Heidelberg am HudsonPeter Gostmann erinnert in Berlin an Werk und Leben des jüdischen Soziologen Albert Salomon

Von Heidelberg bis zur New School in Manhattan: Albert Salomon dachte über Demokratie, Tradition und Fortschritt nach. Nun wird sein Werk neu gelesen – dank einer deutschen Werkausgabe.

Eingang der Johnson Hall der New School zwischen der Fifth und der Sixth Avenue im Greenwich Village in Mahattan, entworfen von Joseph Urban (1930)
Eingang der Johnson Hall der New School zwischen der Fifth und der Sixth Avenue im Greenwich Village in Mahattan, entworfen von Joseph Urban (1930)© Beyond My Ken/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Editionsprojekte zielen ihrer Anlage nach stets auf die Historisierung des Edierten. Ist der Umfang des Materials hinreichend, lohnt es sich nicht selten, auch den Verlauf der Edition selbst zu rekonstruieren. Gerade dadurch treten überraschende Kontexte zutage, die den Kanon erneut in Bewegung versetzen. Im Rahmen eines religionssoziologischen Salons zu Albert Salomon (1891–1966) demonstrierte dies jüngst Peter Gostmann – der in Frankfurt lehrende Herausgeber der Werke des jüdischen Soziologen und Publizisten – anschaulich.

Als Ausgangspunkt wählte Gostmann ein Göttinger Gespräch Mitte der Fünfzigerjahre zwischen dem Philosophen Helmuth Plessner und einem Studenten; Anlass ist dessen publizierte Gegnerschaft zur Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Plessner empfiehlt dem Lehramtsstudenten ein soziologisches Zweitstudium. Aus dem Studenten wird der Soziologe Richard Grathoff, dessen geplantes Vorhaben einer Gesamtausgabe Salomons an seinen letzten Promovenden vererbt wird: Gostmann. Zwischen 2008 und 2025 hat sich dieser dem Projekt gewidmet, habilitierte 2013 mit einer intellektuellen Biografie Salomons und blickt nun auf fünf abgeschlossene Bände.

Doch bei aller longue durée: Albert Who? Gostmann konzediert, dass Salomon zu den weithin Vergessenen der deutschen Soziologie gehört. Dass dies nicht so bleiben muss, zeigt der Abend am 30. September, organisiert von Religionssoziologe Stephan Fichtner, der Gostmann eingeladen hat. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Salomons Charlottenburger Kindheit um 1900 stellt Gostmann Leben und Werk des Soziologen vor: In der letzten Dekade des 19. Jahrhundert geboren, gehört Salomon zu den deutsch-jüdischen Intellektuellen jener Jahrgänge, deren Produktivität noch heute beeindruckt.

Der Erste Weltkrieg machte ihn zum Soziologen

Nach dem Abitur studiert Salomon ab 1910 Nationalökonomie und Kunstwissenschaften – zunächst in Berlin, dann in Freiburg und schließlich im Weltdorf Heidelberg. Dort begegnet er den autoritären Beschwörungen des George-Kreises, deren charismatischen Charakter Max Weber ihm während eines exklusiven Jour Fixe im Haus des Soziologen erläutert. Max Webers Denken wird Salomon zeitlebens begleiten. Der Erste Weltkrieg markiert den Bruch zur heilen Heidelberger Welt: Der vergeistigten Elite am Neckar setzt Salomon die egalitäre "Leidensgemeinschaft" entgegen. Später hält er fest, dass das "Erlebnis", als "gewöhnlicher Soldat" zu dienen, ihn "eigentlich zum Soziologen" verwandelt hat.

Nach dem Krieg beendet Salomon sein Studium mit einer Promotion zum "Freundschaftskult"; einem Topos, dem sich jüngst Philipp Lenhard in seiner Kulturgeschichte der Freundschaft im deutschen Judentum gewidmet hat. Lenhard betont:

"Gerade für die junge Generation der um 1900 Geborenen repräsentierte das Versprechen der Freundschaft so vieles, das ihrem alltäglichen Leben Sinn und Bedeutung gab. Die Frage, wie richtig zu leben sei, konnte die Tradition oft nicht mehr beantworten."

Diese Konstellation prägt Salomons Leben: Welche Lebensformen sind vor dem Bruch zwischen Tradition und Gegenwart noch plausibel? Nach Abschluss der Promotion wendet er sich zunächst von der Option ab, Wissenschaft als Beruf zu wählen. Das von Weber als "wilder Hazard" bezeichnete akademische Leben erscheint ihm zu oft als mit Idealen verbrämte Egomanie. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er als Buchhalter und später im Geschäft seines Vaters.

