Protest, Ideologie oder Idiotie?Anti-Israel-Aktionen an der Universität Wien

Am Tag nach dem 7. Oktober demonstrieren junge Menschen an der Universität Wien gegen Israel – und erklären alle zu Mittätern, die nicht genauso denken wie sie. Jedem steht frei, die Politik Israels zu kritisieren. Doch wenn jemand in der Pflicht steht, zweimal hinzusehen und die ganze Geschichte zu berücksichtigen, dann sind es Österreicher und Deutsche.

Anti-Israel-Proteste an der Universität Wien
Studierende demonstrieren am 8.10.2025 gegen eine Partnerschaft der Universität Wien mit der Hebrew University Jerusalem.© Mirjam Schilling

Wien, den 8. Oktober 2025, 9.30 Uhr: Wie jeden Morgen atmet etwas in mir auf, wenn ich die letzten Meter der düsteren U-Bahn-Station am Schottentor bestreite und sich das prachtvolle Gebäude der Universität vor mir auftut. Es ist ein strahlender Morgen. Die Herbstsonne taucht die Ringstraße in warmes, goldenes Licht. Mein Uni-Tag beginnt mit "Exegese des Alten Testaments". Ich sinniere gerade über meine eingerosteten Hebräisch-Kenntnisse, als mich ungewohnte Menschenmassen aus meinen Gedanken reißen. Während ich mir einen Weg durch verwirrt dreinschauende Studenten bahne, bemerke ich, dass der rechte Seiteneingang der Universität blockiert wird.

Ich dränge mich nun in die entsprechende Richtung, um mir die Sache genauer anzusehen. Es ist keine Neugier, nein. Denn ich ahne bereits, was hier los ist. Studenten versperren den Eingang mit einem Banner, auf dem geschrieben steht: "UNI WIEN IS FUNDING THE IDF. END HUJI PARTNERSHIP." "HUJI" steht für Hebrew University of Jerusalem, "IDF" für "Israeli Defence Forces". Der Banner zeigt neben dem Schriftzug zwei Raketen, die auf die Abkürzung "IDF" gerichtet sind.

Konstruierte Narrative

Da ertönen vor dem Haupteingang der Universität auch schon die Parolen. Eine Frauenstimme grölt in ein Megafon: "Schande, Schande, Uni Wien. Partner eines Genozids." Die Umstehenden wiederholen den Spruch. Weiter geht es mit "Disclose. Divest. We will not stop, we will not rest".

Diese Gruppe ist offensichtlich nicht gekommen, um zu reden.

Ich höre mir die Parolen einen Moment lang an. In mir steigt der Impuls auf, irgendetwas zu sagen, oder zu tun. Aber was? Diese Gruppe ist offensichtlich nicht gekommen, um zu reden. Mit einem Gefühl von Ohnmacht gehe ich weiter. Ich gehe zunächst an einer Person vorbei, die Flugblätter verteilt. Nach wenigen Schritten drehe ich doch um und reiße der Demonstrantin – offen gestanden etwas lieblos – einen Zettel aus der Hand. Es interessiert mich ja doch, was darauf steht. Die Abläufe der Universität Wien würden unterbrochen, so verlautet das Flugblatt, weil sie Komplizin in einem Genozid sei. Durch ihre strategische Partnerschaft mit der Hebrew University of Jerusalem beteilige sie sich an einem Völkermord, unterstütze Apartheid und illegale Besatzung. "In the face of genocide and colonialism, civil disobedience is our duty", so das abschließende Statement.

Ich gehe zu meinem Tagesgeschäft über. Doch die Leichtigkeit dieses sonnigen Herbstmorgens ist verflogen.

Als ich nach der Vorlesung die Universität wieder verlasse, hat sich die Gruppe vergrößert. Spontane Sympathisanten? Es bleibt offen. Ich habe es wieder eilig, dennoch begebe ich mich kurz zum Schauplatz des Spektakels zurück. Etwas drängt mich innerlich, nicht wegzusehen. Nun erklingen neue Parolen: "Free free Palestine" und "Uni Wien, you can’t hide, you’re complicit in genocide".

