Vor 60 Jahren nahmen Israel und Deutschland diplomatische Beziehungen auf. Vorausgegangen waren fundamentale ethische und geopolitische Diskussionen, sowohl zwischen den Vertretern beider Staaten als auch innerhalb der jeweiligen Zivilgesellschaften. Für die Bundesrepublik geht es nach der Selbstzerstörung der Weimarer Republik und dem Zivilisationsbruch der Shoah um eine Identitätssuche – sich selbst und der Welt gegenüber. In der Gegenwart werden die theologischen Dimensionen dieser Annäherung häufig übersehen.
Am 26. August 1964 schreibt der damalige Innensenator Hamburgs, der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt, einen Brief an den Hamburger Landesbischof Hans-Otto Wölber. Es geht um die sogenannte "Judenmission", also die Überzeugung, dass Juden vom christlichen Glauben zu überzeugen seien. Schmidt lehnt diese ab: Nicht das Bekenntnis sei maßgebend, sondern die Tatsache, dass es sich um ebenbürtige Staatsbürger handele und daraus leite sich ab, dass jeweilige "Glaubensüberzeugungen" respektiert werden müssten. In seiner Ablehnung stützt sich Schmidt auf einen Theologen, dessen Name in der Gegenwart kaum noch Bedeutung besitzt, obwohl er zu dieser Zeit zu einer Hauptfigur des jüdisch-christlichen Dialogs gehört und das von ihm gegründete Institut Kirche und Judentum (IKJ) noch heute besteht: Prof. Dr. Günther Harder (1902-1978).
Vor 100 Jahren steht der 23-jährige Günther vor dem Johanneum in der Artilleriestraße (heute: Tucholskystraße) in Berlin-Mitte. Das Studentenwohnheim wird bis ins Jahr 1928 seine Wohnanschrift sein. Zu diesem Zeitpunkt hat der Pfarrerssohn bereits ein Jurastudium samt Promotion absolviert. 1902 geboren, bleibt ihm die archaische Zäsur zwischen Kindheit und Erwachsenenleben in Form des Frontdienstes erspart.
1922 hatte Günther Harder das romantische Marburg, wo er 1920 sein Jurastudium begann, gegen das Berlin der Goldenen Zwanziger eingetauscht. Hier fühlt er sich frei. Nachdem er sich der Familientradition des Pfarramtes zunächst bewusst entzieht, fasst er Ostern 1923 den Entschluss, doch Theologie zu studieren. 1924 folgen binnen kurzer Zeit die Einschreibung an der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität) und die juristische Promotion in Marburg. Seine verspätete Einschreibung in Berlin wird von seinem Großonkel, einem Konsistorialpräsidenten, protegiert. Er wohnt mit in dessen Dienstwohnung. Heute beherbergt ebenjenes Gebäude das Jüdische Museum Berlin. Als der Großonkel in den Ruhestand geht, zieht Harder ins Johanneum. Er erhält vom Neutestamentler Adolf Deissmann, einem Bekannten Max Webers und Ernst Troeltschs, das Angebot, eine Dissertation zu verfassen, die er viel später, 1934, unter dem Titel "Paulus und das Gebet" fertigstellt. Schon hierin liegt eine intensive Befassung mit dem jüdischen Erbe des Christentums.
Im Nationalsozialismus wird Harder mehrfach inhaftiert
Seit 1929 ist Harder Pfarrer in Fehrbellin nordwestlich der Hauptstadt, arbeitet neben der Pfarrstelle am Neutestamentlichen Seminar in Berlin. 1933 beginnt für ihn der Kirchenkampf. Harder wird Mitglied der Bekennenden Kirche, baut diese mit auf. 1935 wird in Berlin die Kirchliche Hochschule gegründet und vom NS-Regime verboten. Seit 1936 gehört Harder zum Lehrkörper. Als nichtstaatliche Einrichtung soll sie die Unabhängigkeit der geistlichen Ausbildung sichern. Harder wird mehrfach inhaftiert, auch wegen illegalen Lehrens. Ein letztes Mal am 22. Januar 1945. Harder hatte Personen, die zum Kreis des "20. Juli" gehören, Obdach geboten. Er weist sie zunächst ab, auch weil er annimmt, dass er beobachtet würde. Als sie sich kurze Zeit darauf erneut bei ihm einfinden, nimmt er sie auf. Als er später von einer Reise nach Hause zurückkehrt, wartet bereits ein Polizist auf ihn. Harder landet zum dritten Mal im Zellengefängnis Lehrter Straße des Reichssicherheitshauptamtes und soll vor den Volksgerichtshof gestellt werden.
Der Tod von Richter Roland Freisler am 3. Februar 1945 und die Schlacht um Berlin retten ihm vermutlich das Leben.
