Herbst der Reformen?Warum wir uns Unehrlichkeit in der Sozialstaatsdebatte nicht leisten können

Die deutsche Bundesregierung will den Sozialstaat reformieren. Eine gewaltige Aufgabe. Dabei muss eines klar sein: Wer auf lange Frist leidvolle Einschnitte in Kauf nimmt, um auf kurze Frist unbequeme Veränderungen zu vermeiden, der handelt weder sozial noch verantwortungsvoll.

Bundeskanzleramt
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Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) kündigte einen Herbst der Reformen an. Nach dem Herbst der Entscheidungen der letzten Bundesregierung mit bekanntem Ende eine durchaus mutige Ansage. Im Fokus der Debatte steht die Frage nach der Tragfähigkeit der Sozialsysteme. Der Kanzler sieht den Status quo als nicht finanzierbar, Sozialministerin Baas von der SPD widerspricht heftig. Ob es beim Profilierungsgehabe der Regierungsparteien bleibt oder zu echten Reformen kommt, das wird sich zeigen. Die gute Nachricht: Nach Jahrzehnten demonstrativen Ignorierens durch die Politik bietet sich nun die Möglichkeit, eine ehrliche, bisweilen schmerzliche und vor allem überfällige Debatte zu führen.

Eines vorab: Die Sozialstaatsdebatte ist sensibel, sie betrifft jeden Einzelnen und sie steht mehr denn je in diversen systemischen Zielkonflikten. Diese Debatte zu einem Gegenstand des Kulturkampfes oder eines dumpfen Populismus zu machen, muss sich verbieten.

Schluss mit dem Sozialpopulismus!

Wenn es einen Minimalkonsens über die Ausgestaltung des Sozialstaates gibt, dann, dass er eine gesamtgesellschaftliche Stabilisierungsfunktion hat und haben soll. Bärbel Baas und die politische Linke warnen zu Recht davor, den Sozialstaatsgedanken zu torpedieren. Destruktive Angriffe torpedieren den Sozialstaatsgedanken aber nicht mehr und nicht weniger, als die Wiederholung eines unkritischen Sozialpopulismus. Der Sozialpopulismus wirkt freundlich und anerkennend. In seinem Namen wurde im Frühjahr dieses Jahres für ein "Sondervermögen Soziales" plädiert. Soziale Forderungskataloge, die sich für die systemischen Zielkonflikte nicht interessieren – sie zersetzen den Sozialstaat zwar nicht rhetorisch, aber volkswirtschaftlich.

Doch von welchem Zielkonflikt ist eigentlich die Rede?

Soziale Sicherungssysteme gehören vielleicht zu den großen zivilisatorischen Gemeinschaftsleistungen kontinentaleuropäischer Gesellschaften. Ihr fundamentales Versprechen lautet, dass Menschen in Phasen existenzieller Vulnerabilität (Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit) zumindest auf materieller Ebene grundversorgt sind. Zwischenzeitlich wurden diese Systeme, getragen von den gigantischen wirtschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegsdekaden, ausgebaut.

Paradigmatisch zeigt sich diese Philosophie in der Rentenpolitik. Renten garantierten nicht nur das Überleben am körperlich fragilen Lebensende (sofern man das Eintrittsalter überhaupt erreichte), sondern eine immer längere Phase dessen, was gemeinhin "verdienter Ruhestand" genannt wird. Zum Glück leben Menschen heute länger und gesünder.

In den 2010er Jahren wurde das Sicherungssystem zu einem Anerkennungssystem ausgebaut. Abschlagsfreie "Lebensleistungs-" oder "Mütterrente" sind dessen Ergebnis.

Im Jahr 2007 gelangte man zum Kompromiss der Rente mit 67, um die Rentenfinanzierung langfristig zu stabilisieren. Sieben Jahre später wurde dieser Schritt durch die Möglichkeit der Rente mit 63 zwecks Zielgruppenbefriedigung wieder relativiert.

Selbsttragend ist das Rentenversicherungssystem spätestens seit der Wende nicht mehr. Die Gesamtzuschüsse des Staates zur Stabilisierung des Rentenversicherungssystems belaufen sich für 2025 auf über 134 Milliarden Euro (1992 waren es noch knapp 30 Milliarden).

Die Pensionierung der geburtenstärksten Jahrgänge steht uns in ihrer vollen Dramatik noch unmittelbar bevor. Hinzu kommt die demografische Entwicklung, die volkswirtschaftliche Stagnation und die Migrationsbilanz.

Unter den beruflich Ambitionierten und entsprechend Verdienenden dieser Generation sitzt die Frustration tief.

Jährlich verlassen über 200.000 deutsche Staatsbürger zwischen 20 und 40 ihr Land, drei von vier mit Hochschulabschluss. Damit gehen nicht nur die entscheidenden Beitragszahler, sondern auch die Innovationstreiber für volkswirtschaftliches (und damit immer auch soziales) Wachstum. Unter den beruflich Ambitionierten und entsprechend Verdienenden dieser Generation sitzt die Frustration tief. Auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis sprechen viele über die Möglichkeit, auszuwandern.

