Dass sie eine "gemäßigte Position" vertrete, aus der "Mitte der Gesellschaft" heraus spreche, das hat Frau Brosius-Gersdorf, die Juristin, deren Wahl zur Bundesverfassungsrichterin am Widerstand von Unionsabgeordneten vorerst gescheitert ist, am Dienstag in der Sendung von Markus Lanz mehrfach betont. Ihre Positionen würden falsch dargestellt, sagte die Juristin ein ums andere Mal, das gelte insbesondere für ihre Haltung zum Schwangerschaftsabbruch.
Grünen-Politiker Konstantin von Notz sprach auf "X" gar von einer "gezielten Kampagne", möglicherweise mit "Finanzierung und Unterstützung aus dem Ausland", um politische Kompromisse zu hintertreiben und staatliche Institutionen verächtlich zu machen. Die Abgeordneten der Union haben sich, so lautet das Narrativ, blauäugig instrumentalisieren lassen, und leider seien auch Vertreter der katholischen Kirche auf das abgekartete Spiel hereingefallen.
Wenn der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, nun mit Blick auf kirchliche Äußerungen sagt, die Debatte sei "schiefgelaufen", man könne keinen "Kulturkampf" gebrauchen und Personalfragen müssten von der Politik gelöst werden, dann befeuert er nicht nur dieses Kampagnen-Narrativ, sondern fällt auch seinen Amtsbrüdern, dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken, seinem eigenen Beauftragten in Berlin sowie Akteuren wie dem Malteser-Hilfsdienst oder dem Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen in den Rücken.
Einen Shitstorm, wie Brosius-Gersdorf ihn erlebt hat, wünscht man niemandem. Das heißt aber nicht, dass jeder, der Kritik an den Positionen der Juristin anmeldet, deshalb zum Mitverantwortlichen einer Schmutzkampagne wird und besser schweigen sollte.
Natürlich: Einen Shitstorm, wie Brosius-Gersdorf ihn erlebt hat, wünscht man niemandem. Das heißt aber nicht, dass jeder, der Kritik an den Positionen der Juristin anmeldet, deshalb zum Mitverantwortlichen einer Schmutzkampagne wird und besser schweigen sollte. Mit einem solchen Argument lässt sich jede Kritik ersticken.
Eigentlich dürfte es doch niemanden verwundern, dass es aus den Reihen der Union und der katholischen Kirche Vorbehalte gegen die Personalie gab – auch ohne Kampagne oder ausländische Verschwörung.
Denn die Juristin war federführend an der "Kommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" beteiligt, die von der Ampel-Koalition eingesetzt worden war und weitreichende Vorschläge zur Liberalisierung des Abtreibungsrechts erarbeitet hatte. Die Zeichen standen auf Revision: Brosius-Gersdorf zeigte sich überzeugt, dass das Bundesverfassungsgericht bei zukünftigen Entscheidungen zum Thema nicht an seine bisherigen Urteile gebunden wäre. Das passte zum erklärten Ziel der damaligen Bundesfamilienministerin von den Grünen, Lisa Paus, den Paragrafen 218 komplett aus dem Strafgesetzbuch zu streichen.
Als Abgeordnete von Grünen, SPD und Linken kurz vor der Bundestagswahl noch einen Gesetzesentwurf zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs durchs Parlament bringen wollten, trat Brosius-Gersdorf abermals in Erscheinung – als Sachverständige, die im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages dem Gesetzesentwurf die Verfassungskonformität bescheinigte. Nach der Bundestagswahl wurde die SPD Koalitionspartnerin der Union – und präsentierte Brosius-Gersdorf als Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht. Seltsam, dass die Unionsführung angesichts dieser Vorgeschichte nicht damit rechnete, dass es bei den eigenen Leuten Widerstand gegen die Personalie geben könnte.
Zerrbilder
Nun verteidigt sich die Juristin gegen die Kritik mit dem Argument, sie vertrete in Wirklichkeit eine "gemäßigte Position" – und stellt damit die Kritiker in eine "extreme" Ecke. Und sie sagt, in der Öffentlichkeit sei ein "Zerrbild" ihrer Positionen gezeichnet worden. So steht es in einer Stellungnahme, die am Tag der Lanz-Ausstrahlung über eine Anwaltskanzlei verbreitet wurde.
