Budde, Mariann Edgar: Mutig sein. Mit Vorwort zur dt. Ausgabe und der kompletten Predigt zur Amtseinführung Trumps.
Frankfurt am Main: S. Fischer 2025. 272 S. Gb. 23,–.
Mariann Edgar Budde erlangte weltweite Bekanntheit, als sie Anfang 2025 in der Kathedrale der Episcopal Church in Washington eine Predigt hielt. Der gewählte Präsident Donald Trump, sein Stellvertreter J.D. Vance und das Kabinett hatten sich zum traditionellen Gottesdienst vor der Amtseinführung versammelt. Die Hausherrin, Bischöfin Budde, nutzte die Predigt, um Trump direkt anzusprechen. Sie warb um Erbarmen gegenüber homosexuellen und transgeschlechtlichen Kindern, von denen manche gerade um ihr Leben fürchten würden. Trump war darüber sichtlich verärgert. Hinterher äußerte er seinen Unmut über die „sogenannte Bischöfin“ („fake bishop“).
Um Budde als Person besser zu verstehen, eignet sich der vorliegende Band sehr gut. Die amerikanische Originalausgabe erschien im Jahr 2023. Die deutsche Übersetzung enthält zusätzlich jene Predigt, die den US-Präsidenten so erboste. Mutig sein ist eine autobiografische Reflexion über das Wechselverhältnis von Religion und Politik. Budde zeichnet nach, wie sie zu einer in der Öffentlichkeit stehenden Geistlichen wurde, die engagiert ihre Positionen zur Geltung bringt. Dabei behandelt sie ihre Kindheit und Jugend ebenso wie den langen Aufstieg in die Kirchenleitung. Inhaltlich weiß sie sich amerikanischen Theologen wie etwa Reinhold Niebuhr und Martin Luther King verpflichtet. Für Budde ist das Thema der Gerechtigkeit zentral, verstanden als die Überwindung von Diskriminierung aufgrund von Rassenzugehörigkeit oder sexueller Identität. Die Anliegen sowohl der African Americans als auch der LGBTQ+-Gemeinschaft zu vertreten, liegt der Bischöfin besonders am Herzen. Sie möchte Zeugnis für eine Form des Christseins ablegen, die alle Menschen als gewollte Geschöpfe und Kinder Gottes betrachtet. Genau das habe Jesus von Nazareth verkündet, als er gerade den Ausgegrenzten und Schwachen Gottes bedingungslose Liebe zusagte. Daran müsse die Kirche heute Maß nehmen und entsprechend handeln.
Tatsächlich ist die Episcopal Church, die ursprünglich die Kirche der weißen gesellschaftlichen Elite war und teilweise noch immer ist, inzwischen stark sozial-inklusiv ausgerichtet. Politisch hat sich ihr Führungspersonal der Demokratischen Partei angenähert. Budde selbst sprach im Sommer 2020 auf deren Parteitag unmittelbar vor der Präsidentschaftswahl ein Gebet. Auch ihr Eintreten für Transpersonen Anfang 2025 besaß eine parteipolitische Komponente, weil die Gender-Thematik im vorhergehenden Wahlkampf eine wichtige Rolle gespielt hatte. Während von den Republikanern mit Verweis auf biologische Gegebenheiten die natürliche Zweigeschlechtlichkeit betont worden war, hatten die Demokraten die kulturelle Bedingtheit und damit Fluidität sexueller Identität herausgestellt. Allerdings ist der von der Kirchenleitung vorgegebene liberale Kurs innerhalb der Episcopal Church umstritten. Wie Budde andeutet, ist es zu starken internen Spannungen und einem massiven Mitgliederverlust gekommen. Trotzdem hält sie den eingeschlagenen Kurs für richtig. Mutig sein lässt die persönlichen und sachlichen Gründe dafür erkennen.
Benjamin Dahlke
Hasselhorn, Benjamin: Geschichtsmythen. Die Macht historischer Erzählungen.
München: Europa Verlag 2025. 384 S. Gb. 32,–.
