Manchmal folge ich einer Laune, gehe an meinen Regalen entlang und ziehe aufs Geratewohl ein Buch heraus. So kam ich kürzlich an die Stelle, wo die Bücher von Gertrud von Le Fort stehen. Ich hatte den Namen schon ein paar Mal gehört, aber nie etwas von ihr gelesen. Die vier Bände stammten aus dem Besitz meiner Frau. Ich griff mir den schmalsten, die kaum fünfzig Seiten umfassende Erzählung "Das Gericht des Meeres".
Die näheren Umstände der Geschichte werden nur angedeutet. Wir befinden uns in einem der Kriege, die der englische König Johann Ohneland (1166 bis 1216) gegen Frankreich geführt hat. Die Szene spielt auf einem englischen Segelschiff, das nach dem Sieg über die Bretonen nach Hause zurückkehren will, wegen einer totalen Flaute jedoch nicht vom Fleck kommt. Der kleine Junge der englischen Königin, ein Baby noch, leidet derart an einer verzehrenden Schlaflosigkeit, dass man um sein Leben fürchtet. Die Königin hört, dass sich unter den Gefangenen eine junge Bretonin befinde, die ein gewisses Schlaflied so zu singen verstehe, dass selbst Erwachsene nicht mehr aufwachten. Die Erzählung endet damit, dass die Bretonin das Kind in den Schlaf singt und danach selber ins Meer gestoßen wird.
Diese Inhaltsangabe ist insofern irreführend, als es Gertrud von Le Fort nicht auf einen historischen Realismus ankommt. Im Zentrum steht eine naturmagische Vorstellung: Das unermessliche Meer repräsentiert Gott in seiner Allmacht und Allgegenwärtigkeit. Die fromme Bretonin versteht das so, und deshalb erfährt sie den Sturz in die Tiefe als eine Erlösung, als eine Form der Himmelfahrt.
Gertrud von Le Fort war damals berühmt. Ihre Romane wie etwa "Das Schweißtuch der Veronika" (1928) erzielten hohe Auflagen und zählten auch nach dem Krieg noch zur Lektüre gebildeter Christen.
Auf der letzten Seite des Büchleins fand ich den Vermerk "Insel-Verlag Zweigstelle Wiesbaden 145. bis 159. Tausend: 1955". Auch wenn man in Rechnung stellt, dass damals die Auflagen höher waren als heute, so ist das doch eine erstaunliche Menge, zumal bei einem solch mystischen Text. Aber Gertrud von Le Fort, Sprössling eines namhaften hugenottischen Adelsgeschlechts, war damals berühmt. Ihre Romane wie etwa "Das Schweißtuch der Veronika" (1928) erzielten hohe Auflagen und zählten auch nach dem Krieg noch zur Lektüre gebildeter Christen. 1926 konvertierte sie zum Katholizismus.
Bemerkenswert scheint mir, dass katholische Schriftsteller in der Dreißiger- und Vierzigerjahren eine bedeutende Rolle gespielt haben, allen voran Werner Bergengruen, dessen Roman "Der Großtyrann und das Gericht" (1935) eine Auflage von mehr als einer Million erzielte. Der spannende Kriminalfall handelt von einem Renaissance-Fürsten, in dessen unmittelbarer Nähe ein gewisser Fra Agostino ermordet wird. Der Chef der Geheimpolizei namens Nespoli bekommt eine Frist von drei Tagen, den Mörder zu ermitteln, andernfalls sei er des Todes. Nespoli findet den Mörder nicht. Stattdessen entwickelt sich in der kleinen Stadtgemeinde binnen kurzem eine Atmosphäre der Intrigen und der Verdächtigungen. Alte Rechnungen werden aufgemacht, falsches Zeugnis wird gekauft. Am Ende hält der Großtyrann Gericht. Er gibt zu, Fra Agostino wegen Verrats selbst hingerichtet zu haben. Er habe das verschwiegen, um seine Untertanen hinsichtlich ihrer Gesetzestreue und ihres Gehorsams auf die Probe zu stellen. Sie hätten die Prüfung leider nicht bestanden.
Hier nun ergreift der alte Stadtpfarrer das Wort. Zornig wirft er dem Großtyrannen vor, sich an die Stelle Gottes gesetzt zu haben. Dazu habe er nicht das Recht. Die Versammelten sind entsetzt, sie fürchten, nun gehe es dem Pfarrer an den Kragen. Doch der Großtyrann schweigt betroffen, gibt dem Pfarrer schließlich recht und bittet die Stadt um Entschuldigung.
Manche Leser haben das Buch seinerzeit als einen Akt des Widerstands gegen Hitler verstanden – eine allzu freundliche Interpretation, wie mir scheint, verständlich nur als Ausdruck der Hoffnung, es möge die Lage nicht so schlimm sein, wie sie objektiv war.
Schneider, Bergengruen, Langgässer, Andres: Warum sind sie vergessen?
Zu den katholischen Schriftstellern, die damals viel gelesen wurden, gehörten auch Reinhold Schneider, der mit Bergengruen befreundet war, Elisabeth Langgässer und Stefan Andres. Alle diese Autoren sind heute weitgehend vergessen, und wenn ich sie lese, dann sehe ich auch, warum das so ist. Ihre Bücher strahlen eine gewisse Gemächlichkeit aus, eine zutiefst bürgerliche Betulichkeit, und das katholische Weltbild, dem sie verpflichtet sind, wirkt dem damaligen Zeithorizont so eng verhaftet, dass kaum ein Weg in die Gegenwart führt. Zugleich aber sehe ich, dass die genannten Autoren über eine hochkultivierte und nuancenreiche Sprache verfügen, die man in kaum einem Roman der gegenwärtigen Literatur wiederfände.
Der katholische Roman erlebte eine relativ kurze Blütezeit. Dass sie vorüber ist, kann ich nur in Maßen bedauern, zumal gar nicht klar ist, was das eigentlich heißen soll: "katholischer Roman". Martin Mosebach, ein wirklich katholischer Schriftsteller (und außerdem ein sehr guter), hat keine katholischen Romane geschrieben. Was dazu gesagt werden kann, hat er in seinem bewundernswerten Essay "Was ist der katholische Roman?" dargelegt.