Liest man diese Stellungnahme, kann man sich allerdings fragen, ob Brosius-Gersdorf darin nicht selbst ein "Zerrbild" ihrer eigenen Positionen liefert – und wesentliche Aspekte der Äußerungen, die den Anlass für die gegenwärtige Kritik gegeben haben, unerwähnt lässt. Ihre Position erscheint so "gemäßigter" als sie in Wirklichkeit ist.
Man reibt sich verwundert die Augen: Ist Brosius-Gersdorf am Ende eine Lebensschützerin und alles war tatsächlich nur ein großes Missverständnis?
In der Stellungnahme sagt Brosius-Gersdorf, es sei falsch, dass sie "dem ungeborenen Leben die Menschenwürdegarantie abspräche und für einen Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt sei". Vielmehr sei sie "stets dafür eingetreten", dass "dem menschlichen Leben ab Nidation das Grundrecht auf Leben" zustehe. Man reibt sich verwundert die Augen: Ist Brosius-Gersdorf am Ende eine Lebensschützerin und alles war tatsächlich nur ein großes Missverständnis?
In Wirklichkeit, so Brosius-Gersdorf in der Stellungnahme weiter, habe sie nur auf ein "verfassungsrechtliches Dilemma" hinweisen wollen, das entstehe, "wenn man dem ungeborenen Leben ab Nidation die Menschenwürdegarantie zuerkennt wie dem Mensch nach Geburt". Wenn man nämlich davon ausgehe, dass die Menschenwürde nicht abgewogen werden könne, wäre ein Schwangerschaftsabbruch unter keinen Umständen zulässig, auch nicht ein "Abbruch wegen medizinischer Indikation bei Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Frau". Die Lösung dieses Dilemmas könne nur lauten, "dass entweder die Menschenwürde doch abwägungsfähig ist oder für das ungeborene Leben nicht gilt." Sie habe hier einen "notwendigen verfassungsdogmatischen Erörterungsbedarf" aufzeigen wollen.
Das klingt ziemlich theoretisch und soll vermutlich den Leser einschüchtern: Wer, sei er nun Bischof oder CDU-Abgeordneter, will sich schon anmaßen, in anspruchsvollen verfassungsdogmatischen Erörterungen mitmischen zu können? Vor allem aber verschleiert diese Stellungnahme, was das eigentliche Ziel der Überlegungen von Brosius-Gersdorf ist: nämlich Argumente für die Rechtmäßigkeit eines liberaleren Abtreibungsrechts zu präsentieren und eine Revision der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufzugleisen.
Ein Dilemma?
Aber der Reihe nach. Das angebliche "verfassungsrechtliche Dilemma", von dem Brosius-Gersdorf in der Stellungnahme spricht, bildet tatsächlich eine wesentliche Grundlage ihrer Argumentation. Ihre Überlegungen dazu hat sie im Jahr 2024 in dem von ihr verantworteten Teil des Berichts der "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" und im gleichen Jahr in einem Fachartikel in der Festschrift für ihren akademischen Lehrer Horst Dreier ausgeführt.
Das Argument lautet, einfach gesagt, wie folgt: Menschenwürde gilt als nicht "abwägungsfähig". Wenn Menschenwürde auch dem Ungeborenen zukommt, dann kann sie nicht mit der Menschenwürde der Mutter abgewogen werden. Konsequenterweise müsste Abtreibung unter keinen Umständen zulässig sein. Sie ist aber bislang unter bestimmten Bedingungen sehr wohl zulässig: Brosius-Gersdorf verweist auf die "medizinische Indikation", also die Lebens- und Gesundheitsgefahr für die Schwangere (die in der Praxis mittlerweile sehr weit ausgelegt wird). Also liegt, wenn man wie Brosius-Gersdorf rechtspositivistisch denkt, nahe, dass die Menschenwürde für das Ungeborene eben nicht gilt. Daher der zuletzt viel zitierte Satz, den sie bei der Anhörung im Rechtsausschuss sagte: "Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt."
