Josef Pieper (1904–1997) gilt als einer der bedeutendsten christlichen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Er ist vor allem für seine thomistisch-philosophischen Arbeiten bekannt. Hier sollen allerdings seine beiden autobiografischen Werke Noch wusste es niemand und Nicht aller Tage Abend im Mittelpunkt stehen.
Das erste wurde erstmals 1976 veröffentlicht, der zweite Band Nicht aller Tage Abend, der die Jahre von 1945 bis 1964 behandelt, erschien erstmals 1979. 1988 wurden mit Eine Geschichte wie ein Strahl noch die Aufzeichnungen 1964 bis 1984 veröffentlicht, auf die ich hier aber nicht eingehen werde.
Piepers autobiografische Schriften sind nicht nur persönliche Erinnerungen, sondern auch philosophische und literarische Meisterwerke, in denen sich sein Leben, sein Denken und vor allem sein Verständnis von Hoffnung widerspiegeln.
Man könnte ihn selbst getrost als einen "Pilger der Hoffnung" bezeichnen. Pieper versteht es meisterhaft, komplexe theologische und philosophische Gedanken in eine poetische Sprache zu kleiden – eine Sprache, die geprägt ist von Klarheit und Tiefe, von erzählerischer Lebendigkeit, die dennoch eine tiefe Ruhe ausstrahlt.
Josef Piepers Herkunft aus einem katholisch geprägten Elternhaus und die Erziehung in einem Umfeld von Bildung und Glauben legten den Grundstein für sein späteres philosophisches, literarisches und theologisches Interesse. Pieper studierte Philosophie, Rechtswissenschaft und Soziologie in Münster und Berlin. Besonders prägend war seine intensive Auseinandersetzung mit der scholastischen Philosophie, vor allem mit Thomas von Aquin, dessen Denken er zeitlebens als Fundament seiner eigenen Philosophie betrachtete.
Ein Leben, das das gesamte 20. Jahrhundert umfasst – Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit – prägte Piepers existenzielles Denken tief.
Hoffnung im Angesicht von Ungewissheit und Krieg
Der erste autobiografische Band Noch wusste es niemand umfasst die Jahre von Piepers Geburt bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Titel verweist auf eine Zeit des Ungewissen, des "Noch-nicht-Wissens" über das Kommende, das Pieper als existenzielle Spannung beschreibt, in der die Hoffnung wurzelt:
"Noch wusste es niemand, was kommen würde – und dennoch war da dieses unbestimmte, aber sichere Gefühl, dass es weitergehen musste."
Diese Aussage bringt die Hoffnung als eine innere Gewissheit zum Ausdruck, die nicht auf Wissen, sondern auf Vertrauen gründet. Für Pieper ist der Mensch ein viator, ein Wanderer und Pilger auf dem Weg, der sich im "Noch-nicht" befindet. Hoffnung ist die Kraft, die dieses "Noch-nicht" mit Zuversicht erfüllt und das Leben trotz aller Widrigkeiten trägt.
Das Werk ist weit mehr als eine reine Lebensbeschreibung. Es verbindet persönliche Erinnerungen mit philosophischen und theologischen Reflexionen. Pieper schildert seine Kindheit in einem katholisch geprägten Elternhaus, seine Schulzeit, die prägenden Jahre an der Universität Münster und Berlin sowie die Begegnungen mit bedeutenden Denkern wie Erich Przywara und Romano Guardini. Seine Teilnahme an den Ignatianischen Exerzitien beschreibt er als eine "Initiation ins Erwachsensein" – eine spirituelle Erfahrung, die seine Hoffnung vertiefte.
Die Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges wird aus der Perspektive eines Menschen geschildert, der trotz der politischen und gesellschaftlichen Katastrophen seine innere Haltung bewahrt. Hoffnung ist hier kein naiver Optimismus, sondern eine existenzielle Grundhaltung, die aus Vertrauen entsteht:
"Es war nicht die Gewissheit, sondern das Vertrauen, das uns durchhalten ließ."
Hoffnung als Lebenskunst nach Katastrophen
Der zweite Band Nicht aller Tage Abend setzt nach dem Krieg an und beschreibt die Jahre des Wiederaufbaus und der Neuorientierung. Der Titel ist eine poetische Metapher, die ausdrückt, dass das Ende noch nicht gekommen ist, dass Hoffnung auf Neubeginn besteht:
"Nicht aller Tage Abend – das war mehr als eine Redensart. Es war die Überzeugung, dass auch nach schwersten Niederlagen ein neuer Anfang möglich ist."
In diesen Aufzeichnungen reflektiert Pieper die Herausforderungen der Nachkriegszeit, die gesellschaftlichen Umbrüche und die persönliche Auseinandersetzung mit Verlust und Verantwortung. Die Hoffnung wird hier als Lebenskunst dargestellt:
"Hoffnung heißt, das Unsichtbare für möglich zu halten und dem Morgen zuzutrauen, dass es mehr bereithält als das Gestern."
Das Unsichtbare für möglich halten – ein Satz, der mehrmals gelesen werden darf!