„Mythen“ haben für die kritische Geschichtswissenschaft einen negativen Klang: sie müssen „entmythologisiert“ oder „entlarvt“ werden. Nur gelingt dies freilich, außer für den Kreis der Fachhistoriker, nur dann, wenn den Mythen aus anderen Gründen gesellschaftliche Akzeptanz abhandenkommt. Der Autor bemüht sich, diesen radikalen Gegensatz zu überwinden: Wertneutral definiert er einen „Geschichtsmythos“ als eine Geschichtserzählung, „die in der Gegenwart für eine Gruppe Sinn und Bedeutsamkeit stiftet“ (18).
Zwischen Geschichtsmythos und kritischer Geschichtswissenschaft ist Unterscheidung geboten. Sie sind zwei unterschiedliche Zugangsweisen zur Vergangenheit: einmal vom Sinnbedürfnis der Gegenwart aus, dann als möglichst adäquate Rekonstruktion der Vergangenheit. Anderseits gibt es keine klare Trennung, da Geschichte immer auch „Erzählung“ ist, anderseits der „Konstruktivismus“, der einen Zugang zur „objektiven“ historischen Realität leugnet, auch keine Lösung darstellt. Von da aus ist die Aufgabe der Geschichtswissenschaft eine dreifache: „Mythenkritik“, „Arbeit am Mythos“ (bzw. „Mythenbegleitung“ im Sinne eigener Narrationen, die anschlussfähig für den Mythos sind) und „Mythenanalyse“. Die letztere ist für den Autor die wichtigste und eigentlich genuine Aufgabe der Geschichtswissenschaft. Sie beschäftigt sich mit den Fragen: Wie entsteht ein Mythos? Woran scheitert er von vornherein oder geht er unter? Wie wandelbar ist er? Das Ergebnis lautet: Entscheidend ist die bessere Erfüllung des gesellschaftlichen Sinnbedürfnisses weiter Schichten, selbst gegen die stärkere wissenschaftliche Plausibilität, freilich nicht gegen den bleibenden „narrativen Kern“ (also die im allgemeinen Bewusstsein haftenden Fakten). Ein Beispiel sind die Wandlungen des „Luther-Mythos“: Erfolgreich waren die schleichenden Akzentverschiebungen vom „reformatorischen“ zum „aufklärerisch-freiheitlichen“ Luther im 18. Jhd., dann zum „national-deutschen“ Luther im 19. Jhd., bei denen der „narrative Kern“ blieb, nicht jedoch der DDR-Versuch der Vereinnahmung Luthers, und auch nur sehr begrenzt der Versuch der „ökumenischen“ Vereinnahmung (161-170). Hierzu: der Mythos des „Thesenanschlags“, seinerzeit von Iserloh bestritten, ist seit 2006 durch die Entdeckung der „Rörer-Notiz“ wieder historisch wahrscheinlich (wenn nicht sogar sicher) geworden; aber die Frage, ob er stattgefunden hat oder nicht, hat für die historische Gesamtbeurteilung der Anfänge der Reformation nicht die Tragweite, die man ihr zugemessen hat (226 f.). Insgesamt ergibt sich: „Geschichtsmythen“ wandeln sich durch wandelnde Sinn-Bedürfnisse der sie tragenden Gruppe oder auch durch Übernahme seitens anderer Gruppen. Die gesellschaftliche Wirkung der wissenschaftlichen „Mythenkritik“ ist dagegen nur eine sehr begrenzte: sie ist nur dann erfolgreich (wie beim italienischen „Resistenza-Mythos“), wenn ihr starke gesellschaftliche Strömungen entsprechen.
Etwas mehr als der Autor bietet, möchte man freilich über die Möglichkeiten der „Mythenbegleitung“ bzw. der „Arbeit am Mythos“ erfahren, die jedoch m. E. mit der „Mythenkritik“ eine untrennbare Einheit bildet. Ein Beispiel der jüngsten katholischen Kirchengeschichte ist hier der „Mythenkampf“ bzw. die beiden entgegengesetzten Mythen des „Widerstandes“ oder der „Anpassung“ der „Katholiken“ oder „der Kirche“ in der NS-Zeit, die ihrerseits unterschiedliche Identitätsbedürfnisse kirchlicher Richtungen bestätigend bzw. abgrenzend erfüllen. Die Situation ist auch hier, dass beide „Geschichtsmythen“ weder schlechthin falsch noch undifferenziert richtig sind. Die m. E. notwendige (und wenigstens in kirchlichen Kreisen keineswegs aussichtslose) Aufgabe der Geschichtswissenschaft dürfte hier sein, den Blick auf die Kompliziertheit und Unüberschaubarkeit historischer Situationen und die Vielgestaltigkeit der Geschichte zu richten und einfachen Antworten (mitsamt den damit verbundenen Anklagen) zu wehren.
