Das Fundament wackelt – diesen Eindruck vermitteln derzeit viele öffentliche Verlautbarungen. Das Fundament der Demokratie, der Gesellschaft, von Wirtschaft und Bildung, Verkehr und Gesundheit, bis hin zur Eingebundenheit in die natürliche Umwelt und in globalen Beziehungen. Schwankt das Fundament der Kirche auch? Um das zu entscheiden, wäre zu klären, was das Fundament der Kirche ist – Kirchen, Gemeinde- und Pfarrhäuser in der Region? Verwaltung, Leitung, Ämter? Kirchliche Strukturen, die Finanzierung durch die Kirchensteuer? Vieles ließe sich aufführen, und doch ahnen wir: das Fundament unserer Kirche liegt anderswo. Vor langer Zeit, in den ersten Anfängen der christlichen Glaubenskultur wurde im Namen von Petrus ein Brief an eine kleine, am Rand der Gesellschaft lebende Gemeinde geschrieben. Aus diesem Brief gewinnen wir Anregungen für unser Nachdenken darüber, auf welche Grundfesten wir vertrauen dürfen.
(Lesung 1Petrus 2, 1–10)
Manche Geschichten von dem, was die Bibel uns mitteilen will, schreibt das Leben. Es erzählt zum Beispiel von einer Frau, etwa 40 Jahre alt. Sie spricht fließend Deutsch mit amerikanischem Akzent. Ihre Heimat liegt in Florida in den USA. Bemerkenswert ist ihr Tattoo. Wenn sie die Jeans über dem rechten Schuh hebt, erscheint auf ihrer Wade ein Facettenkreuz. Es ist in diesem Fall das Signet der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, könnte aber genauso das Signet einer anderen Kirche in Deutschland sein. Ja – in der Tat – es gibt Menschen, die sich das Symbol einer deutschen Kirche als Tattoo stechen lassen. Sogar in Amerika.
Wie aber kommt eine Frau aus Florida zu einem solchen Zeichen? „Als mein Leben anfing, in sicheren Bahnen zu verlaufen, habe ich es mir stechen lassen. Denn ein Pfarrer und eine Gemeinde in Deutschland waren es, die mir Halt gegeben haben. Hier habe ich gelernt, dass ich geborgen bin, was immer geschieht. Hier habe ich erfahren, dass ich einzigartig und geliebt bin, dass ich Kraft habe um das Leben zu bewältigen.“
Die Geschichte, die sie erzählt, klingt nach vielen Irrungen. Sie beginnt bei einer deutschen Mutter, die mit ihren drei Kindern in Amerika lebt. Der Vater ist Amerikaner, und so wird zu Hause ausschließlich Englisch gesprochen. Als die Kinder etwa 10, 13 und 16 Jahre alt sind, fliegen sie gemeinsam mit der Mutter in den Ferien auf Besuch zu den Großeltern in Frankfurt. Eines Tages aber merken sie: Diese „Ferien“ hören nicht auf. „Wir bleiben hier“ teilt die Mutter mit. Und so werden drei Kinder, die kein Wort Deutsch sprechen, in Frankfurter Schulen gesteckt.
Ihre Mutter bezieht Sozialhilfe und ist psychisch instabil. Darum müssen die zwei Jungs und das Mädchen oft alleine zurechtkommen. Kein Wunder, dass die schulische Integration Schwierigkeiten bereitet. Doch dann finden sie über die Kinder- und Jugendarbeit in die evangelische Gemeinde vor Ort. Im Sommer fahren sie mit vielen anderen Jugendlichen und Erwachsenen mit dem Gemeindebus auf abenteuerliche Freizeiten. Raststätten und Campingplätzen in ganz Europa werden dabei erkundet. Die Gemeinde trägt für sie die Kosten. Der Jüngste wird in Frankfurt konfirmiert, alle gemeinsam gestalten Feste und Gottesdienste, begleiten im Team Kinder- und Konfigruppen. Die Gemeinde wird ihr zu Hause. Sie ersetzt die fehlende Geborgenheit im Elternhaus.
Dieses neue Heimatglück dauert allerdings nur wenige Jahre. Eines Tages verkündet die Mutter: „Wir ziehen zurück nach Amerika“. Dort beginnen Unsicherheit und schwankende Lebensbedingungen von Neuem. „Da ich keine amerikanische Staatsbürgerschaft hatte, konnte ich keinen guten Job finden. Über Jahre habe ich mich mit kleinen Jobs für 5 Dollar in der Stunde durchgehangelt“ – erzählt die Frau – „mein kleiner Bruder wurde drogenabhängig. Aber wir haben gekämpft wie die Löwen.
