Moral in der KriseEin Nachruf auf Alasdair MacIntyre

Er hielt die Moralphilosophie der Moderne für gescheitert – und plädierte für eine Wiederentdeckung der antiken Tugendethik. Sein Hauptwerk "After Virtue" sorgte in den Achtzigerjahren für Aufsehen. Auf Kritik ging der katholische Konvertit in weiteren Schriften ein. Jetzt ist Alasdair MacIntyre im Alter von 96 Jahren verstorben.

Donato Arsenio Mascagni (1579-1637): Allegorien der Tugenden, Deckenfresko im Schloss Hellbrunn, Salzburg
Donato Arsenio Mascagni (1579-1637): Allegorien der Tugenden, Deckenfresko im Schloss Hellbrunn, Salzburg© Wolfgang Sauber/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Als die englische Philosophin G. E. M. Anscombe 1958 ihren Aufsatz Modern Moral Philosophy veröffentlichte, in dem sie der neueren – weitgehend vom Utilitarismus und Konsequentialismus geprägten – angelsächsischen Moralphilosophie vorwarf, eine obsolete Form der "Gesetzesethik" zu propagieren, deren ideelle Grundlagen durch den kulturellen Verlust eines göttlichen Gesetzgebers längst erodiert seien, da konnte sie noch nicht ahnen, dass ihre Überlegungen ausgerechnet bei dem 1929 in Glasgow geborenen Alasdair MacIntyre auf fruchtbaren Boden fallen würden.

Dieser beschäftigte sich in den 1950er Jahren noch vorrangig mit Fragen des Marxismus und seiner Beziehung zum Christentum, was erst durch die Erfahrungen des Stalinismus ein jähes Ende finden sollte. MacIntyre widmete sich fortan verstärkt ideengeschichtlichen Untersuchungen und legte 1966 eine kurze "Geschichte der Ethik" vor, die 1984 auch ins Deutsche übersetzt wurde.

Nach Lehrtätigkeiten an den Universitäten von Manchester, Leeds, Oxford und Essex ging MacIntyre 1970 in die USA, wo er – nach relativ kurzen Aufenthalten an der Brandeis University, der Boston University, dem Wellesley College und der Vanderbilt University – von 1988 bis 2010 in Notre Dame dozierte.

Tugendethik statt Normenethik?

International bekannt wurde er durch die 1981 vorgelegte Monografie After Virtue, die zum einen eine Art Generalabrechnung mit der Moralphilosophie der Aufklärung darstellt und zum anderen den Vorschlag unterbreitet, die seines Erachtens gescheiterte Normenethik durch eine aristotelisch inspirierte Tugendethik zu ersetzen.

MacIntyre zufolge laborieren die aufklärerischen Theoriemodelle nicht nur an einer fatalen Ungeschichtlichkeit des Denkens, der er einen "philosophischen Historismus" im Geiste Hegels, Vicos oder Collingwoods gegenüberstellt, sondern auch an einem ungelösten Teleologie-Problem. Der aufklärerische Versuch, den tradierten, eng mit einem teleologischen Naturverständnis verbundenen Normenbestände auf der Grundlage eines rein formalen Vernunftbegriffs zu rekonstruieren, habe in eine tiefe Krisensituation geführt, in der wir nur noch die Wahl haben, die überlieferten Ethos-Bestände entweder mit Nietzsche endgültig zu liquidieren oder aber durch eine neue Form teleologischen Denkens zu plausibilisieren.

MacIntyre plädiert entschieden für die zweite Alternative. Im Rückgriff auf Aristoteles möchte er zeigen, dass eine tugendethische Erneuerung der Moralphilosophie möglich ist. Zwar bedürfe auch das aristotelische Denken durch seine Abhängigkeit von einer inzwischen obsoleten metaphysischen Biologie einer Transformation, doch könne eine Neuformulierung des Tugendbegriffs mithilfe der Kategorien "Praxis", "narrativer Einheit" und "Tradition" dazu beitragen, die gegenwärtige Krise der Moral(-philosophie) zu beheben. Angesichts der weit fortgeschrittenen Ausbreitung emotivistischer Einstellungen innerhalb der westlichen Gesellschaften sei die Rückgewinnung eines objektiven Moralverständnisses zunächst aber nur in kleineren Gemeinschaften zu erwarten, innerhalb sich deren entsprechende Praxisformen entwickeln könnten.