Was heroisch begann, endet in einem großen Polizeiaufgebot. Kurz vor 13 Uhr erreiche ich nochmals den Ort des Geschehens. Dutzende Polizisten stehen um die nun wieder deutlich dezimierte Gruppe von Aktivisten. Der Eingang, über den ich üblicherweise die Universität betrete, ist verriegelt. Ein Sprecher der Polizei verkündet durch ein Megafon: "Es ist 12.58 Uhr. Hier spricht die Wiener Polizei. Die Demonstration ist aufgelöst. Diejenigen, die einen Ausweis dabeihaben und ihn den Polizisten und Polizistinnen aushändigen, können und müssen anschließend die Örtlichkeit verlassen. Wenn Sie diese Anweisung nicht befolgen, werden Sie festgenommen."

Mich lässt das Ereignis nicht los. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich empfinde Scham für mein Land. Am Tag zuvor gedachten wir der Opfer und Geiseln des 7. Oktobers, doch dieses Unrecht wird ausgeblendet. Ich frage mich – zum wiederholten Male – was Studenten heute an Universitäten lernen, wenn sie keine Spur von Differenziertheit an den Tag legen. Ist hier nicht eine Unfähigkeit zu beobachten, einen Schritt zurückzutreten und ein Problem mit etwas Nüchternheit zu betrachten? Objektivität, Genauigkeit und ein differenzierter Umgang mit den eigenen Vorurteilen sollte doch das Fundament wissenschaftlicher Praxis sein.

Junge Menschen jagen Utopien hinterher: ein freies Gaza ergo eine gerechte Gesellschaft für die Palästinenser? Klingt nach einer Hoffnung auf politische Spontanheilung.

Dass es immer Menschen geben wird, deren Ansichten konträr zu den meinen stehen, ist ein Preis, den ich um unserer demokratischen Gesellschaft willen gerne zahle. Doch im zunehmenden Kampf der Ideologien geht uns der feste Boden unter den Füßen verloren, der, so glaube ich, eine Voraussetzung ist, um argumentativ und vernünftig miteinander an einem Tisch zu sitzen und zu diskutieren.

Junge Menschen jagen Utopien hinterher: ein freies Gaza, ergo eine gerechte Gesellschaft für die Palästinenser? Klingt nach einer Hoffnung auf politische Spontanheilung. Nicht selten sind es queere Menschen, die sich für ein Regime starkmachen, das sie womöglich selbst in Lebensgefahr bringen würde. Manche Pro-Palästina-Aktivisten scheinen im Kampf für die Opfer all ihre Prinzipien preiszugeben. Als Täter gilt, wer es ihnen nicht gleichtut. So wird die Universität Wien (so wie andere Einrichtungen und Instanzen, die von Bewegungen wie dem BDS-Movement adressiert werden) zum Komplizen in einem Genozid stilisiert. Absurde, konstruierte Narrative bestimmen die Debatten: "Uni Wien is funding the IDF". Von der Einseitigkeit der Opferidentifizierung ganz zu schweigen.

The Struggle is real

Ich lese gerade "Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität" von Charles Taylor. Der kanadische Philosoph weist auf eine wesentliche Herausforderung der Moderne hin: die Krise der Moral und ihrer Begründung. Für Taylor ist "die Orientierung am Guten kein fakultativer Zusatz – keine Sache, die wir nach Belieben tun oder lassen können – […] sondern eine Bedingung dafür, dass man ein Selbst mit eigener Identität sein kann."

Er führt das Bild eines Rahmens ein, den wir uns zwar selbst setzen, der jedoch für die Orientierung des Menschen im Leben unerlässlich ist. Taylor zieht einen Vergleich zwischen der Abwesenheit bzw. Leugnung eines solchen Rahmens und der Situation eines Menschen, der die Orientierung im Raum verliert. Er weiß nicht, in welche Richtung er steuern soll.