Piepers Studien über die Hoffnung als Tugend erweisen sich hier in seinem Leben existenziell verwurzelt. Um nur eines von vielen Beispielen zu nennen, schreibt er nach dem plötzlichen Tod seines Sohnes Thomas 1964:
"So endete, mit einem jähen Schnitt in den Lebenskern, das 'Jahr der Toten'. Niemals wieder würden die Dinge das gleiche Gesicht zeigen wie zuvor. Der Weltenlauf indes ging unbeirrt seines Weges. Welchen Weges – das wusste noch niemand."
Auch hier spürt man in allem Schmerz die Haltung der Hoffnung, das Aushalten des "Noch-nicht-wissens" in einer Art "Hochgemutheit" – ungeachtet der Umstände – heraus. Denn Hoffnung ist nicht naive, optimistische oder unerfahrene Erwartung, sondern eine bewusste Haltung, eingeübt und zugleich geschenkt:
"Vor allem zwei Dinge seien notwendig, damit der Mensch des Geschenks der Hoffnung teilhaftig werde: Hochgemutheit und Demut, zwei einander anscheinend widerstreitende Dinge."
An anderer Stelle wird deutlich, was er mit dem Wort Hochgemutheit meint:
"Resignation demnach? Nein! Jedenfalls nicht notwendigerweise. Offenbar gibt es so etwas wie Heiterkeit des Nicht-wissen-Könnens. Und gerade Menschen von großer Geisteskraft scheinen durch sie geprägt."
Hoffnung als Tugend
In beiden Werken wird Hoffnung als theologische Tugend thematisiert, die Geschenk und Aufgabe zugleich ist. Pieper betont, dass Hoffnung nicht bloß menschliche Leistung ist, sondern ein Geschenk Gottes, das angenommen werden muss:
"Hoffnung ist Geschenk, in einem so absoluten Sinn, dass der Mensch das Entscheidende auf keine Weise selber tun kann – wiewohl er anzunehmen und abzulehnen vermag."
Dass Hoffnung nur als theologische Tugend eine Tugend sein kann, ist ihm offensichtlich, wie er in seinem Essay Über die Hoffnung schreibt:
"Niemals könnte ein Philosoph auf den Gedanken kommen, die Hoffnung zu einer Tugend zu erklären, es sei denn, er wäre zugleich christlicher Theologe. Denn die Hoffnung ist entweder theologische Tugend, oder sie ist überhaupt nicht Tugend. Sie wird zur Tugend durch nichts anderes als wodurch sie zur theologischen Tugend wird."
Für Pieper ist Tugend nicht bloß eine sittliche "Ordentlichkeit", sondern die "Erfüllung menschlichen Seinkönnens", das ultimum potentiae, also das Äußerste dessen, was ein Mensch sein kann. Tugend bedeutet für ihn die Unbeirrbarkeit der menschlichen Ausrichtung auf das Gute und die Verwirklichung der Glückseligkeit. Hoffnung als Tugend ist demnach eine Kraft, durch die der Mensch seinem inneren Werdedrang folgt und auf das ihm von Natur zugeordnete Gut ausgerichtet ist.
Zentral ist bei Pieper die Vorstellung des Menschen als status viatoris – als Wanderer oder Pilger, der sich im "Noch nicht" befindet. Hoffnung ist die Tugend des "Noch nicht", die den Menschen in vertrauender Erwartung auf das steile "Noch nicht" der Erfüllung ausrichtet, sowohl im natürlichen wie im übernatürlichen Sinn. Sie ist eine der "ganz einfachen Ur-Gebärden des Lebendigen".
Wenn die Hoffnung die dem Menschen angemessene, ihn zur Vollendung führende Seinsweise ist, sind sowohl Verzweiflung oder Vermessenheit – beides Weisen der Hoffnungslosigkeit – "seinswidrige Vorwegnahmen" der Nicht-Erfüllung oder der Erfüllung:
"Die praesumptio ist die seinswidrige Vorwegnahme der Erfüllung. Auch die Verzweiflung ist Vorwegnahme. Sie ist die seinswidrige Vorwegnahme der Nicht-Erfüllung: 'Verzweifeln heißt in die Hölle hinabsteigen'."
Der Mensch aber ist zu anderem berufen: Das Leben ist eine Wanderschaft in Hoffnung, die den Menschen als Geschöpf und Wanderer auf das endgültige Gute hin ausrichtet. Die Hoffnung ist eine Kraft, die über bloße Illusion hinausgeht und in der Verankerung im Glauben ihre wahre Wirklichkeit findet.
Einen schönen Abschluss findet die Autobiografie mit folgenden Worten:
"Auch die unabweisbare Einsicht, […] dass 'noch nicht aller Tage Abend' sei, kann beides befeuern, die Hoffnung wie die Furcht. Doch hält die abendländische Theologie eine nicht leicht zu durchdenkende Auskunft bereit, die beide Möglichkeiten übergreift und in etwa sogar aufhebt. Die Auskunft besagt, der Siebente Tag, der Tag der Gottesruhe wie auch des Menschen Ruhe in Gott, habe wohl einen Morgen, einen Abend jedoch nicht."