Obwohl politische Entscheidungen fast immer das Ergebnis mehr oder weniger komplexer Kompromissbildungen sind, wirft die am 11. Juli gescheiterte Wahl der drei von den Regierungsparteien vorgeschlagenen Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht gewichtige Fragen auf, die weit über einseitige Schuldzuweisungen und parteitaktische Spielereien hinausgehen: Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass die SPD-Fraktion mit Frauke Brosius-Gersdorf eine Kandidatin vorgeschlagen hat, deren hinreichend bekannte Positionen zur Menschenwürde und zum Abtreibungsrecht in klarem Widerspruch zu dem im Koalitionsvertrag formulierten Ziel steht, "Frauen, die ungewollt schwanger werden, in dieser sensiblen Lage umfassend [zu] unterstützen, um das ungeborene Leben bestmöglich zu schützen" (Z. 3254f). Und wieso haben die Verantwortlichen auf Seiten der CDU diesen Personal-Vorschlag nicht von Anfang an zurückgewiesen, sondern erst dann reagiert, als interne Sondierungen innerhalb der Fraktion ergaben, dass die erforderliche parlamentarische Mehrheit gefährdet war?
Lebensschutz – keine politische Petitesse
In dieser Angelegenheit steht nicht nur der Fraktionsvorsitzende Jens Spahn zu Recht in der Kritik, der viel früher hätte intervenieren müssen, um Schaden von der betroffenen Kandidatin durch die öffentliche Diskussion abzuwenden. Auch Friedrich Merz muss sich fragen lassen, ob seine lakonische Antwort auf die in der Parlamentsdebatte gestellte Frage der AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch, ob er diesen Personalvorschlag vor seinem Gewissen mit den Positionen seiner Partei zum Thema Lebensschutz vereinbaren könne, politisch klug und in der Sache gerechtfertigt war. Für jemanden, der wie Merz vor seiner Wahl zum Bundeskanzler zu Recht immer wieder einen dringend erforderlichen Politikwechsel angemahnt hatte und genau dafür auch von vielen wertkonservativen Bürgerinnen und Bürgern gewählt worden ist, stellt die mangelnde Sensibilität für die politische Brisanz dieses Vorgangs ein verstörendes Signal dar.
Fragen des Lebensschutzes sind keine politischen Petitessen, die sich je nach Opportunität mal so und mal anders entscheiden lassen. Sie berühren den Kern unserer Werteordnung mit dramatischen Konsequenzen für viele unterschiedliche Problembereiche.
Die Frage, wer in den Schutzbereich der grundgesetzlich garantierten Menschenwürde fällt, ist weit über das notorisch kontroverse Thema des Umgangs mit Schwangerschaftsabbrüchen hinaus von fundamentaler Bedeutung nicht nur für unseren Rechtsstaat und die Grundregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern auch für das Selbst- und Wertverständnis von CDU und CSU. Fragen des Lebensschutzes sind keine politischen Petitessen, die sich je nach Opportunität mal so und mal anders entscheiden lassen. Sie berühren den Kern unserer Werteordnung mit dramatischen Konsequenzen für viele unterschiedliche Problembereiche. Wer im Blick auf das ungeborene Leben meint, das Lebensrecht auf der Grundlage eines philosophisch hochgradig umstrittenen Gradualismus in einer Weise relativieren zu können, die in der Praxis keinerlei relevanten Schutz mehr bietet, der setzt sich nicht nur gravierenden ethischen Bedenken aus, er muss auch erklären, wie der darin ausgedrückte verfassungsrechtliche Revisionismus mit der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu vereinbaren ist.