Irgendwann hatte ich dann die Staatsbürgerschaft und mein Bruder den Entzug. Er lebt heute mit seiner Frau und zwei Kindern als Farmer in Florida. Ich habe geheiratet, ziehe die drei Enkelkinder meines Mannes auf und habe einen guten Job. Alles was ich bin und erreicht habe, habe ich der Frankfurter Gemeinde zu verdanken. Denn durch das, was mir in den wenigen Jahren in Deutschland mitgegeben wurde, wusste ich, dass ich es schaffen kann.“
Eine Geschichte, wie sie das Leben schreibt – besonders und einzigartig, aber doch kein Einzelfall.
Das Facettenkreuz der EKHN als Zeichen für „lebendige Steine“. Für ein „geistiges Haus“, in dem Kinder, die „wie Neugeborne nach Milch schreien“, nämlich nach Liebe und Geborgenheit „im Glauben wachsen“ können um „das Ziel“, nämlich „Rettung, zu erreichen“. Für die der Glaube zum „Eckstein“ wird, der ihr Lebenshaus zusammenhält und trägt, durch viele Schwankungen hindurch. Die dadurch „aus der Dunkelheit in sein wunderbares Licht gerufen“ wurden damit sie Gottes „machtvollen Taten verkünden“. Eine ebenso wunderbare wie beispielhafte Geschichte.
Es ist nur eine von vielen. Dort, wo Gemeinden und diakonische Einrichtungen offen bleiben und Menschen aufnehmen, egal, woher sie kommen, welche Lebensgeschichte sie mitbringen, welche Eigenarten und Schrullen sie pflegen, kann Kirche zur Heimat werden. Dort schmecken und sehen, dort „kosten“ wir, „wie gütig Christus, der Herr, ist“. Und dort können auch wir uns nähren am „unverfälschten Wort Gottes“.
Aus den Worten des Petrusbriefes erfahren wir aber auch, dass dieser Eckstein, der unser Haus zusammenhält, zum Stein des Anstoßes werden kann.
Als Kirchen stehen wir inzwischen in unserer Gesellschaft für Lebensformen und eine Lebenshaltung, die eher an den Rand des gesellschaftlich Üblichen gerückt ist. Damals, zur Zeit der Gemeinde, an die der Petrusbrief geschrieben wurde, war das der Normalfall. Wir heute müssen immerhin nicht um unser Leben fürchten (wie die christlichen Gemeinden, zu denen der Petrusbrief geschrieben wurde). Umso wichtiger, dass wir uns immer neu mit der Frage beschäftigen, was uns zu jenem „erwählten Volk“ macht, zum „Haus des Königs“, zur „Priesterschaft“, zum „heiligen Volk, das Gott selbst gehört“. In diesem Bild liegen – wie in vielen Aussagen der Heiligen Schrift – Zuspruch und Anspruch zugleich. Keineswegs hebt es uns außerhalb der Gesellschaft in irgendwelche geschützten oder abgeschirmten Räume. Vielmehr stellt es uns mitten in diese Welt, in unsere Gesellschaft hinein. Und hier ist nun einmal derzeit vieles am Wanken. Gelingt es uns, trotz der Umbrüche, in denen ja auch wir als Kirche uns befinden, anderen Menschen Halt und Zuflucht zu bieten, so wie die Kirchengemeinde in Frankfurt es für jene Kinder konnte?
Wie schwierig die Antwort auf diese Frage werden kann, sehen wir derzeit an den Debatten um die Haltung der Kirche zur AfD. Ohne Frage sind viele Menschen, die AfD wählen, verunsichert. Sie suchen einfache Antworten auf die komplizierten und komplexen Entwicklungen, die über sie hinein brechen. Sie erhoffen Sicherheit und Gewissheit, obwohl ihnen kaum mehr als populistische Parolen geboten werden. Dass das, was die AfD (ähnlich wie das BSW) zu bieten hat, mit dem „unverfälschten Wort Gottes“ wenig zu tun hat, scheint den meisten klar. Und doch gibt es auch Christenmenschen, die Positionen der AfD nahestehen und sie wählen. Wie sollen wir mit ihnen in unseren Gemeinden umgehen? Auf der Ebene von Kirchen und Gemeinden ist es sicher richtig zu sagen:
In der Gemeinde gibt es immer einen Platz für sie. Sie sollten allerdings damit rechnen, dass neben ihnen am Tisch oder in der Kirchenbank ein Flüchtling sitzt. Und sie sollten bereit sein, sich Diskussionen darüber zu stellen, wie sie ihre politische Haltung mit ihrem christlichen Glauben vereinbaren. Auf der Ebene von Leitungspositionen wird die Frage schwieriger: Kann, wer öffentlich Ämter für die AfD bekleidet, ein leitendes Amt in der Kirche übernehmen? Bisher heißt es, diese Frage solle jeweils im Einzelfall geprüft werden. Doch schon das erregt Anstoß.