Klaus Schatz SJ
Piketty, Thomas und Sandel, Michael J.: Die Kämpfe der Zukunft. Gleichheit und Gerechtigkeit im 21. Jahrhundert.
München: C.H. Beck 2025. 158 S. Gb. 20,–.
Der Sozialstaat steht heute massiv unter Beschuss. Die neoliberale Ordnung verschärft soziale Ungleichheiten, indem sie nicht nur öffentliche Leistungen systematisch abbaut, sondern auch benachteiligte Bevölkerungsgruppen stigmatisiert, die angeblich den Staat gekapert haben. So macht beispielsweise die trumpistische Rhetorik Migranten, soziale Aktivisten und internationale Organisationen für gesellschaftliche Missstände verantwortlich. Ähnlich verfährt der argentinische Präsident Javier Milei, der den Staat selbst zum Feind erklärt und drastische Kürzungen bei staatlichen Hilfsprogrammen mit seiner berüchtigten „Motorsäge“ rechtfertigt.
Diese Problematik bildet den Hintergrund des Gesprächs zwischen dem US-amerikanischen Moralphilosophen Michael Sandel und dem französischen Ökonomen Thomas Piketty, das im Mai 2024 an der Paris School of Economics stattgefunden hat und in dem beide Denker die zentrale Bedeutung des Gleichheitsprinzips für das gesellschaftliche Leben prägnant herausgearbeitet haben.
Piketty vertieft seine historisch fundierte Analyse globaler Ungleichheit. Für ihn führt die extreme Eigentumskonzentration zwangsläufig zu einer Machtkonzentration einer wohlhabenden Minderheit, die das Vertrauen in demokratische Institutionen untergräbt. Um dem entgegenzuwirken, fordert Piketty die Entkopplung ganzer gesellschaftlicher Bereiche wie Bildung, Gesundheit, Wohnraum, u. a. von der Marktlogik, sodass diese als universelle Rechte garantiert werden.
Grundlage hierfür ist ein neu zu definierender, demokratischer Sozialismus, der sich über konkrete Strategien realisieren lässt: stark progressive Steuern, Ausbau des Wohlfahrtsstaats sowie hohe Erbschaftssteuern. Piketty knüpft an das erfolgreiche Erbe der Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert an, das in Ländern wie Schweden, Deutschland, Frankreich und den USA durch Umverteilung von Wohlstand und Macht tiefgreifende Veränderungen bewirkte.
Sandel konzentriert sich seinerseits auf die in liberal-kapitalistischen Gesellschaften vorherrschende Ideologie der Meritokratie, die zur moralischen Aushöhlung demokratischer und gemeinschaftlicher Werte beigetragen hat. Für Sandel wird das Leistungsprinzip im neoliberalen Kontext zur Tyrannei: Diejenigen, die an der Spitze der sozialen Hierarchie stehen, betrachten ihren Erfolg ausschließlich als Ergebnis ihrer eigenen Anstrengungen, während jene, die weiter unten stehen, verinnerlichen, dass sie ihre Armut verdienen.
Sandel unterstützt Pikettys Forderung nach progressiver Besteuerung, betont jedoch deren moralische Grundlage und fordert dafür eine zivile Infrastruktur, die soziale Solidarität stärkt.
Für beide Autoren ist die neoliberale Ordnung eine Folge eines politischen Vakuums, da sich die Sozialdemokratie von den Anliegen der Arbeiterklasse entfernt habe und so den rechten Parteien Raum ließ, sich die sozialen und identitären Themen dieser Klasse anzueignen. Nur eine Rückbesinnung der Linken auf soziale Gerechtigkeit könne diese Lücke wirksam füllen.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die Diskussion zwischen Sandel und Piketty realistische Alternativen zu aktuellen sozialen Herausforderungen aufzeigt, die durch politischen Mut und gesellschaftliches Engagement vorangetrieben werden können.
Pedro Andrés Bravo