Es ist für mich immer wieder eine große Freude zu erleben, wie intensiv die Paare in diesen Runden das Gespräch führen, ihre Fragen, Überzeugungen und Erwartungen im Hinblick auf Ehe und Familie austauschen und sich erzählen, was ihnen die christliche Botschaft für ihr Leben und das Leben ihrer Familie bedeutet. Immer wieder berichten dabei die jungen Ehepaare, dass sie von ihren Freunden und Freundinnen gerade in ihrer so säkularisierten Gesellschaft des Ostens Deutschlands gefragt werden, warum sie überhaupt heiraten. Unser Zusammenleben habe den Staat doch eigentlich nicht zu interessieren und steuerliche und rechtliche Vorteile einer Ehegemeinschaft seien teilweise schon angeglichen an den Umgang mit Paaren, die ohne Trauschein zusammenlebten. Weiter schildern sie oft – gleichsam als Steigerung ihres Unverständnisses –, dass ihre Freunde und Freundinnen sie fragen, warum sie denn zu allem Überfluss auch noch kirchlich heiraten wollten. Diese Gespräche habe ich im Sinn, wenn ich ein wenig aufzeigen will, mit welchen gesellschaftlichen und pastoralen Herausforderungen nach meinen Erfahrungen, gerade als Erzbischof von Berlin, eine Ehe- und Familienpastoral heute konfrontiert ist. Zunächst sei der Blick auf einige gesellschaftliche Entwicklungen geworfen, ehe ich Impulse für die Ehepastoral skizzieren möchte.
Wunsch nach stabilen Beziehungen und Krise der Institution Ehe
Die Shell-Jugendstudie 2024 hat zum wiederholten Mal festgestellt: „Von all ihren Lebenszielen räumen Jugendliche stabilen Beziehungen, Freundschaften und Familie den höchsten Stellenwert ein. […] Jeweils sehr deutlich über 90 % nennen als wichtigste Lebensziele […] ‚Einen Partner haben, dem man vertrauen kann‘ oder ‚Ein gutes Familienleben führen‘“. Dieser gleichbleibend große Wunsch junger Menschen nach stabilen Beziehungen führt allerdings nicht zu mehr Eheschließungen, vielmehr ist hier ein Rückgang zu konstatieren: Wurden 2019 noch 416.000 zivile Ehen geschlossen, waren es 2024 noch 349.000, und gab es 2019 noch 38.000 katholische Trauungen, waren es 2024 noch ca. 22.500.
Diese statistisch deutliche Institutionenskepsis gegenüber der Ehe erlebe ich in Berlin, Brandenburg und Vorpommern bei einem Großteil der Menschen. Institutionen werden oft als notwendig angesehen, zugleich werden sie aber skeptisch auf ihre Machtfülle hin betrachtet und als solche verurteilt. Viele versuchen, sich möglichst distanziert zu Institutionen zu verhalten, die nach ihrer Auffassung nicht selten die Tendenz aufweisen, zu erstarren, die Vielfalt und Buntheit des Lebens zu normieren und durch Regelungszwang einzuengen. Dies gilt oft auch gegenüber der Institution der Ehe. So liegt für viele der Unterschied zur Ehe und dem Zusammenleben ohne Trauschein darin, dass sie beim Eingehen einer Ehe ein ganzes Paket von Regeln und Verpflichtungen gebündelt übernehmen müssten, während sie in ihrem eher lockeren Zusammenleben in der Auswahl dieser Regeln mehr Gestaltungsspielraum hätten, auch wenn inzwischen das Zusammenleben von Menschen außerhalb der Ehe durch viele Gesetze und Vorschriften geregelt ist und diese Beziehungen weder juristisch noch finanziell für die Beteiligten folgenlos bleiben.
Vielfältige Paar- und Ehekonzeptionen im Dialog
In meinen Gesprächen mit den Menschen wird deutlich, dass in ihrem Bewusstsein und in ihrer Sprache und damit auch inhaltlich im Verständnis der „Ehe“ sich Grundlegendes verändert hat. Heute sind es die Paare bzw. Eheleute selbst, die ihr Familienleben individuell gestalten hinsichtlich der Aufteilung von Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung, Familiengestaltung usw., und die sich durch keine Institution vorschreiben lassen, wie dies auszusehen habe. Ehe- und Paargestaltung sind multidimensional und multioptional geworden.
