen könne, diese Frau zu finden.
"Das konnte doch nicht sein, dass er herkam, sich ihr gegenübersetzte, sie ansah und nicht realisierte, wer sie war, das war doch einfach nicht möglich (…), sie senkte langsam den Kopf und begann, stumm zu weinen, und der Baron schaute sie immer noch mit dem gleichen entsetzten Blick an, schaute noch immer, so saßen sie sich gegenüber, lange Minuten vergingen, und keiner von ihnen sagte etwas, es gab nichts zu sagen, dann ließ der Baron die Tasse langsam sinken, stellte sie aufs Tischchen zurück, stand auf (…) und ging wie ein Schlafwandler in den Flur hinaus …"
Jede Geschichte eine Nahaufnahme
Wenn man diese Geschichte so resümiert – und es ist ja nur eine von Dutzenden, lediglich ein einziger Faden des hundertfädrigen Gewebes –, dann entsteht der Eindruck, es wäre hier ein ordentlicher Erzähler am Werk. Aber den gibt es nicht. Denn jede dieser Episoden wird ausschließlich aus der Sicht der Beteiligten geschildert, jede ist eine Nahaufnahme, das Standfoto eines endlosen Films, und jede besteht aus einer Kaskade langer melodischer Sätze, aus Monologen und Dialogen, aus indirekter Rede, beiseite Gesprochenem und vor sich hin Gedachtem.
Dieses Buch läse sich nicht derart faszinierend, besäße Krasznahorkai nicht eine stupende literarische Musikalität. Sie verleiht seiner Prosa einen nie gehörten Sound, in dem man nach und nach widerstandslos versinkt.
Die Szenen stoßen hart aneinander. Gerade mal ein Absatz macht kenntlich, dass jetzt eine andere Person spricht, eine andere Stimmungslage anklingt, eine andere Befindlichkeit Gehör verlangt. Es gibt keine Erläuterungen und Regieanweisungen; die üblichen Überleitungstexte fehlen vollständig. Das Ganze gleicht einem Orchester vor dem Konzertbeginn, wo jeder Instrumentalist ein paar Fingerübungen macht, ein paar Fragmente spielt, bis endlich alle zueinander finden. Und dieses Buch läse sich nicht derart faszinierend, besäße Krasznahorkai nicht eine stupende literarische Musikalität. Sie verleiht seiner Prosa einen nie gehörten Sound, in dem man nach und nach widerstandslos versinkt.
So entsteht eine Atmosphäre der Vermutungen, Verdächtigungen, des latent und am Ende wirklich Bedrohlichen. Eine Weile allerdings sieht es fast so aus, als ginge diese Kleinstadt, die an Korruption und ökonomischem Niedergang leidet, einer glanzvollen Zukunft entgegen. Denn die Ankunft Wenckheims erweckt die größten Hoffnungen. "Der schwerreiche südamerikanische Baron", so die Medien, werde den Aufschwung ermöglichen.
Gutherziger Versager
Der Bürgermeister lässt einen prächtigen Empfang am Bahnhof organisieren, eine Kutsche wird bereitgestellt, der Frauenchor wird ein Willkommenslied singen, und die "Schutztruppe", eine neonazistische Motorrad-Gang, wird ein machtvolles Hupkonzert zum Besten geben. Auch hat man das heruntergekommene Schloss der Wenckheims, in dem sich ein Waisenhaus befindet, geräumt, die Waisenkinder umquartiert, ein Schlafgemach notdürftig hergerichtet. Die örtlichen Medien werden unter Druck gesetzt, kritische Kommentare zu unterlassen, denn das Ganze ist ein vaterländisches Projekt erster Güte, wie der Bürgermeister klarstellt.
"Für den Fall", sagt er an die Adresse der Journalisten, "dass Sie nicht die Wahrheit schreiben, also nicht das, was hier gesagt wurde, können Sie und Ihre Zeitungen sehen, wo Sie bleiben, denn das hier ist, dem Himmel sei Dank, keine 'Demokratie' mehr, von jetzt an, er machte mit der Hand eine ausladende Bewegung, mit der er gewissermaßen die ganze Welt einbezog und beugte sich vor, das hier ist ein Besitztum, dessen Herr nach so vielen Jahrzehnten, er fuhr sich mit der Hand noch einmal über den Schädel, endlich wiedergekommen ist."