„Alles Leben ist Begegnung“ – sagt Martin Buber. Wie schaffen wir Räume und Gelegenheiten für Begegnung? Wie können wir selbst unser Handeln, Reden und Verhalten begegnungsoffen gestalten? Wenn wir heute danach streben, als „lebendige Steine“ ein „geistiges Haus“ zu bauen, in dem andere erleben können, „wie gütig der Herr ist“ scheint mir darin eine Notwendigkeit zu liegen. Dabei geht es für alle, die Kirche in dieser Weise begegnungsoffen gestalten wollen, auch um das, was in unserem Text „Opferdienst des ganzen Lebens“ genannt wird.
Das klingt schwierig und anspruchsvoll. Was damit gemeint sein könnte, finde ich auf einem kleinen Blatt mit dem Satz: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“. (1. Korinther 16,14) Neben diesem Vers ist das verteilt, was wir in der Grundschule als „Tu-Worte“ kennengelernt haben (später hießen sie dann „Verben“): „lachen, sitzen, arbeiten, küssen, schimpfen, weinen nachdenken, streiten, suchen, beten, tanzen, danken, einkaufen, fernsehen, kochen, kruschteln, schweigen, schauen, warten, umarmen, gehen, schreiben, essen, gärtnern, fahren.“ Alles also, was ihr tut, geschehe in Liebe. Eine Kirche zu werden, die Liebe ausstrahlt, die wir vielleicht sogar als Kirche lieben können, das klingt einerseits fast weltfremd und könnte doch eine lohnende Aufgabe sein.
Bausteine für Fürbitten:
Du, Kraft des Ursprungs,
die Du uns Zuflucht und Heimat gibst.
Wir danken Dir dafür, dass wir bei Dir geborgen sind.
Dass Du uns bei unserem Namen rufst
und uns damit in den Horizont Deiner Ewigkeit stellst.
Wir danken Dir für die Gemeinschaft,
in der wir Dir heute begegnen können.
Und wir danken Dir für alle,
die uns auf unserem Weg durchs Leben begleiten,
uns aus ihrem Glauben nähren,
die trösten und heilen, wenn wir nicht weiter wissen.
So bitten wir Dich auch für diejenigen,
die zu Dir auf der Suche sind:
lass sie Menschen finden,
die ihnen im Glauben zu Vorbildern werden.
Öffne unsere Augen, wenn wir dazu berufen sind.
Wir bitten Dich für alle, die für Deine gute Nachricht eintreten:
Schenke Ihnen Freude und schütze sie vor Überforderung.
Wir bitten dich für deine Kirche, hier und an allen Orten der Welt.
Hilf uns, Trennendes zu überwinden und einander geschwisterlich zu begegnen.
Begleite besonders diejenigen in unserer Glaubensgemeinschaft,
die verfolgt oder bedroht werden.
Durchströme deine Kirche mit deinem guten Geist der Heilung und Versöhnung.
Wir bitten um deine Schöpfung,
die an vielen Orten bedroht ist:
Weise uns den Weg, wie wir Gefährdungen entgegenwirken können.
Zeige inmitten aller Gewalt, die um sich greift,
wie wir zum Frieden beitragen können.
Wir bitten auch für diejenigen Menschen,
die heute am Rande der Verzweiflung stehen:
Schenke ihnen Menschen, die sie aufrichten,
die ihnen beistehen und neue Wege aufzeigen.
Psalmvorschlag: Psalm 139, erste Hälfte (EG 753)
Evangelium: Lukas 6,47-49
Lesung: Jesaja 43, 1-2+5-7
Liedvorschläge:
EG 166 (Tut mir auf die schöne Pforte)
EG 264 (Die Kirche steht gegründet)
EG 354 (Ich habe nun den Grund gefunden)
EG 268 (Strahlen brechen viele)
Durch Hohes und Tiefes 333, LebensWeisen 33 (Wir strecken uns nach dir)
freiTöne 133 (Meine Kirche)
EGplus (2017) 68 (Lasst uns für die Liebe beten)