Der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf hat gestern in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" den kühnen Versuch unternommen, nicht nur "das Naturrecht" pauschal für obsolet zu erklären, sondern auch all denjenigen "moralische Überheblichkeit" vorzuwerfen, die – wie die Bundestagsabgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker – ihre Kritik an der Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Bundesverfassungsrichterin mit naturrechtlichen Bedenken gegenüber ihren alles andere als gemäßigten Positionen zur Abtreibungsfrage begründen.
Graf bietet alles auf, was Rang und Namen hat, um selbst konservative katholische Bedenkenträger von der Überlegenheit einer im Grunde relativistischen Position zu überzeugen, die unter dem Label einer politisch flexiblen "Verantwortungsethik" seit je ihr Heimatrecht im (Kultur-)Protestantismus hatte.
In rhetorisch gekonnter Manier bietet Graf zunächst alles auf, was Rang und Namen hat, um die Ideologieanfälligkeit eines Rückgriffs auf die Natur in moralischen Fragen zu demonstrieren. Wenn selbst Joseph Ratzinger 2004 im Akademiegespräch mit Jürgen Habermas zugegeben hat, dass das Instrument des Naturrechts "leider stumpf geworden ist", dann scheint es ein Leichtes zu sein – so das Kalkül des protestantischen Theologen –, selbst konservative katholische Bedenkenträger von der Überlegenheit einer im Grunde relativistischen Position zu überzeugen, die unter dem Label einer politisch flexiblen "Verantwortungsethik" seit je ihr Heimatrecht im (Kultur-)Protestantismus hatte.
Selbstverständlich hat Graf recht damit, dass "Naturrecht" ein mehrdeutiger und missbrauchsanfälliger Begriff ist, der in seiner langen Geschichte immer wieder zur Rechtfertigung fragwürdiger Normen verwendet wurde. Das logische Problem eines "naturalistischen Fehlschlusses" ist dabei nicht einmal das gravierendste. Mindestens ebenso bedeutsam sind die von Graf gar nicht thematisierte Ungeschichtlichkeit und Starre mancher Naturrechtstheorien, die latente Gefahr zirkulärer Gedankenführungen oder die Stilisierung zeitbedingter kultureller Plausibilitäten zu vermeintlichen Wesenseigenschaften des Menschen.
Naturrecht jenseits der Polemik
Doch können all diese klassischen Einwände gegen bestimmte – oftmals epigonal übersteigerte – Spielarten des Naturrechts nicht erklären, warum sich die naturrechtliche Denkform wie ein roter Faden durch die zweieinhalbtausendjährige Geschichte der abendländischen Moral- und Rechtsphilosophie zieht. Auch tragen sie nichts dazu bei, den systematischen Kern dieses Argumentationstyps vorurteilsfrei in den Blick zu bekommen.
Tatsächlich zeichnet sich eine naturrechtliche Position im Kern durch wenigstens die folgenden drei Merkmale aus:
- erstens durch ihren kognitiven Grundansatz – also die Annahme, dass die Forderungen des Naturrechts grundlegenden Einsichten der praktischen Vernunft des Menschen entsprechen und damit prinzipiell allen Menschen guten Willens zugänglich sind;
- zweitens durch ihren spezifisch gerechtigkeitsethischen Gegenstandsbereich, demzufolge die einzelnen naturrechtlichen Ge- und Verbote genau jene elementaren Güter unter den Schutz des moralischen Gesetzes stellen, die die unverzichtbaren Voraussetzungen eines vernünftigen menschlichen Selbstvollzuges darstellen;
- und drittens durch ihre personal-antinaturalistische Stoßrichtung, die darauf besteht, dass nicht eine wie auch immer geartete biologische Faktizität als solche, sondern vielmehr die Perspektive der umfassenden Vollendung des Menschen im Sinne seines "äußersten Seinkönnens" zum Referenzpunkt der Normenbegründung gemacht wird.
Ein kursorischer Blick in die zeitgenössische Moralphilosophie zeigt: Diese systematischen Anliegen sind allesamt von höchster Aktualität – auch wenn der historisch schillernde Begriff des "Naturrechts" in den aktuellen Debatten oft gemieden wird, um falsche Assoziationen gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Einige Beispiele mögen dies illustrieren: So hat sich in der Metaethik eine verzweigte Debatte um die Begründung eines sogenannten moralischen Realismus entwickelt, deren Ziel darin besteht, die Objektivität moralischer Urteile gegen relativistische Fehlinterpretationen zu verteidigen. In der politischen Philosophie wird verstärkt über die Voraussetzungen und Grenzen eines öffentlichen Vernunftgebrauchs (public reason) nachgedacht, um in religiös-weltanschaulich pluralen Gesellschaften jenen Kernbereich rationaler Verständigung zu bestimmen, ohne den ein geordnetes Zusammenleben kaum möglich sein dürfte. Auch die Debatte um den Bestand tatsächlich universal gültiger Menschenrechte gehört hierher. Schließlich stehen auch die neo-aristotelisch inspirierten Modelle eines sogenannten Befähigungsansatzes (capability approach) insofern in der Tradition naturrechtlichen Denkens, als hier auf der Basis eines betont schwachen Essentialismus versucht wird, die anthropologische Schwindsüchtigkeit vieler postkantischer Moraltheorien zu überwinden.
Von all dem erfährt man bei Graf nichts, da es zwangsläufig in systematische Tiefenregionen der Theoriebildung führt, die seiner oberflächlichen Polemik rasch den Wind aus den Segeln nehmen würde.
Der Autonomie-Begriff ist mindestens ebenso komplex, vielschichtig, interpretationsbedürftig und missbrauchsanfällig wie die Kategorie der "Natur".