Nach dem Krieg, 1946, erinnert er in einem Briefwechsel zur Schuldfrage – Harder verweist hierbei auf Karl Jaspers – an eine seiner Internierungen: Sie sei ein Moment der Buße gewesen. Im selben Austausch mahnt er seinen Briefpartner, dass die Kirche, das meint auch die Bekennende Kirche, viel zu spät Widerstand geleistet hätte, insbesondere gegen die Verfolgung und Ermordung von Juden. In einem Schreiben aus dem Jahr 1974 weist Harder darauf hin, dass einzelne Mitglieder der Bekennenden Kirche seit April 1942 von der Judenvernichtung gewusst hätten, seit 1940 um "die Irren und ihre Vernichtung".
Der Tod von Richter Roland Freisler am 3. Februar 1945 und die Schlacht um Berlin retten ihm vermutlich das Leben. Er wird am 23. April 1945 entlassen. Mit der Anklageschrift in der Tasche, die ihm wiederum bei Begegnungen mit Rotarmisten das Leben rettet, macht er sich zu Fuß auf den Heimweg. Totgeglaubt erscheint er am 2. Mai 1945 bei seiner Frau und seinen Kindern.
Nach dem 8. Mai 1945 beginnt nicht nur die Neuordnung Deutschlands hin zur Bundesrepublik, sondern auch diejenige der evangelischen Kirche. Harder wird zum Superintendenten des Kirchenkreises Nauen ernannt, empfindet dies aber als räumliche Marginalisierung. Seit Herbst 1945 lehrt Harder an der – unter der Besatzung legalisierten – Kirchlichen Hochschule in West-Berlin, deren Rektor er in den Studienjahren 1946/47 und 1957/58 ist. 1947 bekommt er eine Superintendentur in Berlin zugesprochen, um seinen wissenschaftlichen Verpflichtungen nachkommen zu können. Vom Gemeindepfarrer war Harder zum Hochschullehrer geworden. 1948 wird er als Dozent für Neues Testament zum "Professor des kirchlichen Lehramts" ernannt, seit 1955 dann im Hauptamt. Der Titel entspringt der Zeit des Kirchenkampfes. Demnach versteht sich das Kollegium der Kirchlichen Hochschule als "oberste kirchliche Lehrstätte und verantwortlich für Unterricht und Unterweisung".
1972 wird er emeritiert. Nach der Entpflichtung beschäftigt er sich vor allem mit der Geschichte des Kirchenkampfes. Harders weltanschauliche Lagerung ist keinesfalls linear. So liest er während Schul- und Studienzeit sowohl Heinrich von Treitschke ("Die Juden sind unser Unglück!") als auch Houston Stewart Chamberlain (völkisch-antisemitischer Ideologie). Diese Lektüre scheint mit der Aufnahme des Theologiestudiums an Relevanz zu verlieren. Nach 1945 steht er einem Staat Israel zunächst kritisch gegenüber, weil er hierin zunächst nur eine Verschmelzung von Politik und Religion erkennen konnte. Diese Haltung verwirft er später und versteht die politische Bedeutung des profanen Staates Israel für die Angehörigen einer verfolgten religiösen Gemeinschaft in Verbindung mit der bleibenden Bedeutung des Judentums für das Christentum und dem Staat Israel als jüdischer Entität.
Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, die die evangelische Kirche nicht nur nicht verhinderte, sondern an der sie zudem Anteil hatte, erzeugte einen tiefen Riss in der Theologie, in dessen Bewältigung sich Harder nach 1945 mithilfe seiner Paulus-Exegese einbringt, den er gegen die Invektiven der Deutschen Christen verteidigt hatte.
1960 soll ein Institut gegründet werden, das sich in die Krisenbewältigung des Zivilisationsbruchs der Shoah einbringen soll: Das Institut "Kirche und Judentum", das an die Kirchliche Hochschule angebunden wird, forscht zum christlich-jüdischen Verhältnis, plant Vorträge gegen Antisemitismus, organisiert Reisen nach Israel. Harder wird dessen Gründungsdirektor.
Wie er zu seiner "besonderen Stellung auf dem Gebiet Kirche und Judentum" kam, weiß Harder, so schreibt er, selbst nicht. Laut seinem Nachfolger, Peter von der Osten-Sacken, prägen die "Erfahrungen des Kirchenkampfes" und seine als "konservativ" zu deutende "enge Bindung an die Schrift" Harders Verständnis des Judentums in christlicher Optik. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, die die evangelische Kirche nicht nur nicht verhinderte, sondern an der sie zudem Anteil hatte, erzeugte einen tiefen Riss in der Theologie, in dessen Bewältigung sich Harder nach 1945 mithilfe seiner Paulus-Exegese einbringt, den er gegen die Invektiven der Deutschen Christen verteidigt hatte. Auch gehört der Bereich Judentum zu seiner Lehre.
Seit den 1950ern hatte Harder sich in Ausschüssen und Gremien an den ersten zarten Ansätzen der christlich-jüdischen Verständigung betätigt. 1950 war er der "Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Berlin" beigetreten, 1958 dem "Freunde der Hebräischen Universität Jerusalem in Berlin e.V.". Harder wird von Gegnern des Instituts Kirche und Judentum öffentlich desavouiert: "Bei Harder muss man sich sofort und überhaupt beschneiden lassen", lautet eine der Parolen.