Wie oft ringe ich heute um Argumente, um der heutigen Zeit meine Ansichten verständlich zu machen. Weil ich nicht verstehe, in welchem Rahmen wir uns, nun gesellschaftlich verstanden, bewegen. Als Reaktion auf dieses Dilemma häuft sich das Schweigen.

Als Millenial kann ich dazu nur sagen: The struggle is real. Wie oft ringe ich heute um Argumente, um der heutigen Zeit meine Ansichten verständlich zu machen. Weil ich nicht verstehe, in welchem Rahmen wir uns, nun gesellschaftlich verstanden, bewegen. Als Reaktion auf dieses Dilemma häuft sich das Schweigen. Der Vorfall an der Universität Wien hat mich jedoch daran erinnert, dass dies keine Option sein darf. Selbst, wenn mir aus Sicht der Andersdenkenden die einschlägigen Argumente fehlen, bleibt mir – und uns – zweierlei zu tun: Widersprüche aufzeigen und, der Wahrheit verpflichtet, unsere Sicht auf die Geschichten erzählen. In einer Zeit, in der so viele Narrative herumgeistern, die – wohlwollend gesprochen – auf einer größtmöglichen Verdrehung der Wahrheit basieren, können wir der Welt auch unsere Geschichten zumuten. Selbst, wenn wir meinen, dass sie abgedroschen oder unbeliebt sind.

Meine Geschichte

Meine Schwiegereltern lebten von August 2023 bis April 2024 vorübergehend in Jerusalem. Trotz der Schreckensereignisse des 7. Oktobers und seiner Folgen entschieden sie sich, zu bleiben. Gerade sind sie wieder in Israel. Sie berichten immer wieder von ergreifenden Schicksalen, aber auch von einer Zivilcourage der israelischen Bevölkerung, die mir großen Respekt abverlangt. Es gibt unzählige Menschen, die sich um Kriegswitwen kümmern oder versuchen, den traumatisierten Soldaten sowie ihren Familien das Leben zu erleichtern. Meine Schwiegereltern haben mit Eltern um ihre Kinder gebangt, die in den Krieg ziehen mussten – und mit jenen geweint, deren Söhne und Töchter im Krieg gefallen sind. Kürzlich saßen wir mit einer israelischen Familie bei Tisch. Sie erzählten von Teenagern, die ihre Freunde im Kriegsdienst verloren hatten.

Dennoch begaben sie sich weiterhin Nacht für Nacht, freiwillig und unter größter Lebensgefahr, nach Gaza, um mit Baggern bei der Zerstörung der Hamas-Tunnelsysteme zu helfen.

Persönlich könnte ich davon erzählen, wie sehr mich meine Besuche in Israel geprägt haben. Wie beeindruckt bin ich von diesem innovativen Land, dem es trotz der enormen inneren und äußeren Konflikte gelingt, einen spürbaren Zusammenhalt zu schaffen! Ein Land, das Resilienz und Hoffnung verkörpert. Bei meinem letzten Besuch in Israel, bis wenige Tage vor dem 7. Oktober 2023, erzählte uns ein Bekannter von Wohnsiedlungen, die Israel für Palästinenser gebaut hatte. Sie standen leer, denn die extremistische Führungsschicht verbot ihren eigenen Volksangehörigen den Einzug – unter Androhung des Todes. Ein Reiseführer zeigte uns eine von Arabern bewohnte Stadt, die, seit sie von Israel verwaltet wird, wirtschaftlich floriert.

Jedem steht es frei, die Politik Israels in Frage zu stellen. Differenzierte Kritik und legitime Rückfragen sind wir einem demokratischen Rechtsstaat sogar schuldig. Ich behaupte keineswegs, dass alle Entscheidungen der israelischen Regierung per se gutzuheißen sind. Und ich leugne auch nicht die humanitäre Katastrophe, der die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen ausgesetzt ist. Doch wenn jemand in der Pflicht steht, zweimal hinzusehen und die ganze Geschichte zu berücksichtigen, dann sind es Österreicher und Deutsche. Das schulden wir unseren jüdischen Geschwistern – und dem von ihnen aufgebauten Land.

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