Entgrenzte Freiheit?In Berlin diskutierten Chantal Delsol und Thomas M. Schmidt über Christentum und Liberalismus

Der politische Liberalismus ist in einer schweren Krise: Manche sehen die Chance, die liberale Ordnung endgültig zu überwinden. Andere, wie die französische Philosophin Chantal Delsol, wollen den Liberalismus retten, indem sie seine "postmoderne Entgrenzung" kritisieren. Delsol knüpft dabei an klassische Argumente katholischen Liberalismuskritik an.

Katholische Akademie Berlin
Feindbeobachtung: Das Zentrum Liberale Moderne beschäftigt sich mit Liberalismuskritik. Schauplatz: die Katholische Akademie Berlin.© Jannis Chavakis/KNA

In einem "rationalistischen und mechanistischen Zeitalter" leben wir; in einem Zeitalter des "ökonomischen Denkens", das Ideale verschlingt und politische Autorität verunmöglicht; ein Zeitalter der Form- und ultimativ der Sinnlosigkeit – so beschreibt Carl Schmitt 1923 in "Katholizismus und Politische Form" die Moderne respektive das, was er für ihr Paradigma hält: den "Liberalismus". Wie der Titel des Büchleins schon verrät: Es ist die Katholische Kirche, in der Schmitt die prädestinierte Gegenspielerin des Liberalismus erblickt; den Hort einer substanziellen Vernunft, einer "an der normativen Leitung des sozialen menschlichen Lebens" interessierten Denkweise; der Form, der Schönheit, der Autorität.

Eine konfliktreiche Geschichte

Liberalismus und Katholizismus: Das ist tatsächlich eine konfliktreiche Geschichte. Die Französische Revolution, das historische Schlüsselereignis des politischen Liberalismus, war offensiv antiklerikal; die Katholische Kirche fremdelte bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil mit liberalen Grundprinzipien.

Gegenwärtig gewinnen in den USA, aber auch in Europa von Ungarn bis Großbritannien "postliberale" Stimmen Diskurshoheit, die – gern im Rückgriff auf Schmitts säkularisierte Politische Theologie – ihr ideologisches Projekt einer "Überwindung" der liberalen Ordnung im Rückgang auf die katholische Tradition zu begründen versuchen. Der US-amerikanische Vizepräsident JD Vance inszeniert seinen katholischen Glauben in den sozialen Medien plakativ als anti-wokes Widerstandsprojekt; Donald Trump postet derweil KI-generierte Bilder von sich im päpstlichen Gewand und gratuliert Maria am Fest "Mariä Geburt" auf seinem Netzwerk "Truth Social" zum Geburtstag.

So gewinnt die alte Frage wieder neue Aktualität: Wie hält es, und mehr noch: Wie sollte es das Christentum respektive die katholische Kirche mit dem Liberalismus halten?

Ihr hat sich am vergangenen Dienstag das Zentrum Liberale Moderne angenommen, das im Sinne der "Gegnerbeobachtung" seit einigen Jahren der Entwicklung des anti-liberalen Denkens eine Veranstaltungsreihe widmet. In der Katholischen Akademie in Berlin brachte es zwei Intellektuelle zusammen, die von unterschiedlichen Denktraditionen her über das Verhältnis von Religion, Politik und liberaler Gesellschaft nachdenken: die französische Philosophin und Autorin Chantal Delsol und Thomas M. Schmidt, Professor für Religionsphilosophie an der Universität Frankfurt.

Freiheit und Verantwortung

Delsol ist Vertreterin einer oft als "konservativ" attribuierten Position, insofern sie die Gegenwart in ihren Texten (zuletzt u.a.: "La fin de la Chrétienté", 2021) als Gegenwart einer sittlichen Krise beschreibt – und diese Krise ursächlich auf eine Radikalisierung des Liberalismus zurückführt: die "Postmoderne". Delsol zeichnet sie als Epoche der Umwertung des Freiheitsbegriffs. Der klassische Liberalismus, so Delsol, habe aufgrund seiner Rückbindung an den christlichen Begriff der Person "Freiheit" noch wesentlich als Akt der Übernahme von Verantwortung verstanden: Freiheit sei, zu entscheiden, wofür ich Verantwortung übernehme. Der Postmoderne attestiert sie einen rein negativen Freiheitsbegriff – und den "Rückfall" in ein "kosmotheistisches" Denken, in dem es weder einen Begriff von "Transzendenz" noch von Wahrheit, von Tragik oder Vergebung gebe, sondern nur die paradoxe Gleichzeitigkeit von flachem Naturalismus und Hypermoralismus. Die Person als Subjekt der Menschenwürde sieht sie darin verloren gehen.

