Der 1. August ist ein Schicksalstag im kollektiven Gedächtnis Polens und seiner Hauptstadt. Jedes Jahr ertönen um Punkt 17 Uhr die Sirenen im ganzen Land zum Gedenken an den Beginn des Warschauer Aufstands. Etwa 18.000 Untergrundkämpfer fielen ihm zum Opfer und nochmals etwa 180.000 Zivilisten infolge der deutschen Rachepolitik. Von der völligen Zerstörung der Stadt ganz zu schweigen. Die 200.000 Toten sind mehr als Helden ihrer Zeit. Sie sind das Symbol eines inneren Trotzes gegen Besatzung, Terror, Mord. Wer Polen und seine Hauptstadt mental verstehen will, der muss den 1. August verstehen. Der Respekt vor dem 1. August 1944 ist in dem pathologisch polarisierten Land so groß, dass jegliche parteiliche Vereinnahmung zurecht öffentlich geächtet wird.
Gestern ist auf katholisch.de, dem "Nachrichten- und Erklärportal der katholischen Kirche in Deutschland" ein Kommentar zum Jahrestag des Warschauer Aufstands erschienen. Für die Autorin des Textes – Sprecherin des katholischen Frauenverbandes kfd – ist das Schicksalsereignis einer Nation Inspiration für ihren Kampf gegen "lähmende Strukturen, gegen Angst und Gleichgültigkeit" in der katholischen Kirche. Denn "Glaube sollte nie ruhig und bequem sein" und Jesus sei schließlich auch "aufgestanden" "gegen religiöse Enge, gegen soziale Kälte, gegen Menschenverachtung". Der Warschauer Aufstand erinnere daran, so die Autorin, "dass echter Mut nicht aus Stärke, sondern aus Überzeugung entsteht".
Der Vergleich, der hier gezogen wird, instrumentalisiert das Ereignis, relativiert es – und verhöhnt so die Opfer.
Moment mal, wird hier tatsächlich der deutsche Reformkatholizismus mit dem Warschauer Aufstand verglichen? Eint beide der Mut, der "aus Überzeugung entsteht"? Braucht es den bewaffneten Guerillakampf gegen die Institution Kirche und ihre Amtsträger? Das wäre tatsächlich "mutig". Und abwegig. Die NS-Diktatur betrieb eine rücksichtslose Politik der Gleichschaltung, der Andersdenkende ausgesetzt waren, ohne entkommen zu können. Aus der katholischen Kirche hingegen kann man jederzeit austreten.
Der Mut der Warschauer Aufständischen wurde mit 200.000 Toten bezahlt und hat ein nationales Kollektivtrauma ausgelöst, von dem sich Stadt und Land bis heute nicht erholt haben. Der Gratismut dieses Kommentars bläst derweil zum "inneren Aufstand" in der Kirche "gegen lückenhafte und für viele Betroffene enttäuschende Aufarbeitung von Missbrauch. Gegen das Aushalten ungerechter Machtverhältnisse. Und nicht zuletzt gegen die Abwertung von Frauen und queeren Menschen." So löblich diese Anliegen sind: Der Vergleich, der hier gezogen wird, instrumentalisiert das Ereignis, relativiert es – und verhöhnt so die Opfer.
Widerstandspathos
Dass die Opfer deutscher Kriegs- und Menschheitsverbrechen als moralische Referenzgrößen für das eigene Widerstandspathos herhalten müssen, ist nicht neu. Der geistig verwirrte Flügel der Covid-Zertifikatspolitik-Kritiker sah sich gerne stigmatisiert wie einst die Juden unter der Nazi-Tyrannei. In ihrem Widerstandskampf gegen das Regime der "Altparteien" berief man sich in der AfD schon mal wahlweise auf die Geschwister Scholl, wahlweise auf Anne Frank.
Nun werden die Opfer deutscher Untermenschenideologie in Warschau für die Anliegen einer selbst ernannten kirchlichen Avantgarde eingespannt.
Zuletzt haben Gedenkstättenverantwortliche öffentlichkeitswirksam darauf hingewiesen, dass das Verständnis für die Bedeutung deutscher Verbrechen schwindet. Wenn es dafür noch eines Beweises bedurft hätte, wäre es dieser Kommentar gewesen.
In diesem Jahr wird der 60. Jahrestag des Schreibens des polnischen Episkopats an das deutsche "Wir verzeihen und bitten um Verzeihung" gefeiert. Während die katholischen Intellektuellen Polens über die aktuelle Bedeutung dieses Schreibens nachsinnen, veröffentlicht das publizistische Hausportal der deutschen Bischöfe am Jahrestag des Warschauer Aufstands diesen Text. Auch wenn ein solcher Standpunkt nicht automatisch die Position der Redaktion wiedergibt: Das hätte nicht passieren dürfen. Als Theologe sowie als deutscher und als polnischer Staatsbürger bin ich fassungslos.