Wie heißt das Zauberwort?Über Musikerlebnisse, die das Unendliche ahnen lassen

Musik ist die Kunst, die dem "Geheimnisvollen" und "Unerklärlichen" am nächsten kommt.

Chorkonzert
© Pixabay

Es war bei irgendeiner redaktionellen Festivität, als mich der Kollege Musikkritiker mit einem Geständnis überraschte: Immer häufiger widerfahre es ihm, dass er während eines Konzerts heftig weinen müsse und seiner Aufgabe, die Darbietung kritisch zu beurteilen, kaum noch gewachsen sei. Er wirkte ernstlich bekümmert. Ich war davon umso mehr überrascht, als ich den Kollegen als einen Mann kannte, der seiner Profession mit einer geradezu mathematischen Akkuratesse oblag und nicht zu Sentimentalitäten neigte.

Ich hatte die Szene vergessen, als mir viele Jahre später etwas Ähnliches passierte. Es war in der Salzburger Universitätskirche, wo ich auf Anregung eines Freundes "Spem in alium" von Thomas Tallis hörte. Das etwa 1570 komponierte Werk ist eine Motette für vierzig Stimmen, aufgeteilt auf acht Chöre, die an acht unterschiedlichen Orten der Barockkirche positioniert waren, einander antworteten, bestimmte Motive aufnahmen, wiederholten und abwandelten.

Ich kannte das Stück nicht. Ich saß auf einer Treppenstufe im Seitenschiff, weil die Kirche überfüllt war. Als die Stimmen das lichte Gewölbe erfüllten – und es klang, als hätten sich die himmlischen Heerscharen zum Lob Gottes vereint –, wurde ich plötzlich derart überwältigt, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Ich wusste nicht, was da mit mir geschah. Ich war dieser unvergleichlichen Schönheit ohnmächtig ausgeliefert.

Mir fiel dieses Erlebnis ein, als ich das Gespräch las, das Jan-Heiner Tück mit dem israelischen Pianisten Gilead Mishory geführt hat. Anlass war der Tod seines Lehrers und Förderers Alfred Brendel. Tück zitiert Brendels Bemerkung: "Musik ist die Religion, die ohne Dogmen auskommt" und fragt, ob der bekennende Agnostiker Brendel nicht doch ein besonderes Verhältnis zur Transzendenz gehabt habe? Mihory antwortet:

"Ich glaube, dass Musik das Erleben von Unendlichkeit oder Erhabenheit, die Ahnung des Geheimnisvollen und Unerklärlichen möglich machen kann, vielleicht sogar soll. Es gibt selten Künstler, die das wirklich gut und authentisch vermitteln können, manche aber doch. Und Brendel gehörte eindeutig dazu. Es ist nicht die Glaubenslosigkeit oder dieser Agnostizismus, auf den es hier ankommt, wichtig scheint mir eher die Wortlosigkeit der Musik, sie ist gerade die Voraussetzung dafür, dass wir uns in einem Bereich bewegen, der nicht zu definieren ist. Und da sehe ich schon eine Nähe zum Nicht-Definieren-Können oder Nicht-Definieren-Sollen von Gott oder gottähnlichen Erscheinungen."

Das ist schön gesagt. Eichendorff allerdings hat es noch schöner gesagt:

"Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort."

Die Frage lautet allerdings: Wie heißt das Zauberwort? Und wer wäre imstande, es zu erraten?

Ahnung der Unendlichkeit

Vermutlich ist es die Musik, die dem "Geheimnisvollen", dem "Unerklärlichen", von dem Mihory spricht, am nächsten kommt. Sicherlich gibt es bedeutende Werke der Bildenden Kunst, die dem "Zauberwort" auf der Spur sind. Von manchen Ikonen wird gesagt, dass sie die Aura des Heiligen verströmen. Und natürlich ist die Schrift, vor allem die Heilige Schrift, wegweisend. Aber Bilder sind interpretierbar, Texte verlangen nach der richtigen Auslegung. Die Musik hingegen behauptet nichts, sie sagt nichts. Sie öffnet einen Raum  für Imaginationen und für Gefühle. Welche das sind, hängt vom Hörer ab, von der Situation und natürlich von der Art der Musik. Sie kann aufpeitschen oder einlullen, sie kann der selbstvergessenen Meditation ebenso dienen wie der enthemmten Revolte.

Darin liegt sicherlich der Grund, weshalb die Kirche bei der Frage, welche Musik für den Gottesdienst die angemessene sei, immer sehr vorsichtig gewesen ist. Einige Konzilien haben sich damit beschäftigt und entsprechende Weisungen beschlossen. Der gregorianische Choral zum Beispiel war und ist ein Meisterwerk religiös gebundener musikalischer Praxis. Sie zu erlernen und auszuüben war für zahllose Ordensleute eine lebenslange Aufgabe und ist es hier und da auch heute noch.

"Und die Welt hebt an zu singen …", verspricht Eichendorff. Was genau passiert da? Das eben lässt sich nicht sagen. Ich weiß nicht, warum mich Thomas Tallis zu Tränen gerührt hat. Und ich weiß auch nicht, warum ich vollkommen erschüttert war, als ich einmal eine Aufführung der Johannes-Passion von Arvo Pärt erlebte. Beide Male geschah es in einer Kirche. Befördert der heilige Raum das ekstatische Erlebnis? Gut möglich.

Tränen sind kein Argument, das ist mir klar. Aber es geht in solchen Augenblicken, da man eine Transzendenz verspürt, sich selbst übersteigt und zugleich verliert, nicht um Argumente, sondern um die Ahnung einer Unendlichkeit, die sicherlich mit Gott zu tun hat.

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