Darstellende Interpretation als Experimentelle Archäologie?

Wie reinigte man Kleidung? Was wurde unter der Rüstung getragen? Und wie bekam man eingebranntes Essen aus dem Topf? Während es bei der Darstellenden Interpretation vielmehr um das Nachempfinden und Erleben historischen Alltags geht, lassen sich – sofern gut gemacht – darin durchaus Impulse oder gar Lösungsansätze für Forschungsfragen finden.

Im Selbstversuch mit Rekonstruktionen des Hochmittelalters unterwegs in den Alpen. Comthurey Alpinum, 2016.
Im Selbstversuch mit Rekonstruktionen des Hochmittelalters unterwegs in den Alpen. Comthurey Alpinum, 2016.© Comthurey Alpinum, 2016

Living History (dt. Lebendige Geschichte) und Reenactment (dt. Wiederaufführung) gelten primär als Vermittlungsformate für historische Inhalte. In beiden Fällen schlüpfen moderne Menschen in Rekonstruktionen historischer Kleidung und erklären Besucherinnen und Besuchern historische Sachverhalte. Bei Living History geht es um anonymen Alltag, etwa in einem Dorf oder einer Befestigung, bei Reenactment um historische Ereignisse wie Feste und Schlachten. Darstellende Interpretation mag als Überbegriff für beides gelten und beschreibt sachlich, worum es geht: Die performative Interpretation der Vergangenheit. Die meisten Akteurinnen und Akteure in Europa befassen sich mit Epochen von der Hallstattzeit bis zum Zweiten Weltkrieg, wobei die Römische Kaiserzeit, die Welt der Wikinger und die Jahrhunderte des Mittelalters besonders beliebt sind.

Darstellende Interpretation ist jedoch mehr als die Vermittlungsdienstleistung, als die sie von Museen und anderen Veranstaltern oft angesehen wird. Viele Akteurinnen und Akteure wollen Aspekte der gewählten Epoche selbst ausprobieren und nachempfinden. Die Vermittlung ist erst ein zweiter, optionaler Schritt. Ist Darstellende Interpretation also eine Form von Experimenteller Archäologie? Jein.

Experimentelle Archäologie gliedert sich etwa in der Europäischen Vereinigung zur Förderung der Experimentellen Archäologie e. V. (EXAR) in Rekonstruktion, Versuch, Experiment und Vermittlung. Die Wissensvermittlung soll hier ausgeklammert werden.

Aus der Erfahrung im Lagerleben entsteht ein Beitrag für die Wissenschaft, hier: Platzverhältnisse in einem römischen Mannschaftszelt und Gewicht des Mannschaftsgepäcks nach Schriftzeugnissen und Funden in einer Präsentation auf dem Limeskongress in Ingolstadt. VEX LEG VIII AVG, 2015.
Aus der Erfahrung im Lagerleben entsteht ein Beitrag für die Wissenschaft, hier: Platzverhältnisse in einem römischen Mannschaftszelt und Gewicht des Mannschaftsgepäcks nach Schriftzeugnissen und Funden in einer Präsentation auf dem Limeskongress in Ingolstadt. VEX LEG VIII AVG, 2015. VEX LEG VIII AVG, 2015

Rekonstruktion – Freude am Machen und Besitzen

Rekonstruktionen von Kleidung, Schmuck, Werkzeug, Bewaffnung, Koch- und Essgeschirr, Mobiliar und vielem mehr stellen die materielle Grundlage der Darstellenden Interpretation dar. Je nach gewählter Epoche und sozialer Stellung sind der Rekonstruktion dieselben Grenzen gesetzt wie der Wissenschaft. Für Dinge aus Stein, Keramik und Metall finden sich leichter Vorlagen als für solche aus Holz, Leder oder Textil. Epochen mit beigabenführenden Körperbestattungen, Hortfunden oder gar Feuchtbodenerhaltung in Form von Seeufersiedlungen, Latrinen oder Moorleichen bieten gute Grundlagen für Rekonstruktionen. Beim Fehlen derselben wird es schnell schwierig. Um als Person in historischer Kleidung bei einer Veranstaltung eine Tätigkeit ausüben oder vorführen zu können, ist eine weitgehende Totalrekonstruktion notwendig. Es müssen also auch Kleidungsstücke und Dinge vorhanden sein, für die es keine Quellen gibt, um nicht halb nackt dazustehen. In diesem Aspekt unterscheidet sich die Darstellende Interpretation deutlich von der Experimentellen Archäologie. Wer im Rahmen der Experimentellen Archäologie einen Helm rekonstruiert, braucht keine zeitgenössische Hose; wer einen Einbaum baut, braucht kein zeitgleiches Trinkgefäß.

