"Musik lässt Unendlichkeit erleben"Der Pianist Gilead Mishory über seinen Förderer Alfred Brendel

Gilead Mishory spricht über Alfred Brendel, der kürzlich im Alter von 94 Jahren verstorben ist. Er sagt: "Die emotionale und intellektuelle Energie, die miteinander ziemlich verwoben waren und die vom Podium aus zu dir als Zuhörer strömten, die haben mich sehr inspiriert."

Alfred Brendel
Alfred Brendel© Jiyang Chen/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

Jan-Heiner Tück: Der Pianist Alfred Brendel ist am 17. Juni 2025 94-jährig in London gestorben. Wie hat Sie die Nachricht erreicht? Was war Ihre Reaktion?

Gilead Mishory: Ich habe die Nachricht zwischen zwei Unterrichtseinheiten hier an der Musikhochschule Freiburg erhalten, gegen 17 Uhr drückte ich auf meine E-Mail-App und sah, dass 40 Minuten davor Brendels Lebensgefährtin wohl auch mir geschrieben hat. Ich war sehr betroffen. So sehr man damit irgendwie rechnet, wenn es sich um einen wirklich sehr alten Mann handelt, und man weiß, irgendwann wird die Welt auch weiterlaufen ohne ihn, auch mein Leben, das sehr von ihm geprägt war, wird ohne ihn laufen, laufen müssen und laufen können. Es ist trotzdem so, dass ich jetzt ein Stück mehr Waisenkind bin als zuvor …

Tück: Auf YouTube gibt es eine wunderbare Aufnahme, wo Brendel in einer Meisterklasse mit Ihnen die Sturmsonate von Beethoven durchgeht. Wie ist die Erinnerung daran?

Mishory: Ja, das war eine Reihe der BBC, die eine Meisterklasse von Brendel in Jerusalem im damals noch ganz neuen Mishkenot-Musikzentrum dokumentiert hat. Ich war noch am Beginn meines Klavier-Studiums – und dies nach dreijähriger Unterbrechung, wo ich überhaupt nicht gespielt hatte. Daher war die Meisterklasse bei Brendel ein sehr bedeutender Moment für mich. Seine allererste Bemerkung, nachdem ich gespielt hatte, war: "Sehr gut, Ihre Vorstellungen sind ähnlich wie meine."

Tück: Ja, und dann fügt er an "But I will give you a few hints."

Mishory: Richtig. Aber es entstand sofort so eine Art von Anerkennung und Unterstützung, die man sehr oft bei Meisterklassen gerade nicht erlebt. Und das war damals für mich sehr wichtig. Ich war wahnsinnig aufgeregt, weil die anderen, die dort teilgenommen haben, damals schon die besten jungen Pianisten Israels waren, also wirklich super begabte Leute …

"Herr Brendel hat mich zur Seite genommen und gesagt 'Ich weiß nicht, was Ihre Pläne sind, aber wenn Sie jemals meine Hilfe brauchen, das ist meine Telefonnummer.'"

Tück: Sie gehörten eben dazu ...

Mishory: Nein, ich gehörte überhaupt nicht dazu bis dahin. Ich war wirklich neu und nach Jahren, in denen ich nicht gespielt hatte, war für mich überhaupt die Frage: Soll ich Musik studieren, soll ich nicht? Daher war das ein einschneidendes Erlebnis. Und am Ende dieser drei Tage hat Brendel alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer zum Essen eingeladen. Danach gab es so eine Art "Auf Wiedersehen-Defilee". Da hat mich Herr Brendel zur Seite genommen und gesagt "Ich weiß nicht, was Ihre Pläne sind, aber wenn Sie jemals meine Hilfe brauchen, das ist meine Telefonnummer."

Tück: Großartig.

Urknall

Mishory: Ja, damals gefühlt wie ein Urknall. Und da begann eine, ja, wie kann man das nennen, eine Art Lehrer-Schüler oder eine Art hoher Kollege und sehr niedriger Kollege-Beziehung. Am Anfang meines Studiums in Europa hatte ich das Privileg, mit ihm immer wieder zu arbeiten. Er hat mich live gehört und unterrichtet – das war ein großes Glück. Ich lebte damals in München und habe dann alle seine Konzerte, auch die Generalproben, gehört, zu denen man, wenn es Soloabende waren, so gegen 10 Uhr morgens dazustoßen konnte. Er hat da das gesamte Programm durchgespielt. Und da gab es gewöhnlich nur zwischen zwei und acht Ohren im Saal und zwei davon gehörten mir. Und dann die Gespräche und Begegnungen nach der Probe, nach dem Konzert …  Also dadurch, dass ich mitbekommen habe, wie er gearbeitet hat und welche Unterschiede es zwischen Probe und Konzert gab, habe ich unglaublich vieles gelernt. Vieles davon habe ich übernommen.