Die junge Weimarer Republik leidet währenddessen unter den Folgen des Krieges. Unter dem Eindruck der Ermordung Walther Rathenaus tritt Salomon 1922 in die SPD ein – als kategorische Parteinahme für die Demokratie und nicht mit Absicht einer Funktionärskarriere. Dennoch wird er aktiv: Gewissermaßen ergänzt Salomon das Heidelberger Bildungsideal um demokratische Emphase und übersetzt beides in breitenwirksame Bildungsarbeit. Ab 1924 veröffentlicht er in der SPD-nahen Zeitschrift Die Gegenwart, deren Redaktion er ab 1928 verantwortet. 1931 erhält Salomon eine Professur am Berufspädagogischen Institut Köln. Dort wirkt er institutionalisiert an der Schnittstelle von Politik und Wissenschaft.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten implodiert jedoch sein Betätigungsfeld. Spätestens im April 1933 ist Salomon mit dem Gesetz über das Berufsbeamtentum gesellschaftlich ausgeschlossen. 1935 übersiedelt er mitsamt Familie nach New York, wo Salomon bis zu seinem Lebensende lebt und lehrt. Jahre später erfährt er, dass keiner seiner Verwandten die Shoah überlebt hat; Deutschland besucht er nie wieder.

Die USA als "Verteidigerin der Aufklärung"

In New York begegnet Salomon erneut einer Gesellschaft im Umbruch: Mit Roosevelts New Deal verabschieden sich die USA vom Laissez-Faire-Paradigma und räumen dem Staat stärkere Eingriffsrechte ein. Für deren Umsetzung greift man gerne auf aus Deutschland vertriebene Staats- und Sozialwissenschaftler zurück. In der Graduate Faculty der New School for Social Research trägt Salomon so zum transatlantischen Wissenstransfer bei. Zunehmend setzt Salomon eigene Akzente und entwickelt konstruktive Ansätze für die Demokratie im Zeitalter der Massengesellschaft. Ein Beispiel ist der Aufsatz Leadership in Democracy, der in Anknüpfung an Max Weber eine idealtypische Interpretation demokratischer Herrschaft entwirft. Privat pflegt Salomon engen Kontakt zu den deutschen Kollegen wie Leo Strauss – inklusive ausgedehnter Spaziergänge am Hudson.

Noch vor dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor wirbt Salomon für einen Kriegseintritt der USA. Er begreift die USA als Verteidigerin der Aufklärung, beglaubigt so den amerikanischen Exzeptionalismus und kann dem antitotalitären Diskurs zugeordnet werden, der utopisches Ansinnen im Namen der demokratischen Gegenwart ablehnt.

Zugleich geraten zentrale Axiome der Heidelberger Soziologie für Salomon ins Wanken. Er hinterfragt seine Rolle als Intellektueller und kritisiert den "messianischen Bohemian", der Wirklichkeit allein aus Dialogen konstruiert – eine Träumerei, die er im Namen einer Vita activa ablehnt. Seine Kritik am Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts kulminiert 1955 in seinem Essay Tyranny of Progress.

Salomons Suche nach einem Glauben, der stark genug ist, dem Elend der Welt zu begegnen, ist mit der seit Weimar gehegten Frage nach der Bewährung des kämpferischen Ideals des freien Bürgers verbunden; eines Habitus, der reine Kontemplation eben ausschließt.

Damit einher geht eine Hinwendung zur jüdischen Tradition. Die Wiederaneignung ist auch vor der Begegnung mit der alltäglichen Religiosität des New Yorker Judentums zu sehen, die sich in seinem Eintritt in die Park Avenue Synagoge vollendet. Gostmann sieht darin zugleich den Abschluss seiner Amerikanisierung: ein gegenwartsfähiges Leben, das die Brücke zwischen Herkunft und Zukunft schlägt. Salomons Suche nach einem Glauben, der stark genug ist, dem Elend der Welt zu begegnen, ist mit der seit Weimar gehegten Frage nach der Bewährung des kämpferischen Ideals des freien Bürgers verbunden; eines Habitus, der reine Kontemplation eben ausschließt. Dieser Ansatz trug sicher dazu bei, dass Salomons Reputation und Bekanntheit nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich wuchs. Doch mit dem Tod seiner Frau 1956 zieht sich Salomon langsam zurück, bis er im Dezember 1966 im Alter von 75 verstirbt.

Salomons Leben und Werk zu vergegenwärtigen heißt, einen liberalen Denker zu entdecken, der die Demokratie offensiv verteidigte und zugleich vormoderne Traditionen produktiv aufnahm. Dass Herausgeber Gostmann seine Schriften nun vollständig auf Deutsch zugänglich macht, eröffnet die Möglichkeit, die Antworten dieses Klassikers auf die Fragen unserer liberal-demokratischen Gegenwart neu zu reflektieren und der skizzierten Vorgeschichte der Werkausgabe so eine Nachgeschichte zu geben.

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