Das klingt kontraintuitiv – und sorgte darum für große Irritationen. Und tatsächlich kann man sich fragen, wie überzeugend diese Argumentationsfigur eigentlich ist.
Denn es gibt zumindest einen Fall, in dem bei einer Kollision des Lebensrechts geborener Menschen, also von Menschen mit Menschenwürde, eine Tötung gerechtfertigt ist: nämlich bei der Notwehr. Nach der Logik von Brosius-Gersdorf müsste man dem Angreifer im Moment seines lebensbedrohlichen Angriffs die Menschenwürde absprechen, um sich gegen ihn verteidigen zu dürfen.
Außerdem geht Brosius-Gersdorf in ihrem Beitrag in der erwähnten Festschrift kurioserweise selbst davon aus, dass die Menschenwürde des Ungeborenen – wenn es sie denn hätte – von einer Abtreibung gar nicht betroffen wäre – und führt damit ihre eigene Argumentation ad absurdum. Das Ungeborene sei bei seiner Abtreibung, so Brosius-Gersdorf, gar nicht Subjekt staatlichen Handelns, deswegen komme es auch zu keiner Menschenwürdeverletzung:
"Ein Schwangerschaftsabbruch dürfte die Menschenwürde des Embryos/Fetus schon deshalb nicht verletzen, weil er nicht vom Staat, sondern von der Frau ausgeht."
Das ist ein aberwitziges Argument, weil, wie Matthias Brodkorb in "Cicero" schreibt, die Grundrechte zwar "in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat sind", aber zugleich auch eine "Schutzpflicht des Staates" auslösen. "Gerade weil der Staat der Wahrer der Grundrechte ist, ist es zugleich seine Pflicht, menschenwürdewidriges Verhalten unter seinen Bürgern zu unterbinden", so Brodkorb.
Die Argumentation der Juristin ist jedenfalls widersprüchlich: Denn wenn die Menschenwürde durch eine Abtreibung gar nicht verletzt würde, dann gäbe es ja auch kein Dilemma.
Entkopplung
Das alles ist aber nur der Ausgangspunkt, um etwas anderes zu erreichen: nämlich eine Einschränkung des Lebensrechts des Ungeborenen.
Aber, aber, werden Sie vielleicht einwenden, Brosius-Gersdorf hat doch in ihrer Stellungnahme eindeutig festgehalten, dass sie "dem ungeborenen Leben ab Nidation das Grundrecht auf Leben" zugesteht! (Und so hat sie es sicher auch dem Bamberger Erzbischof in einem Telefonat erklärt, der seine diesbezügliche Kritik anschließend zurücknahm und sagt, er sei "falsch informiert" gewesen.)
Ja, schon. Was in der Stellungnahme allerdings nicht steht: Mangels Menschenwürde handelt es sich beim Lebensrecht des Ungeborenen nicht um ein absolut geltendes, sondern um ein abgestuftes Recht, abgestuft in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand des Ungeborenen: Je schwächer, desto weniger schutzwürdig ist nach dieser Logik das menschliche Leben.
Die Grundlage für diese Auffassung ist die Trennung von Menschenwürde und Lebensrecht, die Brosius-Gersdorf mit dem Dilemma-Argument begründen will und mit einem zweiten Argument abstützt. In der Dreier-Festschrift schreibt sie:
"Die Annahme, dass die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert, ist ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss. Menschenwürde und Lebensschutz sind rechtlich entkoppelt".
Ein naturalistischer Fehlschluss – das ist laut einer bestimmten philosophischen Tradition ein unzulässiger Schluss vom Sein auf das Sollen. Nur weil menschliches Leben existiert, meint Brosius-Gersdorf, heißt das noch lange nicht, dass es auch ein unbedingtes Recht hat, zu existieren.