Der Witz ist nur, dass dieser Baron von seinen großmächtigen Verwandten, die in Wien eine profitable Brauerei besitzen, aus der argentinischen Haft, wo er wegen Spielschulden einsaß, befreit worden war, um einen Skandal zu vermeiden. Der Witz ist, dass Béla Wenckheim außer den paar hundert Euro, die man ihm mitgegeben hat, um ihn loszuwerden, nichts besitzt, dass er ein gutherziger Versager, letztlich ein Trottel ist.
In mancher Hinsicht gleicht er dem Fürsten Myschkin in Dostojewskis Roman "Der Idiot", mit dem Unterschied freilich, dass dieser redet und handelt, während Wenckheim, der meistens schweigt, die Begegnung mit anderen Menschen nicht erträgt. Er ist das Pendant zu dem Helden von Krasznahorkais Roman "Krieg und Krieg" (1999), der pausenlos auf wildfremde Menschen einredet, die ihm zumeist gar nicht zuhören.
Satanische Kräfte kommen ins Spiel
Die Rückkehr des Barons also wird ein Fiasko, für ihn selbst wie für die Stadt. Der großartige Empfang am Bahnhof misslingt, und die Stadtoberen versuchen danach, alle Spuren dieser Peinlichkeit zu verwischen. Bis hierhin liest man die Geschichte wie eine absurde Komödie, aber es ist eine Komödie, die immer schwärzer wird. Denn nun stirbt der Baron einen gespenstischen, schrecklichen Tod. Für seine Beerdigung interessiert sich niemand mehr.
Stattdessen kommen satanische Kräfte ins Spiel. Die Obdachlosen, die in die Stadt zurückgekehrt sind, nachdem man sie wegen des prominenten Gastes entfernt hatte, spüren, dass etwas in der Luft liegt. Die Zeit steht für einen Augenblick still. "Gerade wollte auf dem kleinen Platz neben dem Stadthaus das Gelächter ersterben, da erstarrten sie alle, weil etwas geschah, nur wussten sie nicht was, sie spürten nur, wie es ihnen den Magen zusammenzog, wie es sie heiß überlief und ihnen eine immer größere Angst kam …"
Auch die Bewohner der Stadt, die sich eben noch auf dem Bahnhofsplatz jubelnd versammelt hatten, verkriechen sich in ihre Häuser. Und selbst die terroristischen Motorrad-Nazis ziehen sich zurück. In den leeren Straßen nämlich taucht ein unheimlicher Konvoi schwarzer Limousinen auf, deren Insassen verborgen bleiben. Die Stelle des untauglichen, vergeblich gestorbenen Messias Wenckheim besetzt niemand anderes als der Teufel – so jedenfalls kann man das Ende interpretieren.
László Krasznahorkai hat keine Ähnlichkeit mit irgendjemandem sonst – ausgenommen vielleicht Kafka, den er mit Recht für den Größten hält.
Muss man aber nicht. Denn längst ist klar, dass dieser Roman nicht eins zu eins zu verstehen ist. Zwar hat diese Stadt viele Ähnlichkeiten mit Gyula, der Geburtsstadt des Dichters, aber zugleich ist sie ein apokalyptisches Sinnbild oder Zerrbild. Zwar ist dieses Land, in dem die Geschichte spielt, zweifellos das Ungarn von heute, zugleich aber ist es ein überzeitliches, ein phantasmagorisches Land, in dem alle bösen Geister der Vergangenheit – und nicht allein der ungarischen – gleichzeitig ihr Unwesen treiben.
László Krasznahorkai, der soeben mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, zählt zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er hat keine Ähnlichkeit mit irgendjemandem sonst – ausgenommen vielleicht Kafka, den er mit Recht für den Größten hält. Geboren 1954 hat Krasznahorkai internationale Anerkennung gefunden und beispielsweise 2015 den Man Booker Prize erhalten. Dieses Buch zu übersetzen, war eine gewaltige Aufgabe, und Christina Viragh hat sie glanzvoll gelöst.