Von den Nibelungen bis zu Harry Potter: Die Christianisierung des Abendlandes ist nie vollständig gelungen.

Als ich kürzlich durch die Fernsehprogramme schaltete, stieß ich auf einen Harry-Potter-Film. Ich blieb etwa zehn Minuten dabei, bis die Werbung kam, und erinnerte mich daran, dass Kardinal Joseph Ratzinger, damals Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, die Harry-Potter-Welt kritisiert hatte, indem er sagte, "dies sind subtile Verführungen, die das Christentum in der Seele zersetzen, ehe es überhaupt recht wachsen konnte." Das war 2003, und da bei uns zu Hause gerade das Harry-Potter-Fieber herrschte, fand ich die Bemerkung ziemlich humorlos.

Doch Ratzinger hatte insofern recht, als die Sagenwelt voller Zauberer, Drachen und Riesen, die Joanne K. Rowling abermals mobilisierte, der nordischen Mythologie entstammt. Das Heidentum ist, wenn man genauer hinschaut, nie vollständig verschwunden, trotz allen Bemühungen der christlichen Missionare. Neben den Klöstern wurden Hexen verbrannt, und auf den christlichen Kirchhöfen gingen die Werwölfe um.

Auch die deutsche Literatur war in ihren Anfängen keineswegs nur christlich gesinnt. Ältere Germanisten erinnern sich daran, dass sie im althochdeutschen Seminar die Merseburger Zaubersprüche aus dem 10. Jahrhundert lesen mussten. Heidnisches und Christliches existiert unverbunden nebeneinander.

Mit Wolfram von Eschenbach und Hartmann von Aue kommen explizit christliche Themen in die deutsche Literatur. Hartmanns "Armer Heinrich" (um 1190) erzählt vom Opfermut eines Mädchens, das ihr Leben hingeben will, um den geliebten Ritter vom Aussatz zu heilen. Und der etwas früher entstandene "Gregorius" handelt vom Schicksal des gleichnamigen Papstes, der einer Geschwisterliebe entsprang und unwissentlich seine Mutter heiratet. Wolframs "Parzival" (um 1210) schildert die Suche des Helden nach dem Gral. Ein Höhepunkt des Versromans ist seine Begegnung mit dem Einsiedler Trevrizent, der ihn lehrt, was Christentum bedeutet. Er solle nicht hadern mit Gott, sondern sich dessen Gnade anvertrauen. Das Gespräch der beiden findet nicht zufällig an einem Karfreitag statt.

Im Nibelungenlied ist das Christentum allenfalls der blasse Hintergrund für eine beispiellose Tragödie, die von der Vorstellungswelt der nordischen Mythologie bestimmt ist.

Etwa zur selben Zeit jedoch entstand ein anderes Epos, das Nibelungenlied, dessen Verfasser bis heute unbekannt geblieben ist. Und hier ist das Christentum allenfalls der blasse Hintergrund für eine beispiellose Tragödie, die von der Vorstellungswelt der nordischen Mythologie bestimmt ist.

Der berühmte Streit zwischen den Königinnen Brünhild und Krimhild geht zunächst darum, wer den Vortritt beim Einzug in den Dom zu Worms erhält. Dahinter steht Brünhilds berechtigter Verdacht, dass sie von Siegfried bitterlich betrogen wurde. Der Gottesdienst selber spielt für den Fortgang der Geschichte keine Rolle, und der kaltblütige Mord, den Hagen von Tronje an Siegfried begeht, hat politische Gründe. Von Schuld oder Reue ist keine Rede.

Im zweiten Teil heiratet Krimhild Etzel, den König der Hunnen. Sie lädt ihre Brüder, die burgundischen Könige, zu einem Besuch ein. Die lange Reise von Worms zu Etzels Schloss steht unter keinem guten Stern. Denn Krimhilds Motiv ist keineswegs Geschwisterliebe. Es ist Rache. Und nun beginnt eine bestialische Orgie aus Mord und Totschlag, die erst enden kann, als alle in ihrem Blut liegen. Ehre und Rache – das sind die entscheidenden Motive, die den Exzess vorantreiben. Kein Wunder, dass diese finstere Idee die Tiefpunkte deutscher Geschichte stets begleitet hat.

Man sieht an dieser Gleichzeitigkeit von christlicher Entsagung bei Hartmann und selbstmörderischer Raserei im Nibelungenlied, dass die Christianisierung des Abendlandes nie vollständig gelungen ist. In dem grandiosen Roman "Der Herr der Ringe" von J.R.R. Tolkien hat die christliche Heilsbotschaft insofern keine Chance, als er lange vor unserer Zeitrechnung spielt, im Zeitalter von Mittelerde. Tolkien war ein Kenner nordischer Mythen, teilweise hat er sie übersetzt. Seine Edition des mittelenglischen Epos "Sir Gawain and the Green Knight" (1925) galt also so wegweisend, dass er eine Professur in Oxford erhielt.

Harry Potter ist ein harmloses Vergnügen

Tolkien war Katholik und offenbar imstande, seinen Glauben mit seinen mythologischen Neigungen zu verbinden. Es gehört übrigens zu den vergessenen Tugenden der Katholiken, dass sie heidnische Rituale in den kirchlichen Kalender integrierten. Nicht wenige unserer Festtage gehen auf ältere Praktiken zurück.

Am Ende wird Saurons Reich des Bösen vernichtet. Doch das paradiesische Auenland, die Heimat der tapferen und zugleich spießigen Hobbits, hat seinen Charme verloren, und Frodo verlässt, zusammen mit den Elben, die Welt der Menschen. Es ist eine gottlose und letztlich götterlose Welt, die sich Tolkien hier ausgedacht hat.

Gemessen daran ist "Harry Potter" ein harmloses Vergnügen. Es zeigt, dass uns das Heidentum nie fremd geworden ist, und noch der Erfolg von Halloween macht deutlich: Die Christianisierung ist ein nie endender Prozess.

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