Grundlegende Bedeutungsverschiebungen
Während bislang aufgrund der leib-seelischen Einheit des Menschen auch in verfassungsrechtlicher Perspektive stets davon ausgegangen wurde, dass jedem individuellen menschlichen Leben aufgrund seiner intrinsischen Werthaftigkeit eine persistierende, nicht graduierbare, kategorische Achtung gebietende Würde zukommt, führt der gradualistische Theorieansatz nicht nur zu einer problematischen Entkopplung von Menschsein und der Trägerschaft von Menschenwürde, so dass beide Begriffe nicht länger dieselbe Extension aufweisen – es also Menschen geben kann, die nicht mehr als Träger von Menschenwürde anerkannt werden. Der Umstand, dass die Würde i.S. einer philosophisch hochgradig umstrittenen Leistungstheorie an den erfolgreichen Abschluss eines bestimmten biologischen Entwicklungsstandes und bestimmter Fähigkeiten (extrauterine Lebensfähigkeit bzw. Geburt) gebunden wird, dürfte mittel- und langfristig auch weitreichende Folgen für viele andere Lebensbereiche (etwa den Umgang mit behinderten oder dementen Personen) haben. Solche grundlegenden Bedeutungsverschiebungen im Verständnis unserer basalen normativen Orientierungsbegriffe dürften kaum anschlussfähig sein an die zwar nicht statische, aber doch selten disruptive Judikatur des Bundesverfassungsgerichts.
So bedauerlich es ist, dass die Verantwortlichen beider Regierungsparteien nicht frühzeitig darauf hingewirkt haben, gemeinsam eine tatsächlich konsensfähige Kandidaten-Liste zu erarbeiten, so sehr ist es doch zu begrüßen, dass immerhin eine ausreichend starke Gruppe von CDU/CSU-Abgeordneten buchstäblich auf den letzten Metern ihre Stimme erhoben hat, um ihren berechtigten Unmut über den Vorschlag zu artikulieren.
Die Vorgänge der vergangenen Tage um die Richterwahl ins höchste deutsche Gericht sind jenseits einer durchsichtigen parteipolitischen Empörungsrhetorik differenziert zu beurteilen. So bedauerlich es ist, dass die Verantwortlichen beider Regierungsparteien nicht frühzeitig darauf hingewirkt haben, gemeinsam eine tatsächlich konsensfähige Kandidaten-Liste zu erarbeiten, so sehr ist es doch zu begrüßen, dass immerhin eine ausreichend starke Gruppe von CDU/CSU-Abgeordneten buchstäblich auf den letzten Metern ihre Stimme erhoben hat, um ihren berechtigten Unmut über den Vorschlag zu artikulieren.
Man sollte diesen einmaligen Vorgang vor allem deswegen als Chance begreifen, noch einmal gründlich über ein tatsächlich geeignetes Personal-Tableau nachzudenken, weil hier letztlich die über den Einzelvorgang hinausreichende politische Glaubwürdigkeit maßgeblicher Akteure auf dem Prüfstand steht: Das gilt nicht nur für den Bundeskanzler und die von ihm versprochene Politikwende, die nicht nur eine außen- und sicherheitspolitische Dimension hat, sondern auch grundlegende Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik betrifft. Das gilt auch für die Verantwortlichen innerhalb der SPD, deren historisch schlechtes Wahlergebnis bei weiter sinkenden Zustimmungswerten nur dadurch aufzuarbeiten ist, dass sie sich konstruktiv an der Lösung der vielfältigen realen Probleme in diesem Land beteiligen, statt sich in der Verkennung ihrer prekären Lage bei jeder Gelegenheit einer politischen Erpressungsstrategie zu bedienen.
Beide Regierungsparteien im selben Boot
Im Grunde sitzen beide Regierungsparteien hier im selben Boot: Beide Seiten haben in der sensiblen Angelegenheit der Richterwahl Fehler gemacht, indem sie im Vorfeld die Bedenken der Gegenseite nicht angemessen berücksichtigt haben. Sie müssen jetzt zeigen, dass sie möglichst geräuschlos ihre Hausarbeiten machen können, ohne noch mehr Porzellan zu zerschlagen. Sie sollten dies möglichst bald in dem Bewusstsein tun, dass es gerade für die Vertrauenswürdigkeit auch Kipp-Punkte gibt, die man nicht überschreiten sollte. Das gilt sowohl für das Vertrauen des jeweils anderen Regierungspartners als auch für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ein gemeinsames Regierungsprojekt, dessen größte Herausforderungen noch unbewältigt sind und dringend ein gemeinsames Handeln erfordern.