Tück: Das ist ein Anlass, auf Brendel als Pianisten zu sprechen zu kommen. Wenn man ihn so im Konzertsaal erlebt hat, hat man den Eindruck gehabt, er spielt nicht nur mit den Fingern, er spielt mit der Physiognomie, der Mimik, dem Atem, mit dem ganzen Körper, eine seltene Form von Präsenz – würden Sie den Eindruck teilen?

"Ich habe die Entwicklung eines großen Künstlers miterlebt."

Mishory: Ja, diese Teilnahme und Präsenz habe ich allerdings vor allem in seinem Spiel gehört. Brendel hatte in der Tat eine sehr selten zu findende, sehr starke Mimik beim Spiel. Allerdings war ich als Student immer ganz hinten im Saal und konnte sein Gesicht nicht wirklich sehen. Ich denke, das ist auch nicht so wichtig. Es gibt ja Pianisten, die wie eine Sphinx dasitzen und trotzdem hervorragend und auch sehr mitnehmend spielen. Es ist der musikalische Inhalt, Brendels wirklich sehr ausgeprägte Art der agogischen und dynamischen Behandlung der musikalischen Materialien. Und die emotionale und intellektuelle Energie, die miteinander ziemlich verwoben waren und die vom Podium aus zu dir als Zuhörer strömten, die haben mich sehr inspiriert, oft auf Wochen und immer wieder. Vor allem gab es einige Programme, die er wiederholt gespielt hat. Er hat den kompletten Zyklus von Beethoven und Schubert mehrmals gemacht. Ich kann das jetzt nicht mehr richtig sortieren, was er in seinen Interpretationen jeweils verändert hat, so ein Gedächtnis habe ich nicht. Aber ich habe die Entwicklung eines großen Künstlers miterlebt.

"Er hielt die interpretatorische Vertiefung als Mitteleuropäer für wichtig, er war ja ein ausgesprochener Mitteleuropäer im besten Sinne des Wortes, mit Wurzeln sowohl genetisch als auch intellektuell und musikalisch in den Gegenden, wo diese Musiken entstanden sind."

Tück: Brendel hat vor allem Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert gespielt. Ab und zu auch Liszt oder Schönberg. Aber Chopin, Debussy und Ravel und auch die Russen Rachmaninoff und Skrjabin hat er weithin ausgelassen. Wie sehen Sie diese Beschränkung des Repertoires?

Mishory: Ich würde das nicht überbewerten. Wie eine Sopranistin eine ganze Karriere mit sieben Rollen bestreiten kann, die ganz bestimmte Stilrichtungen befolgen, so kann auch ein Pianist sein Profil mit wenigen Komponisten entwickeln. Er hielt die interpretatorische Vertiefung als Mitteleuropäer für wichtig, er war ja ein ausgesprochener Mitteleuropäer im besten Sinne des Wortes, mit Wurzeln sowohl genetisch als auch intellektuell und musikalisch in den Gegenden, wo diese Musiken entstanden sind. Er atmete diese Luft – und die Luft, das Klima, die Akzente, die Dialekte, die Sprachen, all das führt einen wahrscheinlich zu einer großen Nähe zu einem bestimmten Material. Dieses Repertoire, von dem wir reden, ist übrigens riesig. Und er hat dort Tiefen erreicht und entdeckt, die viele andere nicht erreichen konnten.

Brendel, die "Wiener Pianistenlegende"

Tück: In den Nachrufen der österreichischen Presse wurde Brendel zur "Wiener Pianistenlegende" gemacht. Warum? Weil er im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins 2008 sein letztes Konzert gegeben hat und weil er diese bemerkenswerte Präferenz für die Wiener Klassik und Schubert hatte ...

Mishory: Ich hatte die wirklich sehr berührende Gelegenheit, bei diesem Konzert dabei zu sein. Er hat eben ausgerechnet das sogenannte "Jeunehomme"-Klavierkonzert von Mozart als Abschied gespielt. Er hat ja einen großen Teil seines Lebens in Wien verbracht. Er war sehr mit dem Wiener Musikverein, aber auch dem Konzerthaus verbunden, hat dort hunderte Male gespielt.

"Ich glaube, dass Musik das Erleben von Unendlichkeit oder Erhabenheit, die Ahnung des Geheimnisvollen und Unerklärlichen mit möglich machen und vermitteln kann, vielleicht sogar soll."

Tück: Von Brendel ist das Diktum überliefert: "Musik ist die Religion, die ohne Dogmen auskommt." Er hat sich als bekennenden Agnostiker bezeichnet, dennoch aber das spirituelle Erleben in der Musik hervorgehoben. Haben Sie je mit ihm über Religion gesprochen? Denn gerade, wenn man die Aufnahmen der späten Schubert-Sonaten von ihm hört, dann ist das ja eine Musik, die Transzendenz geradezu zum Flackern bringt. Man kann also kaum sagen, Brendel sei religiös ganz unmusikalisch, dennoch hat er sich als Agnostiker gesehen, wie deuten Sie diese Spannung?