Mir selbst wurde in einem Bewerbungsverfahren eine Teilzeitstelle nahegelegt, da sich der Leistungsmehraufwand aufgrund der Abgabenlast bei entsprechendem Gehaltsniveau nicht lohnen würde. Mikroökonomisch war dieser Ratschlag vollkommen richtig, die systemische Botschaft allerdings ist verheerend: Die dringend notwendige Mehrleistung lohnt sich nur für den Staat, nicht für den Leistungsträger.

Die zahlreichen pathetischen Ausreden dafür, die Lebenslügen im Transfersystem nicht auszusprechen, nicht angehen und nicht lösen zu müssen, haben das tiefe Misstrauen in die Systeme erst möglich gemacht.

Es wird viel gemahnt, man dürfe Alt und Jung, Empfänger und Erwirtschaftende von Transferleistungen nicht gegeneinander ausspielen. Man spielt diese Gruppen aber nicht dadurch aus, dass man den offensichtlichen systemischen Zielkonflikt ausspricht. Die zahlreichen pathetischen Ausreden dafür, die Lebenslügen im Transfersystem nicht auszusprechen, nicht angehen und nicht lösen zu müssen, haben das tiefe Misstrauen in die Systeme erst möglich gemacht.

Die jetzigen und baldigen Profiteure des Status quo können sich ihrer Sache nicht ganz sicher sein und jüngere Generationen, sofern sie rudimentär mathematisch begabt sind, rechnen weder mit einer gesetzlichen Altersvorsorge für sich selbst, noch träumen sie von einem Ruhestand in den Sechzigerjahren ihrer eigenen Biografie. Von der finanziellen Implosion der Gesundheitskosten reden wir dabei noch nicht einmal.

Diese Generationen wissen auch, dass ihr die Privilegien der eigenen vier Wände und eines sukzessiven Vermögensaufbaus nicht in gleichem Maße zugänglich sein werden, wie ihrer Elterngeneration (Erbschaftsprofiteure ausgeschlossen).

Der jüngeren Generation werden sämtliche Hypotheken überschrieben

Diese Generation ist es aber, der sämtliche Hypotheken überschrieben werden: die Kosten für die Unehrlichkeit der Sozialsysteme, die Kosten der ökologischen Krise, die Kosten für eine Haushaltspolitik, die so tut, als gäbe es kein Morgen. Nebenbei bemerkt zerfällt die politische Ordnung Frankreichs gerade genau an diesen Phänomenen. Keinem zentrierten und um gesellschaftlichen Zusammenhalt ehrlich besorgten Menschen kann die französische Dauerkrise ein Vorbild sein.

Das Subsidiaritätsprinzip verlangt den Primat der Eigenverantwortung und den entsprechenden Handlungsspielraum hierfür. Die Aufgabe des solidarischen Sozialstaates ist es folglich, subsidiär zu stützen. Ist uns dieser Gedanke überhaupt noch zugänglich?

Die katholische Soziallehre betont nicht nur das hohe Gut der Solidarität, sondern auch das der Subsidiarität. Wenn der Eindruck nicht täuscht, ist der Subsidiaritätsbegriff sowohl im politischen wie im sozialethischen Diskus in den Hintergrund getreten. Das Subsidiaritätsprinzip verlangt den Primat der Eigenverantwortung und den entsprechenden Handlungsspielraum hierfür. Die Aufgabe des solidarischen Sozialstaates ist es folglich, subsidiär zu stützen. Ist uns dieser Gedanke überhaupt noch zugänglich? Verselbstständigt sich das System nicht mittlerweile so sehr, dass es längst jenen Etatismus geschaffen hat, den die Väter der katholischen Soziallehre vermeiden wollten?

Vielleicht täten sowohl Gewerkschaften, selbsternannte Arbeiterparteien und auch die kirchlichen Akteure gut daran, konstruktiv und innovativ zu überlegen, wie das Erwerbsleben aussehen kann, damit eine längere Lebensarbeitsleistung gesund und würdig möglich ist, anstatt diese Option kategorisch auszuschließen.

Wie sich die systeminhärenten Spannungen auslösen lassen können, das kann ein einzelner nicht beantworten. Klar ist: Wer auf lange Frist leidvolle Einschnitte in Kauf nimmt, um auf kurze Frist unbequeme Veränderungen zu vermeiden, der handelt weder sozial noch verantwortungsvoll.

Wie auch immer eine echte, gerechte und von Lebenslügen befreite Reform des Sozialstaates aussehen mag, eines muss klar sein: Es darf nicht darum gehen, sozialen Zusammenhalt und Stabilität zu hinterfragen. Ganz im Gegenteil, die Absicht muss darin liegen, diese hohen Güter unter gänzlich veränderten Umständen zu erhalten und zu stabilisieren.

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