Graf macht es sich auch damit zu einfach, mit einer simplen Gegenüberstellung zwischen einem vermeintlich obsoleten Naturrechtsdenken einerseits und einem zeitgemäßen Autonomiediskurs andererseits zu operieren, die wichtige Parallelen zwischen beiden Strömungen verdeckt.
Der Autonomie-Begriff ist mindestens ebenso komplex, vielschichtig, interpretationsbedürftig und missbrauchsanfällig wie die Kategorie der "Natur". Kants eigenes vernunftgebundenes Autonomieverständnis steht heute zunehmend unter dem Druck eines entgrenzten Selbstbestimmungsdenkens, über dessen normativen Konsequenzen sich Kant wohl nur gewundert hätte.
Kant und die "reproduktive Selbstbestimmung"
In klarer Frontstellung zu keineswegs neuen Versuchen, sich im Geiste falsch verstandener Liberalität und "reproduktiver Selbstbestimmung" ein Verfügungsrecht über das ungeborene Leben anzumaßen, hatte der Großaufklärer Kant in bester naturrechtlicher Tradition den untrennbaren Zusammenhang zwischen der Zeugung neuen Lebens und der daraus resultierenden elterlichen Verantwortung verteidigt. Im berühmten §28 seiner "Metaphysik der Sitten" stellt er kategorisch fest:
"Denn da das Erzeugte eine Person ist, … so ist es eine in praktischer Hinsicht richtige und notwendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herübergebracht haben; für welche Tat auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen. – Sie können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein) und als ihr Eigentum zerstören oder auch nur dem Zufall überlassen, weil an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern auch ein Weltbürger herüber (ge)zogen, der ihnen nun auch nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann."
Die "autonome Moral" sah sich nicht als Alternative zum Naturrechtsdenken
Auch die von Graf zitierte Phalanx der katholischen Moraltheologen von Alfons Auer über Franz Böckle bis zu Wilhelm Korff, die sich unter dem Eindruck der naturalistisch fehlgeleiteten Normenbildung in der päpstlichen Enzyklika Humanae vitae dem Projekt einer "autonomen Moral" verschrieben haben, verteidigte nicht nur die Rationalität der Normenbegründung gegenüber lehramtlichen Übergriffen. Die genannten Theologen wollten der verfügbaren empirischen Evidenz human- und sozialwissenschaftlicher Befunde ebenso gerecht werden wie der – keineswegs relativistisch zu deutenden – Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit menschlicher Vernunftoperationen. Das moraltheologische Theoriedesign, das sie entwickelten, verstanden sie gerade als einen Beitrag zur Fortschreibung der naturrechtlichen Tradition, zu deren Erforschung sie übrigens selbst wertvolle Beiträge geleistet haben.
Statt wohlfeiler Abgesänge auf ein – zumal konfessionalistisch verengtes – Naturrecht, wäre es wohl eher erforderlich, die Chancen und Grenzen naturrechtlichen Denkens fair zu bilanzieren.
Und auch die Rede von Benedikt XVI. im Deutschen Bundestag, die in der Forderung der Entwicklung einer "umfassenden Humanökologie" gipfelte, steht unverkennbar in dieser Traditionslinie.
Statt wohlfeiler Abgesänge auf ein – zumal konfessionalistisch verengtes – Naturrecht, wäre es wohl eher erforderlich, die Chancen und Grenzen naturrechtlichen Denkens fair zu bilanzieren und sich auf der Höhe des zeitgenössischen metaethischen Diskurses differenziert mit den ontologischen und epistemologischen Implikationen dieses zentralen Theorietyps auseinanderzusetzen.
Kritische Abgeordnete als Problem?
Die argumentative Schwäche der Graf'schen Ausführungen wird auch da besonders deutlich, wo es um die politische Problematik der vorerst gescheiterten Richterwahl geht. Statt auch nur den Versuch zu unternehmen, sich inhaltlich mit den berechtigten Vorbehalten gegenüber den einschlägigen Positionen der Kandidatin Brosius-Gersdorf zur Menschenwürde im Allgemeinen und der ihres Erachtens erforderlichen Revision des deutschen Abtreibungsrechts im Besonderen auseinanderzusetzen, zieht er sich auf rein prozedurale Erwägungen zurück, die zu allem Überfluss auch noch dramatisch verkürzt werden.
Das Thema der Menschenwürde und des Lebensschutzes ist aus ethischer und verfassungsrechtlicher Perspektive zu wichtig, um es in relativistischen Gedankenspielen und parteitaktischen Manövern zu verschleißen.
Hätten die Fraktionen das übliche Verfahren in der gebotenen Sorgfalt durchgeführt, hätte die Führung der Unionsfraktion schon gleich zu Beginn ihre in der Sache berechtigten Bedenken gegen den Kandidatenvorschlag der SPD zur Geltung bringen müssen und durch den damit rechtzeitig möglich gewordenen Austausch der Kandidatin eine weitere öffentliche Polarisierung in der Debatte vermeiden können. Denn das Thema der Menschenwürde und des Lebensschutzes ist aus ethischer und verfassungsrechtlicher Perspektive zu wichtig, um es in relativistischen Gedankenspielen und parteitaktischen Manövern zu verschleißen.
Friedrich Graf fordert zu Recht "Demut angesichts der Eigenlogik der Wissenschaft" – sie sollte auch für jene Theologen gelten, die meinen, kritisch reflektierenden Bundestagsabgeordneten "moralische Überheblichkeit" vorwerfen zu dürfen, weil sie den eigenen konfessionellen Voreingenommenheiten widersprechen.