Ein falscher Gegensatz

Es ist wenig überraschend, dass diese eingängig geschriebene, aber zugleich durchaus provozierende Studie in Fachkreisen auf ein geteiltes Echo gestoßen ist. Einerseits ist nicht zu bestreiten, dass es MacIntyre gelungen ist, das Interesse an der Tugendethik wenn schon nicht neu zu entfachen, so doch erheblich zu verstärken. Andererseits sind manche seiner Überlegungen zu Recht auch auf strikte Ablehnung gestoßen. Aus der Fülle möglicher Kritikpunkte seien nur drei Einwände kurz benannt:

Erstens arbeitet MacIntyre mit einem simplen dreigliedrigen Phasenmodell ethischer Theoriebildung: gesunder Ursprung in der Antike – rationalistische Verflachung in der Aufklärung – daraus resultierende Krise in der Gegenwart. Dieses Modell wird der Vielschichtigkeit und Differenziertheit ethischen Denkens in keiner dieser Epochen gerecht.

Zweitens gleicht seine einseitig negative Darstellung der europäischen Aufklärung im Allgemeinen und der kantischen Moralphilosophie im Besonderen weithin einer Karikatur, die die berechtigten Anliegen und Vorzüge gerade dieser Periode bewusst ausblendet, um zu vermeiden, dass seine Krisenrhetorik nicht schon auf den ersten Blick fraglich erscheint.

Da eine umfassende Moraltheorie sowohl über geeignete Strategien der Normenbegründung als auch über gute charakterliche Grundhaltungen zu reflektieren hat, ist es weder sinnvoll, beide Themenbereiche gegeneinander auszuspielen noch eine logische Prioriät des Tugendbegriffs zu behaupten, die gerade im Blick auf das aristotelische Denken nicht zu rechtfertigen ist.

Drittens ist auch die für sein Denken zentrale antagonistische Gegenüberstellung von Normen- und Tugendethik wenig überzeugend. Da eine umfassende Moraltheorie sowohl über geeignete Strategien der Normenbegründung als auch über gute charakterliche Grundhaltungen zu reflektieren hat, ist es weder sinnvoll, beide Themenbereiche gegeneinander auszuspielen noch eine logische Prioriät des Tugendbegriffs zu behaupten, die gerade im Blick auf das aristotelische Denken nicht zu rechtfertigen ist. Dies gilt umso mehr, als seine eigene Neuformulierung des Tugendbegriffs in Ermangelung eines normativen Elementes in der Gefahr steht, einem Traditionalismus das Wort zu reden.

Der Verdacht, sein kommunitaristischer Ansatz führe letztlich wider Willen in einen unkrititischen Relativismus, hat MacIntyre dazu veranlasst, seine Überlegungen in drei späteren Monografien näher zu entfalten und weiterzuentwickeln. Im 1988 erschienenen Buch Whose Justice? Which Rationality? widmete er sich den gerechtigkeitsethischen Implikationen und den rationalitätstheoretischen Grundlagen moralphilosophischer Theoriebildung. In den 1990 unter dem Titel Three Rival Versions of Moral Enquiry publizierten Gifford Lectures analysiert er die Beziehungen zwischen inkommensurablen Traditionssystemen. Seine letzte größere Abhandlung Dependent Rational Animals. Why Human Beings Need the Virtue (1999) stellt eine Zusammenfassung seiner tugendethischen Reflexionen dar, die eine verstärkte Auseinandersetzung mit der ganzheitlichen thomanischen Anthropologie erkennen lässt.

Seine Analysen sind selbst dann durchgehend anregend und lehrreich, wenn man ihren Ergebnissen nicht in allen Punkten zuzustimmen vermag.

Alasdair MacIntyre war ein überaus anregender, streitbarer Denker, der seit seiner Konversion zum Katholizismus in den Achtzigerjahren nicht davor zurückschreckte, auf tiefgreifende Probleme der Gegenwartskultur hinzuweisen. Auch wenn man ihm den Vorwurf nicht ersparen kann, dabei gelegentlich über das Ziel hinausgeschossen zu haben, wird das gelegentlich bemühte Klischee des katholischen Traditionalisten dem gedanklichen Reichtum seines Denkens nicht gerecht. Seine Analysen sind selbst dann durchgehend anregend und lehrreich, wenn man ihren Ergebnissen nicht in allen Punkten zuzustimmen vermag. Am 21. Mai ist MacIntyre hochbetagt verstorben.

 

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