Seit den 1960ern reist er immer wieder nach Israel. Aus den Reihen der von ihm 1961 mit-initiierten Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag wird 1963 ein Brief an den damaligen Außenminister Gerhard Schröder (CDU) formuliert. Darin äußern die Verfasser ihre Irritation über das Fehlen diplomatischer Beziehungen zu Israel. Besorgnis wird darüber geäußert, dass das Auswärtige Amt gerade einen solchen "deutschen Nahost-Experten" heranziehe, der in der Aufnahme diplomatischer Beziehungen das Entfachen einer "schlummernden Glut im arabischen Raum" sehe. Ganz im Gegenteil würden "Freundschaftsbeziehungen zwischen Israel und uns […] eine arabisch-israelische Verständigung erleichtern."
Streit um die Judenmission
Im selben Jahr richten Dietrich Goldschmidt und Günther Harder ein vertrauliches Schreiben an den damaligen Vorsitzenden des Rates der EKD, Kurt Scharf, in welchem sie ihre Sorge um den schleppenden und unzureichenden Verlauf der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen machen. Die Kirche müsse dringend aktiv werden. "Nicht die, die jene Taten offenkundig machen und bestrafen, beschmutzen das eigene Nest, sondern jene Verbrecher haben es getan", so lässt Harder, ebenfalls 1963, öffentlich verlautbaren.
Eine Zäsur bildet der Purimstreit aus den Jahren 1963 und 1964. Die Judenmission lehnt Günther Harder zwar ab. Im Versuch, Befürworter der Judenmission und die jüdischen Gesprächspartner der AG Juden und Christen im Sinne einer Aussöhnung für eine Aussprache an einen Tisch zu bringen, übersieht er jedoch, wie bedrohlich diese Haltung – die antisemitischen Raserei liegt keine zwei Jahrzehnte zurück – auf die jüdische Seite wirkt. Rabbiner Raphael Geis, von Harder und dessen Mitstreitern enttäuscht, entscheidet sich, an die Öffentlichkeit zu gehen. Harder, der sich in ein falsches Licht gestellt sieht, wendet sich an Ernst Ludwig Ehrlich. Der (unabgeschlossene) Briefwechsel zwischen Harder und Ehrlich entwickelt sich zu einem beeindruckenden Zeugnis respektvoller, tiefer intellektueller Auseinandersetzung mit den jeweiligen religiösen Vorstellungen. Als dessen Essenz könnte man verdichten: Die Existenz von Christen und Juden ist ein Hinweis darauf, dass sich unter der "Gnade Gottes" der eine nicht über den anderen erheben kann.
In seinen unveröffentlichten Lebenserinnerungen, die er 1977 abschließt, ragen zwei Erkenntnisse aus seinen Israelreisen hervor: So stellt Harder bei einer Reise im Jahr 1971 fest, dass man von den Israelis nicht verlangen könne, die Golanhöhen als Vorbedingung für Verhandlungen zu verlassen. Verhandlungsbereitschaft müsse auf beiden Seiten vorhanden sein. Zu gesicherten Grenzen, stellt Harder fest, gehören die Golanhöhen eben dazu: "Man muss die syrischen Bunker gesehen haben, die auf Jordan und die Quellflüsse des Jordan gerichtet sind, damit man weiß, wie lebenswichtig für Israel die Golanhöhen sind."
Bereits bei einer Reise 1960 stellt Harder in Bezug auf arabische (meint: palästinensische) Flüchtlinge fest: "Aber da ist das spezielle Problem der Flüchtlinge, die, zu politischen Zwecken, immer noch im Lager gehalten werden. Man möchte meinen", so Harder weiter, "dass die arabischen Länder untereinander ihren Reichtum verteilen und ausgleichen sollten, und so jedenfalls, dass Geld für be- oder erbauende Investitionen freigemacht wird, also zu einer Investition in industriellen und landwirtschaftlichen Unternehmen."
Zu Unrecht (fast) vergessen
Am 14.09.1978 stirbt Günther Harder, 50 Jahre nachdem er das Johanneum verlässt. Er war seit Längerem an Parkinson erkrankt. Erst im Jahr 1977, zu seinem 75. Geburtstag, war eine Festschrift erschienen, die sein Schaffen titelgebend zusammenfasst: "Treue zur Thora." Nach seinem Tod wird seine theologische Bibliothek nach Jerusalem überführt.
Das von Harder gegründete Institut für Kirche und Judentum besteht bis heute. Nach der Abwicklung der Kirchlichen Hochschule ist es an die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität angeschlossen. Wer nach Günther Harder sucht, hat es da etwas schwerer. Auf der Suche nach ihm kann man sich ins Johanneum begeben. Dort findet sich in einem Buch, in das sich ehemalige Bewohner eingetragen haben, sein Name unter einem kurzen Eintrag über seine Zeit im Studienhaus. So kommt man nicht umhin festzustellen, dass er in einem Punkt, will man einem Titel des jetzigen Direktors des IKJ, Christoph Markschies, folgen, seinem Lehrer Adolf Deissmann nachgefolgt ist: zu Unrecht (fast) vergessen worden zu sein.