Mit Integralisten redenEin zweiter Blick auf Kevin Valliers "All the Kingdoms of the World"

Kevin Valliers Kritik am Neo-Integralismus trifft vor allem eine bestimmte, autoritäre Spielart der Bewegung. Der lokalistische Flügel, der auf Subsidiarität und Tugendethik setzt, bleibt unterbelichtet. Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen muss darum breiter ansetzen.

Chorteppich in der Sankt-Salvator-Basilika in Prüm (Ausschnitt): Himmlisches Jerusalem
Chorteppich in der Sankt-Salvator-Basilika in Prüm (Ausschnitt): Himmlisches Jerusalem© Thomas Hummel, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Seit der Diskussion um den österreichischen Theologen Edmund Waldstein reden in Österreich und Deutschland erstmals breitere Kreise über "Postliberalismus" und "Neo-Integralismus". Doch was darunter – jenseits einer Qualifizierung als "rechts-christlich" – genau zu verstehen ist, bleibt vielfach diffus. Darum ist es sehr zu begrüßen, dass Carlotta Voß an dieser Stelle vor einiger Zeit das Buch "All the Kingdoms of the World" von Kevin Vallier vorgestellt hat. Vallier setzt sich darin aus christlich-liberaler Perspektive mit der neo-integralistischen Bewegung auseinander, die im Umfeld der zweiten Trump-Präsidentschaft an Macht und Einfluss gewonnen hat. Der Beitrag fordert jedoch zu einigen Anmerkungen heraus.

Die Selbstidentifizierung der Integralisten als "postliberal" dient vor allem strategischen Zwecken und tut den meisten Postliberalen Unrecht, die gar keine integralistischen Tendenzen haben.

Voß nennt ihren Beitrag "Mit Postliberalen reden". Allerdings redet Vallier nicht mit Postliberalen per se. Wie er selbst deutlich macht, dient die Selbstidentifizierung der Integralisten als "postliberal" vor allem strategischen Zwecken und tut den meisten Postliberalen Unrecht, die gar keine integralistischen Tendenzen haben.

Zudem redet Vallier aber auch nicht mit Integralisten per se, sondern mit einer bestimmten Auswahl von integralistischen Autoren: Edmund Waldstein, Thomas Pink und Adrian Vermeule. "All the Kingdoms of the World" ist also weniger "eine ausführliche systematische Auseinandersetzung mit dem neo-integralistischen Arm des ‚Postliberalismus‘", wie Voß schreibt, als vielmehr eine Befassung mit einer spezifischen, derzeit dominanten Strömung innerhalb des Integralismus.

Zurück zum konfessionellen Staat?

Worum geht es? Die kritisierten Autoren streben Vallier zufolge nach einem konfessionellen Staat – einem Staat, der sich nicht nur hinsichtlich der allgemeinen Gesetzgebung an den Vorgaben des kirchlichen Lehramtes orientiert, sondern auch die Kirchendisziplin mit seinen Sanktionsmöglichkeiten abstützt, indem er beispielsweise die Verbreitung von Irrlehren unterbindet.

Was Vallier gegen diese Position ins Feld führt, fasst Carlotta Voß in ihrer Rezension so zusammen:

"Mit der ganzen schematischen Rigorosität, die der analytischen philosophischen Tradition eigen ist, zeigt er auf: Weder hat der Neo-Integralismus Antworten darauf, wie sich der Umbau von einer liberalen zu einer integralistischen Ordnung ohne Verletzung dogmatischer Gebote gestalten ließe – noch kann er seine Behauptung plausibel machen, dass in neo-integralistischen Ordnungen Stabilität und Gerechtigkeit gesichert seien. Anders formuliert: Vallier zeigt, dass der Neo-Integralismus konstitutiv in Widersprüche verwickelt ist und seine eigenen Maßstäbe untergräbt."

Valliers Einwand gegen den Neo-Integralismus lautet also, dass eine integralistische Gesellschaftsordnung sich erstens nicht umsetzen lässt, ohne dafür unethische Mittel zu nutzen, dass sie sich zweitens nicht stabil aufrechterhalten ließe, und dass sie drittens ungerecht wäre.

Marsch durch die Institutionen

Wenig überraschend hat Vallier aus dem kritisierten Lager Widerspruch erfahren. So hat der Philosoph Edward Feser Vallier vorgehalten, er habe die Positionen von Adrian Vermeule verzerrt dargestellt. Vallier widmet ein Kapitel seines Buches Adrian Vermeule und seiner Strategie zum Übergang von einem nicht-integralistischen Regime zu einem integralistischen Regime. Darin legt er nahe, dass für den Erfolg von Vermeules Strategie Säuberungsaktionen wie im Stalinismus und ähnliche Formen von Zwang und massiver Gewalt unumgänglich wären. Dazu schreibt Feser:

"Das meiste, was Vallier beschreibt, ist nicht das, was Vermeule selbst tatsächlich sagt, sondern das, von dem Vallier behauptet, dass es getan werden müsste, um Vermeules Vision zu verwirklichen."

Der Sache nach scheint Vermeules Strategie eher in dem zu bestehen, was man als "Marsch durch die Institutionen" bezeichnen könnte. Wie erfolgreich ein solcher Marsch sein kann, lässt sich vielleicht an nichts so sehr verdeutlichen wie am radikalen Bedeutungswandel, welchen der Ehebegriff in Deutschland, aber auch in den USA, in den letzten Jahren und Jahrzehnten durchlaufen hat und dies nicht nur im allgemeinen Bewusstsein, sondern gerade im geltenden Recht – und zwar ohne, dass hierfür eine Änderung des Wortlauts der jeweiligen Verfassung erforderlich gewesen wäre. Was im einen Fall erfolgreich war, im anderen Fall für unmöglich zu erklären, ist wenig plausibel. Auch gegen die Sittenlehre der Kirche dürfte eine solche Strategie nicht zwangsläufig verstoßen. Vermeule will den Staat samt seiner Machtmittel sozusagen auf verfassungskonforme Weise kapern, um ihn in den Dienst der Konterrevolution zu stellen.

