Subjekte statt Objekte"Dilexi te" und die Option für die Armen

Papst Leo XIV. vollendet ein angefangenes Schreiben seines Vorgängers und signalisiert: Die Kirche erneuert ihre Option für die Armen.

Leo XIV.
© Lola Gomez/CNS photo/KNA

Wenn ein neugewählter Papst sein erstes Apostolisches Schreiben vorlegt, dann sind die Erwartungen groß. Man vermutet so etwas wie eine persönliche Programmschrift für das neue Pontifikat, die das unverwechselbare Profil des neuen Kirchenoberhauptes prägnant zum Ausdruck bringt. Dass die Dinge in diesem Fall etwas anders gelagert sind, wird gleich zu Beginn deutlich, indem Leo darauf hinweist, dass sein Vorgänger Franziskus in Fortsetzung der Enzyklika Dilexit nos in den letzten Monaten seines Lebens ein Apostolisches Schreiben über die Sorge der Kirche für die Armen und mit den Armen vorbereitete, das den Titel Dilexi te tragen sollte und das er nun "gewissermaßen als Erbe" erhalten hat. Er freue sich daher, sich dieses offenbar noch unvollendete Projekt "unter Hinzufügung einiger Überlegungen – zu eigen zu machen und es noch in der Anfangsphase meines Pontifikats vorzulegen" (3). Diese noble Geste passt gut zum Inhalt des Textes, der in fünf Kapiteln das Thema der Armut meditiert.

Es gibt nicht nur materielle Armut

Im ersten Kapitel werden einige "wesentliche Punkte" in Erinnerung gerufen. Besondere Beachtung verdient die Überzeugung, "dass die vorrangige Option für die Armen eine außerordentliche Erneuerung sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft bewirkt, wenn wir dazu fähig sind, uns von ihrer Selbstbezogenheit zu befreien und auf ihren Schrei zu hören" (7). Vor allem der sich immer weiter ausbreitenden egozentrischen Kultur in den westlichen Gesellschaften hält der Text damit gleich zu Beginn einen kritischen Spiegel vor. Tatsächlich gehe es darum, der vielen Formen der Armut ansichtig zu werden. Neben dem offensichtlichen Mangel an materiellen Ressourcen gebe es auch eine soziale, eine kulturelle, eine geistliche und eine moralische Armut, die differenziert zu betrachten seien. Entsprechend variabel seien auch die Betroffenen, wobei Frauen oft besonders unter der Armut zu leiden hätten. Aufgrund der Komplexität der Ursachen von Armut kritisiert der Text eine "falsche […] Vorstellung der Meritokratie, nach der scheinbar nur diejenigen Verdienste haben, die im Leben erfolgreich gewesen sind" (14).

Das zweite Kapitel liefert eine bibeltheologische Betrachtung über die besondere Beziehung Gottes zu den Armen, wobei vor allem an Jesus als den "armen Messias" und an die Bedeutung der Barmherzigkeit gegenüber den Armen in der Heiligen Schrift erinnert wird.

Im relativ langen dritten Kapitel werden die ekklesiologischen Implikationen der Thematik entfaltet. Seit den ersten Jahrhunderten in der Theologie und Praxis der Kirchenväter über die Bettelorden bis hin zu den verschiedenen Volksbewegungen der Neuzeit ziehe sich der kirchliche Einsatz für die Armen wie ein roter Faden durch die gesamte Kirchengeschichte. Auch wenn die Auswahl der jeweiligen Einzelpersönlichkeiten und Initiativen bisweilen etwas eklektisch wirkt, kommt den historischen Beispielen doch insofern eine wichtige Funktion zu, als sie die Kontinuität des kirchlichen Engagements für die Armen betonen sollen. Dass dies freilich nur die eine Seite der Wahrheit ist, bedarf angesichts der vielfältigen kirchlichen Verstrickung in politische und wirtschaftliche Machtsysteme wohl keiner weiteren Betonung.

Das vierte Kapitel versucht die Armutsproblematik noch einmal vor dem Hintergrund der Soziallehre der Kirche zu beleuchten, die ihren Ausgangspunkt bekanntlich im Massenpauperismus der beginnenden Industrialisierung des 19. Jahrhunderts genommen hat. Vor allem in dem Abschnitt "Strukturen der Sünde, die Armut und extreme Ungleichheit verursachen" hat man den Eindruck, die Stimme von Franziskus besonders deutlich herauszuhören. Etwa wenn die Notwendigkeit betont wird, weiterhin die "Diktatur einer Wirtschaft, die tötet" anzuprangern und anzuerkennen, dass "während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, […] die der Mehrheit immer weiter entfernt [sind] vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit" (92).

Man hätte sich hier eine differenziertere Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen marktwirtschaftlicher Mechanismen gewünscht, die der Versuchung widersteht, die "absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation" (ebd.) pauschal zu verdammen.

Gerade angesichts der Tatsache, dass die katholische Soziallehre spätestens in der Enzyklika Centesimus annus Johannes Pauls II. zu einer prinzipiellen Anerkennung einer auf Unternehmertun gegründeten sozialen Marktwirtschaft gefunden hatte, hätte man sich hier eine differenziertere Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen marktwirtschaftlicher Mechanismen gewünscht, die der Versuchung widersteht, die "absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation" (ebd.) pauschal zu verdammen.

Die Armen nicht als "Objekte der Wohltätigkeit" betrachten

Viel zukunftsweisender wirken dagegen die Ausführungen zum Subjekt-Status der Armen. In Anlehnung an die Dokumente der lateinamerikanischen Bischofsversammlungen von Puebla, Medellín und Aparecida wird nicht nur daran erinnert, dass "die vorrangige Option der Kirche für die Armen ‚im christologischen Glauben an jenen Gott implizit enthalten [sei], der für uns arm geworden ist, um uns durch seine Armut reich zu machen‘" (99). Es wird auch eindringlich dazu aufgerufen, vor allem die verschiedenen "Randgruppen als Subjekte zu betrachten, die in der Lage sind, eine eigene Kultur zu schaffen, statt sie als Objekte der Wohltätigkeit zu betrachten" (100).

Im abschließenden fünften Kapitel weist Leo noch einmal darauf hin, dass er an die "zweitausendjährige Geschichte kirchlicher Aufmerksamkeit für die Armen und inmitten der Armen [habe] erinnern wollen, um zu zeigen, dass sie wesentlicher Bestandteil des ununterbrochenen Weges der Kirche ist" (103). Dies sei vor allem deswegen so wichtig, weil die "vorherrschende Kultur zu Beginn dieses Jahrtausends … stark dazu [tendiert], die Armen ihrem Schicksal zu überlassen, sie nicht für beachtenswert und noch weniger für schätzenswert zu halten" (105).

Liest man den Text aus dieser Perspektive, dann wird man sagen müssen, dass Leo mit diesem Schreiben zweifellos ein weltweit besonders wichtiges Thema adressiert hat, das nicht für die Weltkirche, sondern für das Weltgemeinwohl von größter Bedeutung ist. Doch wirft der Umstand, dass er sich dazu eines weitgehend von seinem Vorgänger formulierten Textes bedient, auch eine Reihe von kritischen Rückfragen nach der sozialethischen Tiefenstruktur seiner Argumentation auf, die zu beantworten Aufgabe seiner zukünftigen Lehräußerungen bleibt.

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