"Weil ich glauben will"Wiederentdeckung eines Romans von Soma Morgenstern

Der jüdische Schriftsteller Soma Morgenstern (1890–1976) ist heute nahezu vergessen. Zu Unrecht. Denn sein monumentaler Roman "Funken im Abgrund" führt tief hinein in das zerrissene Leben der Juden zwischen Tradition und Assimilation.

Porträt von Soma Morgenstern
© Leo Baeck Institute

Durch Zufall stieß ich kürzlich auf den Schriftsteller Soma Morgenstern (1890–1976). Er ist, wie ich fürchte, heute weitgehend vergessen. Doch damals, Ende der 1920er Jahre, war er ein angesehener Journalist und Kritiker. Die berühmte "Frankfurter Zeitung" schickte ihn als Kulturkorrespondenten nach Wien. Er war eng mit Alban Berg befreundet. Natürlich kannte er auch Kollegen wie Joseph Roth oder Stefan Zweig, Walter Benjamin oder Robert Musil.

Etwa 1930 begann Morgenstern sein großes Projekt "Funken im Abgrund", eine Art Heimatroman, wo er sich einerseits an die bukolischen Kindheitsjahre in den fruchtbaren Ebenen der Westukraine erinnert, wo er andererseits die "jüdische Frage" ebenso verzweiflungs- wie hoffnungsvoll diskutiert. Sie besteht in dem ungeklärten Selbstverständnis der Juden, die zwischen Traditionalismus und Assimilation hin- und hergerissen sind, und sie besteht in einem notorischen Antisemitismus, der oft harmlos daherkommt, sich aber jederzeit bis zum Pogrom steigern kann.

Ein jüdischer Junge, hübsch, intelligent, den Alfred von Herzen liebt, wird erschlagen. Und Alfred verliert seinen Glauben. Er kann nicht mehr beten.

"Weil ich beten will und nicht beten kann"

Der Student Alfred, Hauptfigur der Erzählung, erfährt die möglichen Formen jüdischen Lebens am eigenen Leib. Zu Beginn lebt er in Wien und gehört zu der begüterten Schicht assimilierter Juden. Eines Tages begegnet er seinem Onkel, einem strenggläubigen Rabbi, der zudem Großgrundbesitzer in einem kleinen podolischen Dorf ist. Von ihm erfährt er, dass sein im Krieg gefallener Vater sich hat taufen lassen, um die Mutter heiraten zu dürfen. Infolgedessen war er von der traditionell denkenden Gemeinde ausgeschlossen worden, somit auch der Nachkomme Alfred. Der nun interessiert sich immer stärker für seine religiöse Herkunft, zieht mit dem Onkel aufs Land und übt sich mit wachsender Inbrunst ein in die Riten und Bräuche der orthodoxen Juden. Zugleich lernt er die Praxis der Landwirtschaft und wird im Dorf ein gern gesehener Gast. Die Geschichte spielt in der Hauptsache 1929.

Im Dorf aber herrscht keineswegs eitler Friede. Es gibt Animositäten zwischen den Polen und den Ukrainern, zwischen den Juden und den Christen. Einmal steigern sie sich bis zum Mord. Ein jüdischer Junge, hübsch, intelligent, den Alfred von Herzen liebt, wird erschlagen. Und Alfred verliert seinen Glauben. Er kann nicht mehr beten.

"Konnten Sie denn schon beten?", fragt ein Freund. "Ich glaubte schon, beten zu können." – "Und warum glauben Sie es nicht mehr?" – "Weil ich beten will und nicht beten kann." – "Wer von sich behauptet, er könne beten, der weiß sehr wenig vom wahren Beten. Wer sich dessen rühmen kann, der war noch nicht einmal im ersten Vorhof." – "Ich habe mich nicht dessen rühmen wollen. Ich sagte bloß: Ich will beten und kann nicht." – "Warum aber wollen Sie es?" – "Weil – weil ich glauben will." – "Das genügt. Mehr kann niemand von sich sagen als: Ich will glauben."

Sie können sich nur selber helfen

Man erfährt aus dieser bestrickend schön geschriebenen Geschichte eine Menge über diese Region, die abwechselnd unter polnischer, preußischer und österreichischer Herrschaft stand. Die Ostjuden, die dort in großer Zahl lebten, waren keineswegs nur arm. In den Zeiten der k.u.k.-Monarchie genossen sie eine gewisse Freiheit und sogar Wohlstand, bis die russischen Pogrome kamen, bis die Deutschen die bis dato nicht Ausgewanderten massenhaft umbrachten oder in Lager verschleppten.

Gleichgültig, was die Juden tun, ob sie sich assimilieren oder dem Glauben der Väter folgen, es nutzt ihnen nichts. Sie können sich nur selber helfen, indem sie ihr eigenes Land besiedeln.

Es war auch eine Gegend, die schon früh von scharfen religiösen Konflikten geprägt war, Konflikte der Juden untereinander wie auch der Katholiken, die in die "römisch-katholischen" und die "griechisch-katholischen" gespalten waren. Zu diesen geht Alfreds Vater, um sich taufen zu lassen, und erfährt von einem befreundeten Priester, dass der zuständige Propst davon nichts hält. Der Vater fragt nach dem Grund, und der Priester antwortet: "Er ist der Meinung, die Vorsehung habe Israel für die letzten Dinge aufgespart, wir hätten nicht das Recht, uns da einzumischen. Er hat es auch abgelehnt, dir das Sakrament zu spenden."

Soma (ursprünglich Salomon) Morgenstern schrieb an diesem Roman bis 1942, doch erscheinen konnte er erst nach dem Krieg. Nach einer Flucht ohne Ende, wo er mehrmals dem Tod knapp entkam, gelang es Morgenstern, in New York Aufnahme zu finden. Dort ist er 1976 gestorben.

Am Ende des fast tausend Seiten umfassenden Romans tritt Alfred sein Erbe an: ein halb zerfallenes Herrenhaus. Er wird es herrichten lassen und dort eine Ausbildungsstätte für Juden installieren, die nach Palästina auswandern wollen. Das war die Lehre, die Morgenstern aus seinem Schicksal gezogen hat: Gleichgültig, was die Juden tun, ob sie sich assimilieren oder dem Glauben der Väter folgen, es nutzt ihnen nichts. Sie können sich nur selber helfen, indem sie ihr eigenes Land besiedeln.

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