Dagegen hat Matthias Brodkorb bei "Cicero" eingewandt:
"In Sachen Lebensrecht wird nicht vom seienden auf das sollende Leben geschlussfolgert. (…) Das Lebensrecht des Menschen folgt vielmehr aus dem Gebot der Menschenwürde. Diese ist selbst ein Sollen – so wie das Recht auf das eigene Leben. Es wird also vom Sollen auf ein Sollen geschlossen. Das ist weder ein Widerspruch noch ein naturalistischer Fehlschluss. Das Lebensrecht lässt sich weder moralisch noch rechtlich von der Menschenwürde 'entkoppeln'."
Ist die Entkopplung jedenfalls einmal postuliert, dann ist der Weg offen für einen abgestuften Lebensschutz. Und wie "abgestuft" dieser Schutz ist, lässt sich bei der Juristin im Detail nachlesen.
Im Kommissionsbericht schreibt sie, dass in der Frühphase der Schwangerschaft, also in den ersten 12 Wochen, ein Recht der Schwangeren auf Abtreibung bestehe, der Gesetzgeber sie also nicht, wie bisher, als rechtswidrig, aber straffrei, qualifizieren dürfe, sondern als rechtmäßig definieren müsse. Bis zur 22. Woche, dem Zeitpunkt der "extrauterinen Lebensfähigkeit" – also dem Zeitpunkt, an dem nach derzeitigem medizinischen Stand eine Frühgeburt in einem Brutkasten überleben kann – liege es im Ermessen des Gesetzgebers, ob er die Abtreibung für rechtmäßig erklärt. Für die mittlere und die späte Phase der Schwangerschaft geht die Juristin von einer grundsätzlichen Rechtswidrigkeit aus.
Allerdings: Ob diese rechtswidrigen Spätabtreibungen auch strafbewehrt sein müssen – das hält Brosius-Gersdorf nicht für zwingend. Lesen wir genau nach.
In der Dreier-Festschrift schreibt sie:
"Eine Strafbewehrung des rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruchs in der Spätphase der Schwangerschaft ist zulässig. Ob sie verfassungsrechtlich geboten ist, erscheint weniger eindeutig."
Im Kommissionsbericht heißt es dann an einer Stelle schon etwas apodiktischer:
"Eine Strafbewehrung des rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruchs ist zulässig, wenngleich nicht geboten."
Und an andere Stelle ist dort zu lesen:
"Der Einsatz der Kriminalstrafe bei grundsätzlich unzulässigen (rechtswidrigen) Schwangerschaftsabbrüchen in der Spätphase und ggf. auch in der mittleren Phase der Schwangerschaft liegt in der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers."
Man kann sich also fragen, wie Brosius-Gersdorf als Verfassungsrichterin votieren würde, wenn der Gesetzgeber indikationslose Spätabtreibungen irgendwann als rechtswidrig, aber straffrei qualifizieren würde. Die Antwort müsste konsequenterweise lauten, dass für sie eine solche Gesetzgebung verfassungsrechtlich zulässig wäre.
Was heißt "Lebensrecht"?
Brosius-Gersdorf sagt, sie bestreite keinesfalls das Lebensrecht des Ungeborenen und sei nicht "für Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt". Sehr wohl aber vertritt sie ein stark eingeschränktes, abgestuftes Lebensrecht des Ungeborenen und hält eine mögliche Straffreiheit von Abtreibungen bis zur Geburt für verfassungsgemäß. Damit wäre die Tür weit aufgestoßen für ein extrem permissives Abtreibungsrecht, in dem ein Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens nurmehr theoretisch gegeben wäre.
Der Grund für die selektive Selbstrezeption könnte sein, dass eine solche Position, in Gänze dargestellt, doch als nicht ganz so "gemäßigt" und aus der "Mitte der Gesellschaft" kommend wahrgenommen würde.
All das bleibt in der Verteidigung von Brosius-Gersdorf unerwähnt. Der Grund für die selektive Selbstrezeption könnte sein, dass eine solche Position, in Gänze dargestellt, doch als nicht ganz so "gemäßigt" und aus der "Mitte der Gesellschaft" kommend wahrgenommen würde.
Ja, man muss aufpassen, nicht auf verzerrte Darstellungen hereinzufallen – und auch nicht auf verzerrte Selbstdarstellungen.