Zwar ist die staatliche Eheschließung auch heute noch von ihrer Intention her auf Dauer angelegt, doch könnte angesichts einer statistischen durchschnittlichen zivilen Ehedauer von 14 Jahren und 129.000 Scheidungen im Jahr 2024 der gesellschaftliche Eindruck entstehen, dass dies nicht so sein müsse. Für manche ist das Aneinanderreihen von mehreren Ehen, die sogenannte zeitverschobene Polygamie, zu einer Lebensnormalität geworden. Aus der gesellschaftlichen Realität lässt sich für viele nicht mehr der Wert der Ehe einer Bindung auf Lebenszeit ablesen. In diesem Punkt wird deutlich, dass sich die gesellschaftliche Realität weitgehend nicht mehr mit dem kirchlichen Eheverständnis deckt.
Zudem hat sich seit der Einführung der sogenannten „Ehe für Alle“ im gesellschaftlichen Diskurs das Bewusstsein bereitgemacht, dass eine Ehe nicht eine Beziehung zwischen Mann und Frau sein müsse. Schließlich ist das gesellschaftliche Eheverständnis zunehmend geprägt von Ehen und Partnerschaften von Menschen anderer Religionen und Kulturen, die bei uns eine Heimat gefunden haben und in deren Eheverständnis andere Werte, Prioritäten und Lebensweisen dominieren, als sie kirchlicherseits üblich sind. Das kirchliche Verständnis von Ehe und Familie ist für junge Menschen heute also eine Option unter vielen, wie es auf den christlichen Glauben generell zutrifft.
Herausforderungen christlicher Ehen
Als eine besondere Herausforderung erfahren wir vor allem im Osten Deutschlands, dass die meisten Eheschließungen von Katholiken mit einem Partner geschehen, der selbst keiner Religionsgemeinschaft angehört. In den meisten dieser Beziehungen spielt der Glaube – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle. Als ein starkes Potenzial zur Lebensgestaltung und als eine Hoffnungsquelle in einer gelebten Ehe kommt der christliche Glaube für die meisten dieser Paare nicht vor. Oftmals wird vielmehr die Frage des Glaubens und die Gestaltung des Lebens in der Familie im Glauben zu einem Konflikt, etwa wenn einer der Partner eine christliche Erziehung der Kinder wünscht, während der andere Partner diese deutlich ablehnt. Nach meinen Erfahrungen wird dies meistens dadurch gelöst, dass man sich auf die Formel einigt, die Kinder sollten später, wenn sie erwachsen geworden seien, selbst eine Glaubensentscheidung treffen. Bis dahin schließt man den Glauben aus dem gemeinsamen Familienvollzug aus, was in der Regel zu einer deutlichen Distanz der Kinder zu religiösen Fragen und Vollzügen führt, die oftmals in ihrem Leben als Erwachsene nicht mehr ausgeglichen werden kann.
Die vielfach dünne religiöse Prägung einer Familie verstärkt sich von Generation zu Generation dadurch, dass auch in Familien, in denen die Eltern einer Kirche oder sogar einer Konfession angehören, ihre Kinder immer weniger in den christlichen Glauben einführen, religiöses Brauchtum in Familien immer weniger gelebt wird und sie kaum noch am christlichkirchlichen Leben einer Gemeinde und einer Pfarrei teilnehmen, das sie selbst oftmals bei ihren Eltern schon nicht mehr erlebt haben. Eine wesentliche und antreibende Rolle in dieser Entwicklung spielt dabei auch, dass viele Familien nicht mehr mit der kirchlichen Gemeinschaft etwa durch die Teilnahme an kirchlichen Verbänden, Gruppierungen und Familienkreisen verbunden sind, die ihnen Motivation, Anregung und Herausforderung sein könnten, ihr Leben als Christ zu gestalten. Solche Gemeinschaften fallen als Erfahrungsräume und als inspirierende Anregungsorte für die Gestaltung des christlichen Lebens für sehr viele Familien damit weitgehend aus.
