Es gibt abscheuliche Verbrechen, die zum Himmel schreien. Sexueller Missbrauch an Minderjährigen, der im Verborgenen begangen, dann systematisch vertuscht und nie bereut wird. Attentate aus dem Hinterhalt, die Unschuldige aus dem Leben raffen und nach Vergeltung rufen. Das Unbehagen an einer allzu milden Theologie der Barmherzigkeit hat hier sein Recht. Im Namen der Opfer wird der Ruf nach Aufrichtung der Gerechtigkeit geäußert. Ja, in der Theologie der Gegenwart gibt es neuerdings wieder Stimmen, die für eine Revitalisierung ewiger Höllenstrafen votieren, als sei die heilsuniversalistische Wende durch das Zweite Vatikanische Konzil keine Errungenschaft gewesen.
Der amerikanische Influencer und Unterstützer der MAGA-Bewegung Charlie Kirk ist am 10. September in Utah auf offener Bühne erschossen worden. Seine Frau und seine Kinder haben den blutigen Mord mit eigenen Augen ansehen müssen. Und nun das Erstaunliche: Erika Kirk hat bei der Gedenkfeier am Sonntag nicht – wie viele Anhänger ihres Mannes – umgehend die Todesstrafe für den jungen Attentäter gefordert. Sie flehte auch nicht den Richtergott an, er möge den feigen Schützen verdammen und mit ewigen Höllenstrafen belegen. Sie widerstand der Versuchung zum Neo-Infernalismus, der das Jüngste Gericht keck vorwegnimmt, wenn er Täter schon hier und heute meint verdammen zu können. Er ist deshalb so bedrückend, weil er die Zerrüttung von Täter-Opfer-Konstellationen verstetigt und die Hoffnung auf Rettung limitiert. Die junge Witwe sagte:
"Mein Mann Charlie wollte junge Männer retten, genau wie denjenigen, der ihm das Leben genommen hat … Am Kreuz sagte unser Erlöser: 'Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.' Diesem Mann – diesem jungen Mann – vergebe ich. Ich vergebe ihm, weil Christus das auch getan hätte. Und weil Charlie das auch getan hätte."
Und sie fügt hinzu:
"Die Antwort auf Hass ist nicht Hass. Die Antwort – das wissen wir aus dem Evangelium – ist Liebe. Immer Liebe. Liebe für unsere Feinde. Liebe für diejenigen, die uns verfolgen."
Das ist ein eindrückliches Zeugnis. Gewiss kann Erika Kirk nicht im Namen ihres Mannes Vergebung aussprechen, seine Stimme ist definitiv verstummt. Auch wusste der Attentäter wohl, was er tat, als er den politisch motivierten Mord verübte. Aber der Täter ist mehr als die Summe seiner Untaten. Daran erinnert die Bereitschaft zur Vergebung – und das Votum der jungen Witwe zeugt (bei aller berechtigten Kritik an den provokanten Einlassungen ihres Mannes und an der politischen Inszenierung der Gedenkveranstaltung) davon, dass sie die jesuanische Feindesliebe verstanden hat, die ja oft als Zumutung oder Überforderung kritisiert wird. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt, von Hass und Gegenhass wird durch Gewaltverzicht unterlaufen. Niemand kann überlebenden Opfern oder Angehörigen von Opfern die Liebe zu den Peinigern abverlangen. Vergebung ist ein Freiheitsgeschehen, das nicht erpresst werden kann. Aber das Verzeihen gerade des Unverzeihbaren ist eine größere Möglichkeit der Freiheit, eine Gabe, die aus der Communio mit Jesus Christus erwachsen kann. "Das Opfer soll seinen Schlächter lieben. Ein monströser Satz. Aber einer, der unergründliches Licht verbreitet", hat der jüdische Literaturwissenschafter George Steiner treffend notiert.
Vergebung ist ein Freiheitsgeschehen
Symptomatisch bei der Gedenkfeier war aber auch das offenherzige Gegenzeugnis von Präsident Donald Trump, der sich für seine Politik so gerne auf christliche Werte und Symbole beruft:
"Da war ich anderer Meinung als Charlie. Ich hasse meinen Gegner und wünsche ihm nicht das Beste. Es tut mir leid, Erika …, aber ich kann meinen Gegner einfach nicht ausstehen."
Trump propagiert offen den Hass des politischen Gegners und folgt damit eher der Losung von Carl Schmitt, der den Begriff der Politik an klare Freund-Feind-Unterscheidungen bindet. Kann aber Hass des politischen Gegners Kompass sein in einer polarisierten und krisengeschüttelten Welt, die sich nach Frieden und Gerechtigkeit sehnt?