Die Klage über einen entgrenzten Freiheitsbegriff gehört zu den Topoi katholischer Liberalismuskritik.

Delsols Beschreibung der Postmoderne als Geschehen der Umwertung des Freiheitsbegriffs ist nicht originell (was kein Argument gegen ihre Überzeugungskraft sein soll); tatsächlich geht die Klage über einen entgrenzten Freiheitsbegriff der Erfindung der "Postmoderne" lange voraus: Sie gehört zu den Topoi insbesondere katholischer Liberalismuskritik. Auch Postliberale wie Patrick Deneen, Adrian Vermeule oder Rod Dreher bringen sie wieder und wieder vor.

Während sie die "postmoderne" Gegenwart allerdings als Ort wahlweise des Nihilismus oder der Häresie verwerfen und den Liberalismus zur Ursünde erklärten, geht es Delsol um die Rettung des Liberalismus als universalistische und pluralistische Werteordnung.

Neue Grenzen ziehen?

Ihr Mantra an dem Diskussionsabend in der Katholischen Akademie war der Begriff der "Grenze": Gegenüber dem vermeintlich entgrenzten Individualismus der Postmoderne – für den Delsol als Beispiel mit Vorliebe die Gender-affirmative Versorgung von Trans-Kindern heranzieht – gelte es, (wieder) Grenzen zu bestimmen, zu benennen und verbindlich zu setzen, die dem Gedeihen der Person zuträglich seien.

Es blieb eine offene Frage, inwieweit Delsol den christlichen respektive personalistisch-katholischen Traditionen, auf die sie immer wieder verwies, Grenzziehungen entnehmen will.

Thomas M. Schmidt versuchte darauf eine Antwort vertieften Zweifels – wie er überhaupt gegenüber Delsols weltbewegtem Pathos Zwischentöne aus den Mühen einer ideengeschichtlich und soziologisch informierten Ebene des Denkens setzte. Für Schmidt bergen die katholischen Traditionen zwar das krisendiagnostische Potenzial, die dunklen Seiten der Moderne, die Dialektik der Aufklärung zur Sprache zu bringen. Es fehle ihnen aber die Sensibilität für religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, die es brauche, um für die freiheitlichen Gesellschaften der Gegenwart Wege aus der Krise zu weisen: Insbesondere die personalistische katholische Tradition sieht Schmidt in einer alteuropäischen Vorstellung eines homogenen religiösen Lagers einerseits und eines homogen nicht-religiösen Lagers andererseits gefangen.

Einigen konnten sich Delsol und Schmidt indes sowohl auf die Diagnose einer "Krise" (wiewohl um den Preis, die Krisendiagnose nicht auszubuchstabieren) als auch auf zwei Desiderate:

Erstens: eine philosophische Anthropologie, die einer pluralen Gesellschaft den nicht-metaphysischen Untergrund für einen neuen Diskurs um "Grenzen" stellen könnte; zweitens: eine leidenssensible (politische) Theologie, die der Sterblichkeit des Menschen und der Kraft von Mitleid und Gnade Ausdruck verleiht.

Mit postliberaler Rhetorik werden derzeit Mehrheiten bei Wahlen gewonnen.

Es blieb dabei die Prämisse von Delsol wie von Schmidt, dass die christlichen Kirchen (und das christliche Vokabular) auf absehbare Zeit mit einem fortgesetzten Bedeutungsverlust zu tun haben werden. Die Rückkehr alter Politischer Theologie auf die politische Bühne der USA und damit der Weltpolitik lässt diese Diagnose allerdings fraglich werden. Mit postliberaler Rhetorik werden derzeit Mehrheiten bei Wahlen gewonnen. Sich damit auseinanderzusetzen und sich demgegenüber zu positionieren ist die Aufgabe von Christinnen und von Christen wie von Liberalen gleichermaßen. 

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