In der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung betonen 73 Prozent der katholischen Befragten, dass die Mutter einen großen Einfluss auf ihre religiöse Sozialisation hatte, und 51 Prozent geben dies für den Vater an. Dies unterstreicht den hohen Stellenwert gerade der Familie für die religiöse Erziehung und zeigt zugleich, dass der Verlust einer persönlichen Gottesbeziehung und Gottesprägung bei vielen Menschen in unserer Gesellschaft einen ihrer wesentlichsten Gründe im Verlust der Dimension des religiösen Lebens in vielen unserer Familien hat.
Impulse für eine Ehe- und Familienpastoral
Die Ehe- und Familienpastoral unserer Kirche steht vor diesen und weiteren Herausforderungen, die sich in unserer Gesellschaft und in unseren Ehen und Familien und in anderen Konstellationen des Zusammenlebens von Menschen ergeben. Sie muss die gegebenen gesellschaftlichen Änderungen des Verständnisses von Ehe und Familie wahrnehmen und hinterfragen, Paare in ihren unterschiedlichen Situationen begleiten und die christliche Option wachhalten.
Die Kirche muss sich dabei besonders den benachteiligten Familien und Paaren widmen. Der 2025 veröffentlichte 10. Familienbericht der Bundesregierung zeigt, dass die 1,69 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland deutlich weniger ökonomische Mittel zur Verfügung haben als Paarfamilien. Kinder- und Familienarmut breiten sich immer mehr aus. Bei Familien mit Migrations- und Fluchthintergrund kommt zudem die Unsicherheit der Familienzusammenführung und zahlreiche Bedrängnisse familiärer, ökonomischer, beruflicher, politischer und juristischer Art hinzu.
Die materielle und physische Not vieler Ehen und Familien ist für die Kirche und ihre Ehe- und Familienpastoral eine Herausforderung höchsten Ranges. Auch die hohe Nachfrage bei den Beratungsstellen im Bereich von Ehe und Familien legt davon ein Zeugnis ab. Insbesondere die landesweit über 300 Stellen der Ehe-, Familien- und Lebensberatung (EFL), die oftmals von staatlicher Seite nicht oder kaum gefördert werden, sind als qualifizierte Orte der Unterstützung von Eheleuten und Familien hoch angesehen und notwendig.
Die Kirche steht zudem aufgrund der heutigen religiösen und kirchlichen Situation vor großen pastoralen und pastoraltheologischen Herausforderungen und theologischen Reflexionsnotwendigkeiten: Weitgehend ungeklärt ist wohl für die meisten innerhalb und außerhalb der Kirche, was eine kirchlich-sakramentale Ehe meint und was sie für sie bedeuten kann. Die Deutsche Bischofskonferenz hat ihr Eheverständnis in dem Flyer herausgegeben: „Trauen Sie sich! Zehn gute Gründe für die Ehe“. Unter Punkt acht wird die Sakramentalität der Ehe thematisiert: „Für die katholische Kirche ist die Liebe von Mann und Frau in der Ehe ein heiliges Zeichen, ein Sakrament. Darin ist die Liebe Christi zu seiner Kirche wirksam und fordert die Treue der Menschen ein. Das mutet etwas zu und entlastet zugleich.“
Dass die sakramentale Ehe etwas mit Berufung zu tun hat, dass sie ein Ort der Gegenwart Gottes ist und dass sie unter der Verheißung des Evangeliums steht und ein Lebensort von Kirche ist, ist für die allermeisten Menschen fremd und undurchschaubar. In dieser Situation stellt sich der Kirche die Herausforderung und die Chance, das kirchliche Eheverständnis profiliert und einladend in ihre Verkündigung und in den gesellschaftlichen Diskurs des Lebens einzubringen. Dies wird immer auch geschehen müssen im Austausch mit den Lebensauffassungen andersdenkender Menschen und in der Wahrnehmung ihrer Lebenshoffnungen und -sehnsüchte, weil wir überzeugt sind, dass die Botschaft Christi lebenserfüllend für alle Menschen und für alle eine grundlegende Lebenshilfe und nicht ein exklusives Modell für wenige