Der Zwang zur Totalrekonstruktion und das Bemühen, mit historischen Mitteln den Alltag oder andere Tätigkeiten zu bestreiten, wirft Fragen auf, die sich eine Archäologin oder ein Archäologe bei der Ausgrabung oder Auswertung wahrscheinlich nicht stellt: Wie schützte man sich gegen Regen, Kälte und Hitze? Wie behalf man sich bei der Monatsblutung? Wie wurde gestillt? Worauf wurde geschlafen? Wie bekam man eingebranntes Essen aus dem Topf? Wie reinigte man Kleidung? Was trug man unter der Rüstung? Wie kämpfte man ohne Schutzhandschuhe? Für diese und viele weitere Fragen kann eine gut gemachte Darstellende Interpretation der Forschung Impulse oder sogar Lösungsansätze bieten.

Der Fokus der Akteurinnen und Akteure liegt meist auf der Kleidung und Bewaffnung. Unter Einsatz von privatem Kapital und durch erfahrene Handwerkerinnen und Handwerker entstehen hier teils beeindruckende Artefakte. Das Gros der Waffen, Harnische und Schmuckstücke sind jedoch in großen Zahlen teils industriell gefertigte Waren aus Osteuropa und Asien. Auch Möbel aus Leimholz und unspezifisches Kochgeschirr sind leider keine Seltenheit.

Nur mit neuer Fragestellung, genauer Dokumentation und Publikation wird aus einem Versuch ein Experiment, hier: ein YouTube-Video zur Ermittlung der Geschossenergie von Armbrustbolzen in Abhängigkeit von deren Masse und der Effekt an einem historischen Ringpanzerhemd.
Nur mit neuer Fragestellung, genauer Dokumentation und Publikation wird aus einem Versuch ein Experiment, hier: ein YouTube-Video zur Ermittlung der Geschossenergie von Armbrustbolzen in Abhängigkeit von deren Masse und der Effekt an einem historischen Ringpanzerhemd. Andreas Bichler, 2022

Versuch macht klug

Der Großteil dessen, was die Akteurinnen und Akteure der Darstellenden Interpretation machen, sind Versuche. Sie dienen meist dem Ausprobieren recherchierter oder überlegter Thesen. Dabei geht es nicht darum, generell neues Wissen zu erzeugen, sondern es selbst einmal erfahren zu haben: wandern mit historischen Schuhen, schlafen im Zelt, kochen im Keramiktopf, färben mit Pflanzenfarbstoffen, arbeiten bei Kerzenschein. All das sind Selbstversuche, die dazu dienen, den eigenen Erfahrungsschatz zu mehren und ein Gefühl für die vergangene Lebenswelt zu bekommen. Diese persönlichen Erkenntnisse können dann an Interessierte weitergegeben werden.

Versuche und Experimente können kaum besser sein als das Material, mit dem sie durchgeführt werden. Daher sind etwa spielerische Erfahrungen mit stumpfen Waffen kaum auf den Überlebenskampf mit scharfen Klingen übertragbar. Anders als in der Experimentellen Archäologie, zielen Versuche eher auf tragbare Dinge und Körpererfahrung ab und beziehen nur selten Gebäude oder Verkehrsmittel mit ein. Großes, bisher nicht ausgeschöpftes Potenzial hätten Langzeitversuche etwa zur Abnutzung von Kleidung oder Geräten.

Experimente im Verborgenen

Ein Experiment wird neben der wissenschaftlichen Fragestellung auch durch eine genaue Dokumentation und Publikation sowie durch die Wiederholbarkeit definiert. Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, finden wirkliche Experimente meist abseits der öffentlichen Veranstaltungen statt. Der Versuchsaufbau und die Dokumentation hängen stark von den Möglichkeiten der Ausführenden ab. Viele Versuchsreihen dokumentieren daher leicht zu erfassende Parameter wie Zeiteinheiten von Prozessen, Schussweiten oder Eindringtiefen von Waffen. Ein Großteil der Experimente widmet sich militärischer Ausrüstung. Aktuelle Publikationsmedien sind vor allem YouTube, Facebook und Instagram. Dort stellen die Akteurinnen und Akteure ihre Ergebnisse in oft professionell gestalteten Videos oder bebilderten Textbeiträgen der Öffentlichkeit zur Verfügung. Während die Archivierung und Auffindbarkeit mitunter schwierig ist, ist die Verbreitung enorm. Viele Plattformen bieten außerdem Möglichkeiten, die Inhalte zu diskutieren. 

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