Der lokalistische Flügel der integralistischen Bewegung strebt eine Überwindung des modernen Staates durch lokale Selbstverwaltung an – eine Bottom-Up- statt einer Top-Down-Strategie.

Nun findet Vermeules Ansatz allerdings auch innerhalb des Integralismus scharfe und grundsätzliche Kritik – und zwar von den Vertretern einer Strömung, denen Vallier in seiner Darstellung kaum Beachtung schenkt: Der lokalistische Flügel der integralistischen Bewegung strebt eine Überwindung des modernen Staates durch lokale Selbstverwaltung an – eine Bottom-Up- statt einer Top-Down-Strategie.

Den Freundeskreis ausdehnen

Für einen solchen Ansatz steht etwa das Projekt New Polity und ein Kreis, der sich in den vergangenen Jahren, ausgehend vom Institut für Politische Philosophie und Theologie der Franciscan University in Steubenville, um den Historiker und Theologen Andrew Willard Jones etabliert hat.

Der Umbau von einer liberalen zu einer integralistischen Ordnung beginnt für Jones in Familie, Freundeskreis und Pfarrei damit, einander im Wachstum in den Tugenden zu unterstützen und zu begleiten. 

In seinem jüngsten Essayband kritisiert Jones die Obsession vieler Integralisten der Vermeule-Richtung mit dem Freund-Feind-Denken Carl Schmitts. Aus christlicher Perspektive müsse nicht, wie bei Schmitt und seinen Epigonen, der Feind, sondern der Freund die Grundlage des Politischen sein und der Feind begriffen werden als der "gerade-nicht" bzw. treffender der "noch-nicht-Freund", meint Jones. Politik ziele geradezu darauf, den Freundeskreis immer weiter auszudehnen, immer umfassendere Freundeskreise zu schaffen; Freund dabei verstanden im aristotelischen Sinne als eine Person, mit der man gemeinsame Ziele teilt, mit der man auf ein gemeinsames Wohl – das Gemeinwohl – ausgerichtet ist.

Der Umbau von einer liberalen zu einer integralistischen Ordnung beginnt für Jones daher in Familie, Freundeskreis und Pfarrei damit, einander im Wachstum in den Tugenden zu unterstützen und zu begleiten. Welche Strukturen sich – auch auf größerer Ebene – entwickelten und wie diese sich veränderten, das sei wesentlich eine Folge dessen, mit welcher Absicht Macht ausgeübt werde: primär zum Wohl der je Mächtigen oder zum Wohl der je Ohnmächtigen. Da jeder in seinem Umfeld in der einen oder anderen Form Macht über andere habe, könne auch jeder hier und jetzt das seine tun, um eine Gesellschaftsordnung aufzubauen, die der christlichen Metaphysik des Friedens mehr entspräche.

Jones verwendet dafür den aus der katholischen Soziallehre bekannten Begriff der Subsidiarität. Dieser bezeichnet für ihn eine Ordnung, in der die menschliche Person sich in immer weiter werdenden Kreisen sozialer Beziehungen und Bindungen entfalten kann. Dass wir bereits in einer solchen Ordnung leben würden, wird von Jones entschieden bestritten. Hier wiederum ist er sich ganz einig mit dem Vermeule-Flügel und den Postliberalen im Allgemeinen.

Ähnliche Ziele

Denn bei allen Differenzen teilt der lokalistische Flügel auch viele Überzeugungen der Autoren, die von Vallier kritisiert werden.

Wie diese bestreitet er auch nur die Möglichkeit einer weltanschaulichen Neutralität des Staates, geschweige denn deren faktische Existenz. Wie diese verfolgt er daher das (Langzeit-)Ziel eines christlichen Gemeinwesens, das in seinem Aufbau von einer christlichen Anthropologie ausgeht, nicht vom individualistischen Menschenbild des Liberalismus; in dem also nicht das Individuum mit seinen Rechten und Interessen der Ausgangspunkt ist, sondern der einzelne als eingebettet in und in seinem Wohlergehen abhängig vom Wohlergehen (s)eines Beziehungsgeflechts; in dem das Gemeinwohl also nicht einfach die Summe individueller Präferenzen ist, sondern das objektiv verstandene Wohl kleinerer Gemeinschaften wie der Familien umfasst; ein Gemeinwesen, das so zu organisieren wäre, dass es dem Einzelnen helfen soll, Tugenden zu entwickeln und Laster zu vermeiden. Einig sind sich die Neo-Integralisten schließlich auch darin, dass ein solches christliches Gemeinwesen darüber hinaus nicht nur das irdische Wohl, sondern auch das ewige Heil seiner Bürger im Blick haben soll.

Nur darüber, wie ein solches Gemeinwesen in die Realität umzusetzen und wie es zu organisieren wäre, gehen die Meinungen auseinander.

Die Debatte ist nicht beendet

Da sich viele der Gegenargumente Valliers vornehmlich auf die Positionen des Vermeule-Flügels konzentrieren und den lokalistisch geprägten Teil der Bewegung weitgehend unberührt lassen, markiert sein Buch keineswegs das Ende der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Neo-Integralismus.

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