Auserwählte ist. Die Unbekanntheit und das fehlende Vertrautsein mit dem Verständnis der sakramentalen Ehe auch innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft rufen danach, dass die Lebenswirklichkeit und die Sakramentalität der Ehe in der kirchlichen Verkündigung endlich einen stärkeren Platz finden. Im Bereich der Jugendseelsorge- und der Jugendarbeit genauso wie im Religionsunterricht in den Schulen muss dieser Lebensbereich frühzeitig thematisiert werden, ebenso in der Katechese und der Predigt sowie in der kirchlichen Bildungsarbeit. Es ist nicht erstaunlich, dass der Rückgang der kirchlichen Eheschließungen ähnlich drastisch verläuft wie der Rückgang der Entscheidungen zum Priester- und Ordensberuf. Beide Entwicklungen zeigen auch spirituelle Defizite bei uns Christen, in unseren Gemeinden und Gemeinschaften. Wer seinen Lebensweg nicht als Ruf sieht, der ihm von Gott zuteil wird, wird die Ehe auch nicht als Berufung sehen können. Deshalb ist wohl auch eine deutlich längere und intensivere Ehevorbereitung der Brautleute auf die Ehe unumgänglich, will man hier nicht von vornherein einen Ermöglichungsgrund für eine spätere Scheidung fördern. Angesichts der gegebenen Glaubenssituation scheint es mir dabei unumgänglich zu sein, in der Ehevorbereitung die Grundfragen des Glaubens ins Gespräch zu bringen. Wie sollen sonst junge Paare befähigt werden, eine personale Beziehung zu Jesus Christus im Sakrament der Ehe einzugehen?
Abschließend möchte ich auf eine weitere hohe Herausforderung, aber auch Chance und Reichtum der Ehe- und Familienpastoral hinweisen: Familie ist mehr als das Zusammenleben von Eltern mit ihren Kindern. Das Leben in der Familie erstreckt sich über verschiedene Generationen und ist eine Bereicherung, wenn dieser Kontakt zur älteren Generation der Familie, also zur Generation der Großeltern und zunehmend der Urgroßeltern, sich nicht auf Feierlichkeiten und jahreszeitliche Besuche begrenzt. Papst Franziskus hatte in seinem Schreiben „Christus vivit“ in Nr. 191 besonders darauf aufmerksam gemacht: „Die Existenz der Beziehungen zwischen den Generationen bringt mit sich, dass man in den Gemeinschaften ein kollektives Gedächtnis besitzt, da jede Generation die Lehren der Vorfahren wiederaufnimmt und so den Nachfahren ein Erbe hinterlässt. Dies stellt Bezugspunkte dar, um eine neue Gesellschaft unerschütterlich zu festigen.“
Durch den Verlust einer Gemeinschaft in der Familie über mehrere Generationen hinweg werden viele Lebens- und Glaubenserfahrungen nicht mehr weitergegeben, wie etwa der Umgang mit dauerhafter Krankheit, dem Altwerden und dem Sterben. Hier wird auch der Erfahrungs-, Lebens- und Glaubensreichtum früherer Generationen verschleudert und nicht als lebendig und bedeutsam erfahren. Aber auch das gehört zur Tragik von Erfahrungen von Menschen in ihren Familien: Immer wieder begegne ich alten Menschen, die sich einem gewissen Druck ausgesetzt fühlen, ihrer Familie nicht zur Last zu fallen und im Falle schwerer Erkrankung freiwillig oder unter Druck mit einer Sterbehilfe aus dem Leben zu scheiden. Das ist auch eine Lebenswirklichkeit und eine Herausforderung heutiger Familien. Ehe und Familie könnten daher Orte der Hoffnung sein, aus denen jene verbindende Kraft erwächst, die Menschen über Generationen hinweg trägt. Auch das wäre ein Beitrag zur Befriedung in unserer Gesellschaft.
Ehe- und Familienpastoral ist ein Lernort von Kirche, an dem wir zusammen wachsen. Unser Papst Leo XIV. hat in seiner Predigt zum Jubiläum der Familien 2025 in Rom in Erinnerung gerufen, dass aus der in Christus geeinten und getragenen Familie auch die Einheit der Gesellschaft erwächst: „Und vergessen wir nicht: Aus den Familien heraus entsteht die Zukunft der Völker.“