Mishory: Das ist eine interessante, aber schwierige Frage. Nun, ich glaube, dass Musik das Erleben von Unendlichkeit oder Erhabenheit, die Ahnung des Geheimnisvollen und Unerklärlichen mit möglich machen und vermitteln kann, vielleicht sogar soll. Es gibt selten Künstler, die das wirklich gut und authentisch vermitteln können, manche aber doch. Und Brendel gehörte eindeutig dazu. Es ist nicht die Glaubenslosigkeit oder dieser Agnostizismus, auf den es hier ankommt, wichtig scheint mir eher die Wortlosigkeit der Musik, sie ist gerade die Voraussetzung dafür, dass wir uns in einem Bereich bewegen, der nicht zu definieren ist. Und da sehe ich schon eine Nähe zum Nicht-Definieren-Können oder Nicht-Definieren-Sollen von Gott oder gottähnlichen Erscheinungen.

Tück: Trotzdem gibt es in diesem Bereich des Undefinierbaren bei Brendel eine erstaunliche Präzision. Ich erinnere nochmal an die Szene in Jerusalem, da geht er mit Ihnen das Arpeggio des ersten Satzes von Beethovens Sturm-Sonate durch und unterscheidet plötzlich poetische, expressive und dramatische Formen des Arpeggio. Das kann man gar nicht in Worte fassen, aber jedes Mal spielt er ein Beispiel und man bekommt sofort eine präzise Vorstellung von dem, was er meint, und er charakterisiert dann diesen Aufgang bei Beethoven als "mysteriöses" Arpeggio und macht es Ihnen vor. Sehr eindrücklich …

Mishory: Ja, das ist beeindruckend! Allerdings ist das eine künstliche Klassifizierung, die für pädagogische Zwecke spontan erfunden und benutzt wird. Das, was der Zuhörer wirklich wahrnimmt, ohne Worte, ohne erklärende Worte, ist eine sehr, sehr individuelle Sache. Das sage ich auch meinen Studierenden. Für sie muss der emotionale Inhalt, beziehungsweise die Botschaft auch in Worten, zumindest versuchsweise, definierbar sein. Allerdings hat man nie die Garantie, dass Zuhörerin X genau diese Botschaft wahrnimmt, aber die Hauptsache ist doch, dass sie irgendeine Botschaft vernimmt und wahrnimmt und empfängt. Und das ist eben diese Aufnahme von Botschaften, die, sagen wir, im religiösen Bereich liegt, weil ein Glaube an eine Botschaft ist eine schöne Sache, im Prinzip aber ist "die Botschaft" eine Kreation des Adressaten.

Befreiende Kritik

Tück: Sie haben den Menschen, den Lehrer, den Pianisten und auch den Intellektuellen Alfred Brendel kennengelernt. Was ist das, was für Sie persönlich am meisten, am prägendsten in Erinnerung bleibt?

Mishory: Ich hoffe, die Antwort nicht bereuen zu müssen: Aber es ist die Selbstkritik, die er nie ausgeschaltet hat und die auch sehr hart sein konnte. Genauso wie er mit sich umgegangen ist als Kritiker, ging er mit anderen um. Aber das hatte eine Ebene der Ehrlichkeit und Offenheit, die einen wiederum befreien konnte. Ich erinnere mich, ich war mal bei ihm zu Hause, um mich auf einen Wettbewerb vorzubereiten. Er hat mit mir einige Stunden gearbeitet. Und er erwähnte eine Aufnahme, die ich ihm ein paar Wochen davor geschickt hatte mit der Sonate op. 101 von Beethoven. Und er sagte: "Wie Sie da den ersten Satz beginnen mit diesen Rubati und vor allem diese Zäsuren zwischen allen kleinen Phrasen. Einfach schrecklich!" Ich erinnere mich heute an dieses Wort, "schrecklich!", wie an eine Befreiung. Wenn so ein großer Künstler dich als Student so einschätzt, dass er sich erlaubt zu sagen: "schrecklich!", dann kannst du mit ihm wirklich reden. Dieses Gefühl von grundsätzlicher Wertschätzung durch Brendel hat mich in diesem sehr harten Pianistenleben, vor allem in jüngeren Jahren, sehr unterstützt und "getragen". Ich verdanke ihm unheimlich viel.

Tück: Welche Aufnahme von Alfred Brendel würden Sie jemandem empfehlen, der noch nie etwas von ihm gehört hat?

Mishory: Da muss ich ehrlich sagen: Ich höre extrem wenige Aufnahmen. Ich habe Brendel live genossen und erlebt, eigentlich mehr als sonst irgendeinen anderen Pianisten. Das war eine einmalige Bereicherung. Ich würde einfach vorschlagen, obwohl es nicht dasselbe ist, wenn es irgendwelche Liveaufnahmen gibt, mit oder ohne Bild, die würde ich mir anhören.

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